Faust, der Magier
Andreas Gößling
Faust, der Magier
Roman
Edition Marbuelis - Band 7
Prolog
Der Graf von Murau höchstselbst öffnete das Burgtor, um den heiklen Gast einzulassen. Ein kalter Wind pfiff über den Hügel, doch die Abendsonne färbte das Himmelsblei golden und rot. Man schrieb den 19. April im 1514. Jahr der Christenheit.
Seit er vor einer Woche den Brief erhalten hatte, der das Kommen des Magiers ankündigte, war Graf Gregor von fiebriger Unruhe erfüllt. Noch am selben Tag hatte er dem Herrn Nigrethius eine Botschaft an den Bodensee gesandt, wie sie das vor Jahr und Tag vereinbart hatten. In seiner abgetragenen Benediktinerkutte war der einstige Abt von Spornstein sogleich herbeigeeilt, doch die Beruhigung, die sich Graf Gregor vom Eintreffen des magiekundigen Geistlichen versprochen hatte, war gänzlich ausgeblieben. Mochte es nun an seinem pergamentenen Aussehen liegen oder an der eigenartigen Sprechweise, einem Raunen, das nach Ruß und Asche klang – mit jedem Tag war der beinerne Herr Nigrethius ihm noch etwas unheimlicher geworden. Und so war er beinahe erleichtert, dass endlich der Doktor Faust eingetroffen war, so als ob der Magier ihm gegen den Mönch beistehen sollte und nicht umgekehrt.
Der Burgherr musste sich räuspern, ehe er ein paar Willkommensworte hervorstottern konnte. Seine Hand, die er dem Zauberer reichte, war klamm vor Schweiß. Aus irgendeinem Grund hatte er vorausgesetzt, dass Faust allein oder allenfalls mit einem Diener reisen würde. Indessen wurde der viel Beschriene von einer hageren Frau in mittleren Jahren begleitet, die er als seine Gefährtin Lena Siebenschöpf vorstellte. Überdies trug er einen zweigdürren Zwerg auf dem Arm, der mit stummer Anmut sein Häuptlein vor dem Burgherrn neigte.
Durch die kahle Halle führte der Graf seine Gäste in den Speisesaal, wo seit bald einem Jahrzehnt niemand mehr getafelt hatte. Ein Dutzend Büsten seiner ritterlichen Ahnen standen aufgereiht auf dem Wandpodest, und dem einen fehlte die Nase, dem nächsten ein Ohr. Selbst die Rüstungen im Alkoven schienen sich fröstelnd zusammenzudrängen, so kalt war der Hauch, den die Mauern verströmten.
Der altersdunkle Eichentisch bot sechsundzwanzig Essern Platz, und so nahm sich der Fleck am unteren Eck, wo für sie aufgedeckt worden war, recht kläglich aus. Dabei hatte der Graf auch seinen Burgvogt zum Abendmahl geladen, den stocksteifen Franz von Fronhort. Seine Schwester hingegen hatte er beschworen, sich von dem neuen Gast möglichst fernzuhalten, doch kaum hatten sie an der Tafel Platz genommen, da trat auch Gunda in den Saal.
Gunda von Murau war ein noch junges, stark gebautes Weib mit kupfernem Haarschopf, unvermählt wie ihr um fünf Jahre älterer Bruder und dessen letzter Stolz und Trost. Als der Blick des Zauberers über sie strich, erschauerte sie sichtlich, und weder Fausts Begleiterin noch dem Edlen von Fronhort entging, wie Gundas grüne Augen sich mit Schleiern überzogen. Doch Lena Siebenschöpf ließ sich so wenig anmerken wie der Burgvogt, der seinem ruinierten Gebieter nur deshalb noch nicht davongelaufen war, weil er sein Herz vor Jahr und Tag an die Dame Gunda verloren hatte.
Bloß einen einzigen Diener gab es noch im gräflichen Haushalt. Der getreue Anton war mittlerweile so hochbetagt, dass er seine eigenen Gebeine kaum mehr umherzutragen vermochte. Die Suppenterrine schob er auf einem sinnreich gezimmerten Karren in den Saal, und bei jedem Schritt wetteiferte sein Ächzen mit dem Quietschen der Räder, denen es an Schmiere so sehr mangelte wie der Willkommenssuppe an Fleisch.
Man löffelte schweigend. Es erstaunte den Edlen von Fronhort, wie abgezehrt der Zauberer aussah. Vor kaum zehn Jahren, als er ihn zu Bruchsal abgepasst hatte, war Faust fast noch ein Jüngling gewesen, mit glatten Zügen und goldenen Locken. Doch der Mann, der hier stumm seine Brühe schlürfte und bloß die Dame Gunda zuweilen mit seinem oft besungenen Flammenblick bestrahlte, trug so tiefe Furchen im Antlitz wie ein Greis von fünfzig Jahren.
Zum Hauptgang, Dörrwild in Kapernsauce, zitterte Anton ein paar Schlucke Rotwein in die Becher, und der Gastgeber brachte einen Trinkspruch aus. Es ehre ihn über die Maßen, so erklärte Graf Gregor, dass der berühmte Doktor Faust den Weg in sein Wehrgemäuer gefunden habe. »Heute Abend seid Ihr und Eure Begleiterin ersichtlich von den Mühen der Reise mitgenommen. Doch desto mehr hoffen wir, dass Ihr recht lange unsere Gäste sein werdet und uns an vielen Abenden in den Genuss Eurer Weisheit kommen lasst.«
Der Magier nickte mit abwesender Miene. »Dass der Herzog und der Inquisitor ihre Häscher nach mir ausgesandt haben, ist Euch bekannt?«
Graf Gregor wurde ein wenig bleich. »In meiner Burg seid Ihr in Sicherheit, Doktor Faust«, sprach er mit desto festerer Stimme. »Diese Mauern wurden oft berannt, doch nie gestürmt. Lasst Eure Sorgen zu meinen werden und befreit mich im Gegenzug von meinem Kummer, so will ich Euch ewige Freundschaft schwören.« Er kräftigte sich mit einem Schluck sauren Weines, ehe er weitersprach. »Meine Schatztruhen sind leer, Herr. Im alten Brunnenturm harrt Eurer seit Jahr und Tag ein alchymisches Labor mit allen Töpfen und Tiegeln, die Ihr für die schwarze Kunst benötigt. Wollt Ihr mit Eurer Wissenschaft mir Gold erschaffen, so biete ich Euch den Schutz und Trutz meiner Burg und Macht, solange Ihr bleiben und wann immer Ihr wiederkehren mögt.«
»Im alten Brunnenturm, sagt Ihr? Das will ich sehen. Mit Eurer Erlaubnis begeben wir uns sogleich dorthin.« Und Faust schob seinen Stuhl zurück und stand auf, ohne zu warten, bis der Burgherr die Tafel aufhob.
Die Miene des Grafen wurde grimmig. Seine Schwester indessen legte ihre Hand auf seinen Arm und lächelte ihm zu. »Ich geleite unsere Gäste zu ihrem Gemach«, sagte sie mit einer Stimme, die so voll und lieblich tönte wie ein Glockenspiel. »Schaut nur, Gregor, das Kindlein ist über seinem Teller eingeschlafen. Und die armen Eltern sind gewiss nicht weniger erschöpft.«
Tatsächlich waren dem Kerlchen auf dem Lehnstuhl neben Faust die Augen zugefallen. Niemand hätte sagen können, ob es ein Zwerg war, ein kleiner Knabe oder ein Homunkel, den der Zauberer mit seiner gotteslästerlichen Kunst erschaffen hatte. Nicht viel größer als ein Stiefel war der Winzling, dem das Köpfchen mit den dünnen Haaren auf der Brust hing, indessen die knochigen Hände in seinem Schoß gefaltet waren, als ob er noch im Schlaf um die Errettung seiner Seele betete.
Es verdross den Edlen von Fronhort, dass Gunda den ungut beleumdeten Gast zu seinem Schlafgemach geleiten wollte. Auch wenn ihnen die Siebenschöpf gewiss nicht von der Seite weichen würde, malte seine Einbildungskraft ihm doch peinvoll vor, wie Faust seine Gunda mit Blicken befeuerte, wie sie ihn schlafwandlerisch anplierte und ihr blasses Fleisch vom Busentuch aufwärts sich mit roten Flecken besäte.
Doch selbst wenn der Edle den Mut gefunden hätte, ihnen nachzuschleichen, hätte es ihm immer noch an der Zeit gefehlt. Derweil er im Speisesaal stand und der ungetreuen Gunda hinterhersah, wurde abermals mit dem Klopfer ans Burgtor geschlagen.
Graf Gregor saß noch an der Tafel und schickte trübe Blicke zum Grund seines Kruges. Nun sah er auf, und seine Miene verriet, dass er kurz davor war, zu schreien. »Wer kann das sein, Franz – doch nicht schon die Fänger?« Er war ein schmaler, zart beseelter Mann, kahlköpfig seit seinem zwanzigsten Jahr. Dass ihm die Landleute das Silber aus seinen Bergen kratzten und alles bis auf den letzten Glitzerkrümel in seine Schatzkammern schaufelten, hielt er noch immer für Gottes ewigen Willen, obwohl in seinen Bergen längst keine Silberadern und in seinen Weilern nur noch ein paar Dutzend halb verhungerter Untertanen waren.
»Seid ruhig, Herr. Es wird bloß ein Bettler sein.« Mit steifem Rücken marschierte der Edle von Fronhort aus dem Saal und durch die Halle, an den Ritterrüstungen vorbei, die mittlerweile bald jede Woche einen Schauer herabstürzender Gewölbebrocken dulden mussten.
Er klaubte die Laterne vom Haken, trat hinaus und ging über den nachtdunklen Hof zum Tor. Im Geiste war er noch bei Gunda und dem Magier, von dem er schon öfter hatte munkeln hören, dass er nach dem Fleisch stark gebauter Weiber gierte. In jeder Stadt, die er heimsuche, so hieß es, verblende er sich ein solches Frauenzimmer, das ihm fortan zu Willen sei.
»Gott zum Gruß. Euer Name und Begehr?« Er hielt seine Laterne höher, um durch die Luke im Burgtor nach draußen zu leuchten. Zu seinem Erstaunen war es ein uralter Mann von dürftigem Wuchs und ungemein runzligem Aussehen, der ins Lampenlicht blinzelte.
Flüsternd nannte der Alte seinen Namen. »Fra Johannes.« Jetzt erst bemerkte Franz von Fronhort, dass der Mann eine verschlissene Mönchskutte nach dem Brauch des heiligen Bernhard trug. Wie die gefältelten Vorhänge an den Seiten eines Himmelbettes, so hing ihm lose Haut in reichen Mengen von den Wangen und unter dem Kinn herab. »In diesen Mauern haust der Satan«, flüsterte der greise Mönch. »Er nennt sich Faust, aber es ist der Leibhaftige, ich weiß es, denn der Herr im Himmel hat es mir kundgetan.«
Ein einfaches Holzkreuz hing ihm an einem Hanfseil vor der Brust. Er nahm es auf, faltete die Hände darum und reckte sie zur Torluke empor. Selbst auf seinen Fingern und Handrücken wellte und fältelte sich viel zu viel altersgraue Haut. »Zur schwärzesten Nachtstunde komme ich wieder, und dann sollst du mir dieses Tor auftun, mein Sohn, damit ich eintreten und den Satan besiegen kann.«
Seine Hände lösten sich voneinander und ließen das Kruzifix fahren. Die rechte schlüpfte unter seine Robe und nestelte einen speckigen Beutel hervor. »Wirst du alles befolgen«, flüsterte er, »wie der Schöpfer es dir durch meinen Mund befiehlt? Zum Dank sollst du diese Engelsträne erhalten.« Mühsam öffnete der Mönch das Säcklein und brachte einen Klumpen zum Vorschein, so groß wie ein Taubenei. Selbst im matten Lampenschein schimmerte der Goldbrocken wie schieres Himmelslicht. »Wirst du mich zur Mitternachtsstunde hier erwarten?«
Der Edle von Fronhort verspürte ein Sausen hinter dem Stirnbein. Dass der Doktor Faust mit dem Satan im Bunde oder gar vom Dämon besessen sei, hatte er oft genug gehört. Ein arger Trugsheiler war Faust überdies und hatte ihm selbst vor Jahr und Tag einen üblen Dienst erwiesen. Und wenn nun dieser Klumpen Goldes mein Eigen würde, durchfuhr es den Burgvogt, und der Magier nicht länger Gunda verblenden könnte, so dürfte ich die Liebste schließlich doch noch in meine Arme schließen.
Er beklopfte sich das Kinn mit dem Zeigefinger, wie wenn er mit sich ringen würde. »Wenn der Allmächtige höchstselbst ihn ins Schloss stößt«, sprach er bedächtig, »was bleibt dem Schlüssel dann anderes, als sich zu drehen?«
Lena Siebenschöpf sah über die Schulter zurück zum Burgfried. »Beherbergt Ihr noch weitere Gäste?« Vom oberen Hof her hatte sie ein Dröhnen gehört, wie von einem Türklopfer, der auf Eisen niederkracht.
»Wie kommt Ihr darauf? Ach, weil am Tor jemand Einlass begehrt hat?« Gunda von Murau schüttelte lächelnd den Kopf. Obwohl die Siebenschöpf sie gefragt hatte, sah sie unverwandt nur den Magier an. »Seid unbesorgt, wir lassen niemanden ein, der Euch behelligen könnte.«
Sie hatte ihrem Bruder schwören müssen, in Fausts Gegenwart den Herrn Nigrethius nicht zu erwähnen. Nun reute sie das Versprechen, denn der einstige Abt war ein gräulicher Greis. Wenn aber Faust sie nur ansah, liefen ihr Schauer überall auf der Haut umher, so fiebrig erregend, als ob sie seine Hände und Lippen schon auf sich spürte.
»Bitte folgt mir.« Sie zwang sich, auch der Siebenschöpf ein Lächeln zu schenken. Warum umgab sich der Magier gerade mit diesem hageren Weibsstück? Dass ihre grauen Augen jemals sein Herz betört haben könnten, schien Gunda gänzlich undenkbar. Ebenso wie Faust trug die Siebenschöpf ein kostbares Gewand aus Damast und Samt, doch auch mit einer Krone auf dem Haupt würde sie bloß wie ein aufgeputzter Stallbesen aussehen.
So empfand es zumindest Gunda von Murau in ihrem von Begierde befeuerten Herzen, indes sie die Gäste über den unteren Hof zum östlichen Wehrturm führte. »Wir nennen ihn nur den Brunnenturm«, erklärte sie, »weil an seiner Stelle einst ein Ziehbrunnen war. Als er vor hundert Jahren oder mehr versiegt ist, verschlossen unsere Ahnen das Brunnenloch mit einer Felsplatte und errichteten darüber den Turm. Aber der Brunnen soll sich darunter noch immer in die Erde winden, und weit tiefer hinab, als der Turm in den Himmel ragt.«
Sie zog einen gewaltigen Schmiedeschlüssel aus ihrer Gürteltasche und riegelte die Turmtür auf. Moderluft strömte ihnen entgegen. Im Innern führte eine Wendeltreppe rechter Hand in den Keller hinab und links in ein kleines Gemach hinauf, wo Faust und die Seinen wohnen sollten. »Eure Begleiterin mag schon einmal nachsehen, ob oben alles zu Eurer Bequemlichkeit gerichtet ist«, schlug Gunda mit harmlosem Lächeln vor. »Ich gehe derweil mit Euch hinab und zeige Euch das Labor.«
Doch die Siebenschöpf wollte nichts davon wissen. »Ich komme mit«, entschied sie und nahm Faust den schlafenden Kleinen aus dem Arm.
Hintereinander stiegen sie hinab. Mit jedem Schritt wurde die Luft schwerer vor fauliger Feuchte. »Der Brunnen mag nicht mehr ergiebig sein«, sagte Faust, »gänzlich versiegt ist er indessen nicht.« Es waren seine ersten Worte, seit sie ihr Abendmahl beendet hatten.
»Nun, wenn Ihr so höllisch einheizt, wie es Eure Kunst wohl erfordert, wird alle Klammheit bald vergehen.« Gunda sah mit fiebrigem Lächeln über die Schulter zu ihm auf und wäre bald gegen die untere Tür gerannt, so schwindlig war ihr auf einmal zumute. Doch sie fand Halt an der Schließe, drückte die Tür auf und trat, die Laternenhand vorgereckt, ins alchymische Labor.
Im Hintergrund des kreisrunden Gewölbes erhob sich der Athanor, der mächtige Ofen der Alchimisten. Auf einem Tisch standen Schalen und Pfannen, Glaskolben und irdene Tiegel. Die Wandborde waren mit Phiolen und Flaschen besetzt, mit ledernen Säckchen und Leinenbeuteln, alles sorgsam beschriftet mit lateinischen Kürzeln und Sternenchiffren.
Der Magier aber hatte für die alchymischen Kostbarkeiten kaum einen halben Blick. Er trat vor die runde Steinplatte, die inmitten des Kellers in den Boden eingelassen war, vom ungefähren Umfang eines Zwingkreises, wie man ihn zur Geisterbeschwörung auf den Boden malen soll. Erst beugte er sich hinab und legte eine Hand auf die Platte, dann stellte er sich darauf und reckte seine Linke, die Finger ein wenig gespreizt, zum Boden hinunter.
Seine Augen waren geschlossen, die Lippen bewegten sich zu unhörbarem Gemurmel. Ganz langsam hob er die Hand in die Höhe, und Gunda meinte zu sehen, wie Schnüre aus rotgoldenem Licht von seinen Fingerspitzen abwärts verliefen, durch die Steinplatte und gewiss noch weit darunter, zum Grund des Brunnens hinab. Mit einem Mal vernahm man ein Gurgeln und Strudeln, als ob dort unten, in finsterer Tiefe, Wasser in den Schacht einströmte und brausend aufwärts stiege. Zugleich begann ein frischer, kühler Geruch sie vom Brunnen her anzuwehen, wie er klarem Quellwasser eigentümlich ist.
Der Zauberer öffnete die Augen und ließ seine Hand wieder sinken. Sogleich verstummte das Gurgeln und Brausen, und auch der frische Geruch verflog. »So dachte ich es mir«, sagte er und sah ganz grau aus vor Mattigkeit. »Ich danke Euch, Frau Gunda.« Er neigte sein Haupt mit einem Lächeln. »Nun aber wollen wir ruhen, bis der neue Tag erwacht.«
In dieser Nacht sollte Faust jedoch keinen Schlaf mehr finden. Rastlos ging er in dem Gemach auf und ab, das ihnen nun als Behausung diente. Unter der Fensterluke gab es ein Schreibpult, daneben ein schwarz gebeiztes Bett mit einem Himmel aus verblichenem Samtgold darüber. Lena hatte sogleich die burgunderfarbene Decke aufgeschlagen und den kleinen Munkel in den Pfühl gebettet. Rasch schichtete sie ihre Siebensachen vom Reisesack in den wurmstichigen Kasten um und legte sich dann gleichfalls nieder.
»Du solltest dich auch ausruhen, mein Faust.«
»Bald, Lenchen. Bald können wir allezeit ruhen.« Er trat vor das Schreibpult, zog sein Notizbuch hervor und schlug es auf. »Der Brunnen da unten – weißt du eigentlich, dass er uns retten kann?«
Aber die Siebenschöpf war bereits eingeschlummert, und selbst wenn sie ihn gehört hätte, so hätte sie seine Rätselworte gewiss nicht verstanden.
Eine Weile blätterte Faust in seiner Kladde, strich hier eine halbe Zeile aus und fügte dort einige Worte hinzu. Aber bald schon zog es ihn wieder hinab ins Labor. Die ganze Zeit meinte er das Gurgeln und Brausen aus der Tiefe zu hören, und in seinen Ohren war es ein überaus verlockender Gesang.
Er vergewisserte sich, dass Lena und Munkel wohlbehalten schliefen, nahm die Blendlaterne und schlich die Wendeltreppe hinab.
Drunten im Gewölbe ging er aufs Neue rastlos hin und her. Eben wollte er auf die Brunnenplatte treten, als er Schritte auf der Treppe hörte. Gleich darauf ging die Tür auf, und der Herr Nigrethius trat ein.
»Nun, Faust, verwundert es Ihn nicht, mich an diesem Ort zu sehen?«
»Ich wusste seit Langem, dass es eine Eurer Fallen war.« Er trat an den Tisch und gab vor, den Inhalt von Tiegeln und Glaskolben zu überprüfen. Der Anblick des alten Schinders im abgewetzten Mönchskleid setzte ihm ärger zu, als er sich anmerken lassen wollte.
»Und doch ist Er hineingetappt?«
»Warten wir's ab, Herr, wer am Ende in der Klemme sitzt.«
»Nun, genug der Umschweife.« Nigrethius zog die Tür hinter sich zu und trat so nahe vor Faust, dass er den Kopf zurücklegen musste, um ihm in die Augen zu sehen. »Allenfalls in acht Tagen«, raunte er mit einem Stimmklang wie Asche, »haben die Häscher des Herzogs herausgefunden, in welches Loch Er sich verkrochen hat. Und kommt der Inquisitor den Herzoglichen zuvor, so ist Sein Leben ebenso verwirkt – nur wird Sein Leib dann nicht gepfählt und gevierteilt, wie es der Württemberger im Sinn haben soll, sondern nach frommem Brauch in Brand gesetzt.«
»Und Ihr seid nun herbeigeeilt, mir eine sichere Zuflucht anzubieten, wo kein Fürst und kein Inquisitor mich aufspüren kann?«
»Habe ich mich nicht allezeit für Ihn verwendet, Faust? Nur den Pakt muss Er mir in dieser Nacht durchaus schließen und das große Werk ausführen, das Er mir seit einem halben Leben schuldig ist. Beugt Er sich diesem Gebot, so sollen Er und die Seinen noch am morgigen Tag auf ein Schiff geleitet werden, das sie zu einem sicheren Ort im Morgenland bringt.«
»Im Morgenland? Nun, zumindest der Würgarm des Württembergers würde so weit wohl nicht reichen. Aber was fange ich an, wenn Euer Heiliger Vater einen Kreuzzug befiehlt, um den teuflischen Faust in Arabien einzufangen?«
Das Antlitz des einstigen Abts von Spornstein fältelte sich zu einem pergamentenen Lächeln. »Da überschätzt Er Seinen Rang aber arg. Für den Heiligen Vater ist der viel beschriene Doktor Faust noch immer bloß ein unbedeutender Teufelsbuhle, den er von seinen Hexenjägern fangen und in seinen Kerkern gemächlich zermartern lässt. Ein gewisser Fra Johannes allerdings sieht in Ihm seit geraumer Zeit nur noch den leibhaftigen Satan. Der Gute hat geschworen, den Teufel Faust mit eigenen Händen zu töten – und ich befürchte sehr, dass er bereits um die Mauern von Murau schleicht.«
»So bleibt mir also nichts, als mich unter Euer Joch zu beugen und den Pakt zu schließen, von dem alle Welt glaubt, dass ich ihn vor Jahr und Tag schon eingegangen wäre?«
Nigrethius verschränkte die Arme vor der Brust. »Ruf Er den Dämon herbei. Sogleich, noch in dieser Stunde, Faust, oder ich öffne höchstselbst das Tor und lasse Seine Widersacher ein.«
Er wusste nur zu gut, dass es Nigrethius mit dieser Drohung ganz und gar ernst war. Sie beide waren am Ende aller Fluchten und Ausflüchte angelangt. Wenn er das gräuliche Bündnis nun nicht einging, würde der einstige Abt dafür sorgen, dass er und die Seinen zu Tode gemartert würden.
»Ich beuge mich«, sagte er schließlich, »doch gebt mir noch wenige Stunden Zeit, Nigrethius, nur bis es wieder Tag geworden ist. Nicht um mich zu bedenken, denn mein Entschluss steht fest, und dass ich in dieser Welt nicht weiter fliehen kann, das weiß ich wohl. Doch ich will zuvor noch ein wenig ruhen. Um den Dämon zu beschwören, muss man frischen Geistes sein – sonst zerreißt er den Leib dessen, der es wagt, ihn herbeizuschreien.«
Nigrethius sah ihn argwöhnisch an. »Also meinethalben«, sagte er dann. »Morgen zur Sext will ich mich hier wieder einstellen, und lass er sich abermals warnen, Faust – willfahrt Er mir nicht, so liefere ich Ihn und die Seinen dem Inquisitor aus.«
Faust gelobte ihm alles, was er hören wollte. Er hatte es nun eilig, den Herrn Paulus loszuwerden. Ohne ein weiteres Wort schob er ihn die Treppe hinauf und riegelte oben die Turmtür hinter ihm zu.
Bis zum Morgendämmer blieben allenfalls noch sieben Stunden, aber das musste und würde reichen. Wenn ihm bloß für einen einzigen Moment alles, was er war und wusste, was er jemals getan und erlitten, gedacht und empfunden hatte, in strahlender Klarheit vor Augen stand, so konnte ihm die wahre alchimistische Verwandlung zuletzt doch noch gelingen: sich selbst und die Seinen aus dieser bleiernen Welt zu entrücken und in die goldene hinüberzugehen.
Erster Teil: Das schwarze Tier
1
Sein Leben lang versuchte er zu ergründen, was seiner Mutter am Michaelitag im 1479. Christenjahr geschehen war. Maria Faustin und ihm selbst. Es zu ergründen: durch Wissenschaft und Magie. Durch Befragung der Bücher und Beschwörung der Geister. Und es ungeschehen zu machen, aus dem Buch Gottes und der Kladde Satans zu tilgen, doch wie wenig von alledem glückte ihm.
Sie war sechzehn Jahre alt, seit dem Sommer erst Magd in Diensten des Klosters Maulbronn. Der Küchenmeister schickte sie aus, einen Krug Weinessig aus dem Keller zu holen, und sie ging hinab. Wenn auch innerlich bebend, denn Maria Faustin ängstigte sich von Kind auf vor dunklen, abgelegenen Orten.
Der Keller unter dem Dormentbau war ein winkelreiches Gewölbe voller Schatten und Düsterkeit. Die Faustin hastete zur Essignische, spähte hinter Fässer, wo sich Finsternis klumpte, schreckte zusammen, wenn Wind in Mauerlöchern sang. Rasch füllte sie ihren Tonkrug und wollte sich eben wieder umwenden, als jener Brocken nackter Schwärze aus der Nische hinter dem Essigfass brach.
In der Luft jählings ein Gestank von Kot und Fäulnis, dazu ein Knurren wie von einem Tier. Quiekend wühlte und wand es sich unter dem Bottich hindurch, mit kratzenden Krallen, mit rauem Belfern und Fiepen. Längst hatte die Faustin zu schreien begonnen, aber so zaghaft, dass es im Kreischen des Tieres unterging.
Sie wollte zur Tür zurück, doch da war es schon bei ihr. Sprang sie von hinten an, der Tonkrug fiel hinab und zerschellte. Und das Tier kauerte über ihr in der Essigpfütze, seine Pranken in ihren Rücken geschlagen, und stieß hechelnd und quiekend, mit rasender Hast in sie hinein.
Vor Schmerz und Grauen war sie kaum mehr bei Sinnen, als die Bestie endlich von ihr abließ. Die Faustin sank vollends zu Boden, und aus der Wunde zwischen ihren Schenkeln rann ihr jungfräuliches Blut. Vermengt mit dem Samen des Tiers.
Und dann war wie aus dem Nichts einer der heiligen Männer bei ihr, Johannes Burrus, damals einundzwanzig und Prior von Maulbronn. Sie hörte ihn murmeln. »Schwarzes Tier, ich weiß, wo du wohnst. Es ist dort, wo der Thron des Satans steht.«
Er beugte sich über sie, wollte ihr aufhelfen, doch sie schrie und schrie, bis er zurückwich. Auf dem Rücken kroch sie davon, wie eine tödlich verwundete Schlange.
Wochen und Monate lag sie auf dem Stroh- und Lumpenlager in einer Gerümpelkammer unterm Dach des Knittlinger Küfermeisters Gerlach. Maria schrie und weinte unaufhörlich, bei Tag und bei Nacht. Unten im Erdgeschoss, wo die Fässer gefertigt wurden, fauchte das Feuer, die Sägen sangen, und von früh bis spät krachten Hammerschläge auf die kreischenden Eisenbänder nieder. Der Küfer, ein ehrbarer Trunkenbold und Wüstling, hatte sich gesträubt, sie in sein Haus aufzunehmen, doch von Johannes Burrus bedrängt und bedroht, hatte er sich unter unflätigen Verwünschungen schließlich gebeugt.
Verwünschungen der Faustin und des Balgs, der in ihrem Leib heranwuchs. Verfluchungen der Mönche von Maulbronn, dabei nahm er anfangs lediglich an, dass einer der heiligen Männer die honigblonde Maid geschändet hätte, wahrscheinlich sogar der hoffärtige Prior Johannes höchstselbst.
Der Schmerz war wie ein schwarzes Feuer, das im Innern der Faustin brannte: von der Wunde zwischen ihren Schenkeln bis an ihr Herz hinauf. Immer wieder sah sie die Schrecknisse in jenem Keller vor sich. Roch den Essigdampf, den Gestank nach Fäulnis, Brunst und Kot. Erblickte den Klumpen nackter Schwärze, wie er aus der Nische brach, unter dem Fass hervorquoll. Hörte das Knurren und Quieken und Belfern, als er sich auf sie warf. Und wieder und wieder hörte sie den heiligen Mann murmeln: »Schwarzes Tier, ich weiß, wo du wohnst.«
Maria weinte und greinte den ganzen Herbst und Winter hindurch. Nur die Trine, das Küchentrampel aus Gerlachs Haushalt, durfte sie anrühren. Sie mit Brei und Brühe füttern, ihr den Schweiß von Stirn und Wangen wischen, sie zum Notdurftkübel führen. Längst glaubte der Küfermeister und mit ihm halb Knittlingen, dass die Maid unter seinem Dach besessen sei. Johannes Burrus musste sich mit dem Satan eingelassen haben, und ein vom Prior herbeigerufener Teufel hatte die Faustin bestiegen, so dass sie einen Dämon in ihrem Leib ausbrütete, anders war das unaufhörliche Kreischen und Winseln schlechterdings nicht zu erklären.
Der Winter schwand, und Marias Geist verdunkelte sich. Im gleichen Maß verblasste die Erinnerung, und mit ihr der Schmerz. Zu Beginn der Fastenzeit verebbten ihre Tränen, der Weinkrampf löste sich, und zuweilen schien es der Küchentrine gar, dass die Faustin auf ihrem Lumpenlager lächelte. Seit Michaeli hatte sie kein Wort mehr gesprochen, und auch jetzt schwieg sie weiterhin. Doch ihr kaum merkliches Lächeln war wie das Strahlen der Sonne, die nach furchtbarer Sintflut, hinter Wolken noch verborgen, den Himmel hintergründig erhellt.
Unterdessen war ihr Leib immer weiter angeschwollen, und am Morgen des 23. April 1480, als der Vollmond noch bleich vor ihrer Fensterluke schwebte, setzten die Wehen ein. Doch die herbeigerufene Wehefrau Agatha brauchte weder Messer noch Zange, weder Handfesseln noch Beißholz aus ihrem Bündel zu holen. Unter hellen, jauchzerartigen Schreien presste Maria Faustin die Teufelsfrucht aus ihrem Schoß hervor.
Der Kleine war zwei Monate zu früh geboren worden und von schwächlicher Gestalt. Der Schrei, mit dem er zu atmen begann, klang kraftlos. Doch das Kind schien nicht verkrüppelt oder anderweitig entstellt, und auch nach Satansmalen suchten die Trine und die Wehefrau den mageren Leib vergeblich ab. Seine Haut war wie Sonnenlicht, auf dem Köpfchen kräuselte sich goldener Flaum. Weder trug er ein Stück schwarzes Fell zwischen den Schulterblättern, noch fanden sie an Schenkel oder Lenden ein hufförmiges Mal.
Aber warnte nicht schon der Apostel vor den Verstellungskünsten der Satansgeister? »Sie verwandeln sich in Engel des Lichts und tragen doch jederzeit die Hölle in sich.«
Die Wehefrau legte ihn an die Brust der Mutter, deren Lächeln sogleich wiederkehrte, strahlender als zuvor. Mit unvermuteter Gier begann der Kleine zu saugen, so als ob er bereits spürte, dass er raschestmöglich zu Kräften kommen musste, da jedermann in diesem Haus und im weitesten Umkreis ihn für einen Auswurf der Hölle hielt.
2
Sie legten ihn auf das Moosbett unter dem Schwarzkopf, einem Felsbrocken im Tannenholz bei Maulbronn. Es war tiefe Nacht, nur die Mondscheibe goss ihr Bleichlicht auf den heidnischen Betplatz hinab. Er war nackt, er fror und litt erbärmliche Angst. Doch er gab keinen Mucks von sich, wie um keine Kraft zu vergeuden oder ihren Hass nicht noch weiter aufzustacheln. Ihren Hass und die dunkle Lust in ihren Herzen.
Er lag in einem Kreis aus brennenden Fackeln, und die Leute reichten sich die Hände und heulten Beschwörungen zum Felsen hinauf. »Ob du den Tiefen entsteigst oder aus Höhen enteilst – komm zu uns, schwarzer Hund Sjö!« Sie warfen sich auf die Knie und beschworen den Geist, das Teufelskind von ihnen zu nehmen. Lange verharrten sie so, dann irgendwann sprangen sie wieder auf, und die Wehefrau Agatha, die auch in heidnischen Bräuchen kundig war, kreischte: »Neunmal den Kleinen ins Wasser getaucht – so will es der schwarze Hund Sjö. Kommt der Knabe von Gott, so wird er gesunden an Leib und Seele.«
Sie nahm ihn auf und trug ihn mit sich fort. Die anderen Leute trampelten der Alten hinterdrein. Wasser toste und gurgelte. Ächzend ging die Wehefrau in die Knie. Dann packte sie ihn bei den Fußknöcheln und stieß ihn kopfüber hinab.
Das schwarze, kalte Wasser traf ihn wie ein Schlag. Er wollte schreien und bekam einen Schwall in Mund und Kehle. Er wurde emporgerissen, und während er noch gurgelte, schrie und hustete, tunkten sie ihn abermals ein.
Seine älteste Erinnerung, das unterste Bild am Grund seiner Seele: hinab in die nasse, kalte Nacht. Mund und Schlund voll schlammigem Wasser. Dann abermals hoch, und er hustete und schrie und japste noch immer nach Luft, als er aufs Neue hinabgestoßen wurde.
»Schwarzer Hund Sjö.« Sie wollten ihn töten, das spürte er mit brennender Klarheit, so wie jede Maus, jede Laus es spürt, wenn es ihr ans Leben gehen soll. Wieder und wieder stießen sie ihn in die Flut hinab, heulten Anrufungen des schwarzen Hundes in die Nacht. Wenn er verrecken würde, dann hatte es Gott so gewollt. Schließlich war er der Bastard einer Besessenen, gezeugt von einem Dämon.
Sie tauchten ihn unter, wieder und wieder, und jedes Mal wenn sie ihn hervorzogen, hustete und gurgelte er zum Erbarmen. Doch er gab nicht mehr den leisesten Schrei von sich. Kein Greinen, kein Winseln, nichts.
Als sie ihn das neunte Mal aus dem Wasser rissen, war sein Gesicht blau verfärbt, der kleine Leib kalt und starr. Doch die Augen waren weit geöffnet, sein Blick brannte, er spie Schlamm und Wasser, hustete und sog röchelnd die rettende Luft ein.
Vor Tagesanbruch wurde die Faustin durch das Gepolter der Küchenmagd aufgeweckt. Im Erwachen blasste ihr Lächeln für einige Augenblicke ab, doch gleich darauf wurde es umso strahlender, und mit einem hellen Jauchzer streckte sie die Arme nach ihrem Kleinen aus.
Die Trine legte ihr das tropfnasse Bündel an die Brust. Maria schauerte zusammen, der Knabe war so kalt wie ein Brocken Eis. Kalt waren auch die Händchen, die unbeholfen über ihre Brüste tasteten, und wie eisig erst seine blau gefrorenen Lippen, die sich gebieterisch um die Zitze schlossen.
Maria lächelte noch leuchtender, sie umfing und wiegte ihren Liebling, sie deckte ihn zu und wärmte ihn, und ihr leises, helles Lachen erklang nun im gleichen Takt, in dem der Kleine die Milch aus ihrem Busen saugte.
Am Sonntag darauf, dem 30. April 1480 A.D., wurde der Bastard in der Knittlinger Kirche auf den Namen Georg Johannes Faust getauft.
Pater Kasimir Huebele besprengte ihn mit geweihtem Wasser, und der Knabe starrte ihn an mit Augen wie blaues Feuer, so dass der Priester es in seinem Schrecken beinahe versäumte, den Täufling auf Erden willkommen zu heißen.
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Er war größer gewachsen als die meisten seines Alters und honigblond gelockt wie seine immer lächelnde Mama. Wem nie geflüstert worden war, wie die Faustin an Michaeli vor fünf Jahren ihren Bastard empfangen hatte, der mochte den kleinen Georg für einen fleischgewordenen Engel ansehen. So weiß war seine Haut, so zierlich seine Gestalt, so hell und arglos seine Miene. Nur sein Blick aus großen Augen, die wie blaue Flammen brannten, störte den himmlischen Anschein, und wer je von seinem Lachen getroffen wurde, das wie kalte Blitze aus ihm hervorschießen konnte, der vergaß es niemals mehr.
Mit seiner Mutter hauste er in der Gerümpelkammer unterm Dach des Küferhauses. Es war ein weitläufiger Bau, mit massivem Steinsockel und einem mächtigen Dach über zwei Fachwerkgeschossen. Im düsteren Erdgeschoss werkten der Meister, seine Gesellen und Lehrbuben. Und wann immer Georg Faust die schwere Tür von der Treppe her aufzog und in die Küferwerkstatt lugte, erstarrten ihre Hände samt Hämmern in der Luft, und die bärtigen Gesichter der Gesellen gefroren.
»Verflucht noch eins, der Satansbalg. Treibt ihn zurück wie einen tollwütigen Fuchs, der Meister hat's befohlen!« Eisendorne wurden drohend auf ihn gerichtet, Holzkeile gegen ihn geschleudert, Eisenspäne wirbelten blitzend durch die Luft. Hastig schob Georg die Tür wieder zu. Zur Gasse hinaus ging es nur durch diese Hölle hindurch, und so saßen die Mutter und er im Küferhaus fest.
Selbst am Gesindetisch hinter der Küchenesse, wo sich die Mägde und ihre Kinder mittags zur Suppe versammelten, wurden die Mutter und Georg niemals geduldet. Immer erst abends nach dem Angelusläuten kam die Trine zur Kammer der Faustin hochgeschnauft und brachte ihnen in einem Napf, was von ihrem Mahl übrig geblieben war – Hirsebrei oder Suppe mit Rübenstücken, in der an Festtagen allenfalls ein paar Speckfetzen schwammen. Wenn ihn der Hunger doch einmal in ihre Küche trieb, so bekreuzigte sich die Trine, warf ihm einen Brocken altbackenes Brot oder auch bloß ein Scheltwort zu und jagte ihn wieder fort.
Hinter der Küche mit ihrer gewaltigen Feuerstelle, den rußschwarzen Wänden, vor denen Pfannen und Töpfe hingen, gab es eine Flucht schmaler Kammern, in denen die Mägde des Küfers lebten. Linker Hand erstreckten sich die Gemächer des Herrn Gerlach, aus denen an fast jedem Abend Grölen und Weiberkreischen erklangen. Doch bisher war Georg weder da- noch dorthin jemals vorgedrungen, denn wer immer im Haus seiner ansichtig wurde, scheuchte ihn wie einen räudigen Hund davon.
Stunden, halbe Tage stand er an der Fensterluke in ihrer Kammer und schaute und lauschte hinab. Sah dem Schuster von gegenüber zu, wie er die Kundschaft an der Werkstatttür katzbuckelnd begrüßte, fing Gesprächsfetzen von der Gasse auf, malte sich aus, wie hinter Mauern und Fenstern gelebt wurde. Zuweilen wallte der beleibte Pater Huebele im schwarzen Weibergewand vorbei, und Georg Faust befragte ihn stumm, ob er des himmlischen Teils seiner Botschaft wirklich so gewiss sei, wie er es sonntags von der Kanzel herab stets beteuerte. Macht und Allgegenwart der Hölle schienen ihm unzweifelhaft, er spürte sie bei jedem Schritt und jedem Atemzug, ja manchmal meinte er den Satan im Innern der Erde hallend lachen zu hören. Nur unter dem Himmelsparadies mit einem verzeihenden Gottvater auf dem Thron konnte sich Georg Faust wenig vorstellen. Der Himmel war so fern und die Hölle allezeit so nah.
Manchmal begegnete er anderen Kindern auf der Gesindetreppe, zwei Maiden, beide älter als er. Die Größere, mit langen, seidig schwarzen Haaren, sah immer nur hochmütig über ihn hinweg. Die fuchsbraune Maid aber, schmal und scheu, schaute ihn auf eine Weise an, die ihm auch nicht recht geheuer war – ein wenig so, wie die Mutter dreinsah, ehe sie ihn unter hellem Jauchzen umarmte.
Er brauchte Jahre, um herauszufinden, dass die Schwarze Lissa hieß, die Braune Helena. Beide waren Töchter der Stallmagd Tonia Siebenschöpf, damals neun und sieben Jahre alt.
Damals: im Sommer 1484, als Georg Faust in seinem fünften Jahr war und wieder einmal im Hof hinterm Küferhaus mit seinen Fadenpuppen spielte. Er hatte geschickte Hände, die aus Fetzen und Dreck winzige Menschlein zaubern konnten – mit Leibern aus Lehm, Gliedern aus Kufensplittern, mit Pflaumenkernköpfen und anmutigen Lumpenkleidern. Wenn er in einem Winkel des Küferhofs kauerte und seine Kreaturen sich vor ihm im Schmutz ergingen, dann vergaß er oft halbe Tage lang, dass es um ihn herum noch eine andere, weitere Welt gab.
Auf zum Erbarmen knochigen Beinen wankten seine Geschöpfe umher und warfen magere Ärmchen empor. Durch geringfügige Bewegungen seiner Finger, die ein kunstvolles Zwirngewirr mit den Kreaturen verknüpfte, konnte er in ihrer Welt Wunder wirken oder Verheerungen anrichten. Sie flehten ihren Schöpfer an, dankten ihm auf Knien oder schüttelten Apfelzweigfäuste in ohnmächtigem Zorn. Sie jauchzten wie die Faustin, keiften wie die Küchentrine, fistelten wie der Altgeselle Konrad oder dröhnten, gleich dem Küfermeister Gerlach, Verwünschungen in heiserem Säuferbass. Eben überlegte Georg, ob er den Brummkerl durch Blitz und Donner verderben sollte, denn das Lumpenmännchen hatte sich erdreistet, ihn, seinen Gott und Schöpfer, einen Teufelsbalg zu schimpfen. Da sah er in den Augenwinkeln, wie Benno, der älteste Lehrbub des Küfers, auf der anderen Hofseite aus der Hintertür der Werkstatt trat.
Vor Wochen hatte Benno ihn einmal hier draußen im Hofwinkel überrumpelt – plötzlich war der stämmige Bursche hinter einem Fass hervorgesprungen und hatte Georgs sämtliche Fadenpuppen unter boshaftem Gelächter zertrampelt, mit seinen dicken roten Händen zerfetzt. Doch so etwas widerfuhr ihm nur noch selten, meist war er auf der Hut.
Zwischen Stapeln von Eichenholz und einem Wirrwarr rostiger Eisenbänder schlenderte Benno über den Hof und gab sich pfeifend, die Daumen im Gürtel, den Anschein, als ob er nach nichts Ärgerem als einem sonnigen Plätzchen für die Jause suchte. Währenddessen raffte Georg fieberhaft seine Puppen zusammen. Ohne den Kerl in geflicktem Wams und grauen Dreiviertelhosen aus den Augen zu lassen, stopfte er sich die Lumpenmenschlein unters Hemd und lief durch die schmale Gasse aus Fässern und Kufenstapeln auf die weit offene Tür in der Rückfront des Küferhauses zu.
Als er im Laufen hinter sich sah, bog Benno eben in den Hohlweg ein. Georg rannte schneller, drückte die Puppen unterm Hemd an seinen Bauch. Wie oft hatte er die Mutter angebettelt, ihm Wams und Hose zu schneidern, wie es die meisten Knaben in seinem Alter trugen. Aber die Faustin hatte nur gelächelt, ihre Arme um ihn gelegt und ihn gewiegt wie ein kleines Kind.
Fünf Schritte trennten ihn noch von der Tür zur Gesindetreppe, als vor ihm eine schlaksige Gestalt von den aufgetürmten Kufen herabsprang – Frido, der jüngere Lehrbub, ein blasser blonder Knabe von eben neun Jahren. Bisher hatte sich Frido gegen Georg und die Mutter nicht feindselig verhalten, beinahe als Einziger im Küferhaus. Doch nun war auch in seinen Augen jenes Glitzern, das Faust seit frühesten Zeiten ungut vertraut war. Das dunkle Funkeln – wer so dreinsah, brannte darauf, zu quälen.
Breitbeinig stand Frido vor ihm, in der Hand ein gekrümmtes Eisen, von dessen glühend rotem Ende Rauch aufstieg. Georg wollte herumfahren, Benno mit einem verzweifelten Fluchtversuch überrennen, da schloss sich von hinten die dicke Hand um sein Genick. Mit einem Ratsch riss ihm Benno das Hemd vom Leib. Die Lumpenpuppen fielen zu Boden, und Georg stand nackt zwischen den beiden Burschen, die so viel größer und kräftiger waren als er.
»Wollen doch mal dein Teufelsmal sehen, Kleiner.« Benno zerrte, immer noch hinter ihm stehend, Georgs Handgelenke hoch und zwang ihn, sich wie eine Fadenpuppe um sich selbst zu drehen.
»Ich hab keins«, sagte Georg.
»Verlogenes Satansaas.« Benno ließ plötzlich seine Hände fahren, umschlang ihn und drückte ihn gegen sich, so dass Georgs Gesicht erstickend in Bennos Wams und Wanst gepresst wurde. Dumpf hörte er den älteren Lehrjungen befehlen: »Na, mach schon, Frido.«
Dann ein Zischen und lodernder Schmerz in seiner linken Hinterbacke und der Gestank von schmorendem Fleisch. Sie stießen ihn zu Boden, sprangen lachend über ihn hinweg. Ein Tritt traf ihn an der Schulter, er blieb liegen, wie sie ihn hingeworfen hatten, auf dem Bauch, nackt und zuckend wie ein verwundeter Wurm. Der Schmerz kochte in seinem Fleisch, aber er weinte und wimmerte nicht, er hatte nicht einmal aufgeschrien, als sie ihm das Gluteisen eingeprägt hatten.
Er schloss die Augen, und wie so häufig in Träumen, aus denen er schweißnass, mit rasendem Herzschlag auffuhr, schien es ihm, als ob jemand ihn bei den Fußknöcheln gepackt hielte und kopfüber in eine Grube voll schlammiger Schwärze stieße. Rasch machte er die Augen wieder auf. Das hier war lange nicht so arg. Er musste nur noch mehr auf der Hut sein, das war alles. Trau keinem, Faust – keinem Schelm und keinem Schein.
Der Schmerz begann zu verebben. Nackt kauerte Georg zwischen den Fässern des Küferhofs, auf seinem Hintern ein brandrotes hufförmiges Mal von der Größe eines Vierteltalers. Er warf sich die Hemdfetzen über, klaubte seine Fadenpuppen aus dem Staub und ging so bedächtig, als ob weiter nichts geschehen wäre, über die Gesindetreppe zur Kammer der Faustin hinauf.
Auch mit ihm sprach die Mutter niemals, sowenig wie mit Meister Gerlach oder der Küchentrine, aber er verstand sie gleichwohl. Alles, was sie dachte, was sie ihm sagen oder verschweigen wollte, las er in ihrem Lächeln, ihren Gebärden. Sie umarmte ihn, unter Tränen lachend. Sie kniete sich vor ihm auf den Holzboden ihrer Kammer, die mit Gerümpel vollgestellt war, drehte ihn herum und blies sanft auf sein Brandmal. Ihre Zunge fuhr über die Wunde, und aus ihrer Kehle drang tröstliches Gurren. Sie wandte ihn wieder sich zu, legte ihre Stirn an seinen Bauch und verharrte so, während ihre Hände über seine Beine, seinen Rücken fuhren.
In der Kirche predigte Pater Huebele bald jeden Sonntag gegen die Üppigkeit der Lenden und wider die Verderbnis, die da lauerte in der Weiber Schoß. Georg konnte sich nicht erklären, was damit gemeint sein sollte, und dennoch spürte er, dass die Üppigkeit des Sohnes nicht für den Schoß der Mutter war. Maria hob ihn hoch, trug ihn zu ihrem Lager und legte sich neben ihn. Lächelnd schürzte sie ihr Gewand empor und schmiegte sich an ihn. Ihre Lippen liebkosten sein Ohr mit ihrem Atem und mit zärtlichem Summgesang. Sie nahm seinen Kopf in die Hände und zog ihn hinab auf ihren Busen. Seine Lippen berührten die Spitze ihrer Brust, und sie stieß ein helles Jauchzen aus, doch da machte er sich aus ihrer Umarmung los.
»Ich bin nicht mehr Euer kleiner Knabe, Mutter«, sagte er leise zu ihr. »Ich muss ein Mann werden, so schnell wie möglich, versteht Ihr? Stärker als jeder andere will ich werden, an Geist und Gliedern, damit ich Euch und mich selbst beschützen kann.«
Er kauerte neben ihr auf dem Lager, und sie lächelte zu ihm hinauf. Sie war ein Kelch, randvoll mit Angst und übervoll mit Liebe. Wenn der Herr Gerlach übler Laune war, kam er manchmal zu ihr heraufgestampft und spie ihr ins lächelnde Antlitz. Schlug ihr auf die Wangen, dass ihr Engelshaupt hin und her flog und Tränen aus ihren Augen rannen, und er, Georg, konnte nichts dawider tun. Wie Gefangene hielt der Küfer sie in seinem Haus, nur sonntags durfte die Faustin am Arm der Küchentrine die zwanzig Schritte hinüber zur Kirche gehen. Und immer wenn der Pater dort vom Satan und seinen Dämonen, von der Hölle und der ewigen Verdammnis predigte, wandten sich alle auf ihren Bänken nach hinten und sahen mit harten, bösen Gesichtern zur Mutter und zu ihm.
Dabei hatte Georg nie verstanden, warum gerade er ein Satanskind sein sollte oder weshalb sie die Faustin eine Besessene nannten. So vieles schien ihm dunkel, wie sehr er auch darüber grübelte. Von unergründlichen Rätseln waren sie beide wie von Mauern umgeben, die Mutter und er.
»Ihr müsst mir endlich ein Gewand schneidern, Mutter, hört Ihr? Hose und Wams, wie es die anderen Knaben in meinem Alter tragen.«
Sie lächelte zu ihm herauf, als hätte sie nichts verstanden. Im nächsten Moment stand sie auf, das Kleid rutschte an ihrem mädchenschlanken Leib hinab. Sie trat zum Kleiderkasten und zog ihr Festtagsgewand hervor. Mit heiterer Miene kam sie zu ihm zurück und wollte ihm den bunten Weiberrock über den Kopf ziehen.
»Ach, Mutter, das geht ja auch nicht.« Sacht wehrte er sie ab. Nahm sein zerrissenes Hemd vom Fußende ihres Lagers auf, holte Zwirn und Nadel hervor und flickte die Fetzen notdürftig zusammen. Stärker als Benno und Frido musste er werden, dachte er dabei, stärker als der riesenhafte Meister Gerlach und mächtiger als alle, die ihm und der Mutter ins Gesicht zu speien oder zu schlagen wagten, die sie verachteten und als Satanspack beschimpften – der Priester, die ehrbaren Bürger, die Gesellen, alle.
Andreas Gößling, geboren 1958 in Gelnhausen.
Der promovierte Literatur- und Kommunikationswissenschafter beschäftigt sich seit vielen Jahren mit kultur- und mythengeschichtlichen Themen. Neben Romanen für erwachsene und junge Leser hat er zahlreiche Sachbücher publiziert und Forschungsreisen unter anderem im karibischen und südostasiatischen Raum unternommen. Andreas Gößling lebt mit seiner Frau, der Autorin und Sprachdozentin Anne Löhr-Gößling, bei Berlin.
1977-1986 Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Publizistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
1984-1986 Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes.
1986 Promotion mit s.c.l.-Dissertation über Thomas Bernhards Romane zum Dr. phil.
Anschließend Postdoktorandenstipendium der Deutschen Forschungsgesellschaft für ein dreijähriges Forschungsprojekt über Robert Walsers Romane, das einen dreimonatigen Arbeitsaufenthalt am Robert-Walser-Archiv in Zürich einschloss.
Literaturwissenschaftliche Buchpublikationen u.a. über Werke von Thomas Bernhard, Jean Paul und Robert Walser.
Romane u.a.: Die Maya-Priesterin (Eichborn 2001), Im Tempel des Regengottes (Eichborn 2003), Der Alchimist von Krumau (Eichborn 2004), Faust, der Magier (Aufbau 2007), Der Ruf der Schlange (Klett-Cotta 2010), Wolfswut (Droemer Knaur 2018), Drosselbrut, Droemer Knaur 2019, Rattenflut, Droemer Knaur 2020, Bernsteingrab (überarb. Neuausgabe), Edition Marbuelis 2020, Der Irrläufer (überarb. Neuaugabe), Edition Marbuelis 04/2020, Dunkler Tanz (überarb. Neuausgabe), Edition Marbuelis 05/2020
Romane für jugendliche Leser u.a.: Tzapalil (Arena 2005), Der Sohn des Alchimisten (Arena 2007), Die Dämonenpforte (Bertelsmann cbt 2009), Opus I+II (Boje 2010)
Sachbücher u.a.: Drachenwelten (Piper 2003), Voodoo (Knaur 2004, dotbooks 2013), Freimaurer (Knaur 2007), Die Männlichkeitslücke - Warum wir uns um die Jungs kümmern müssen (zs debatten 2008)
Weitere Infos: www.andreas-goessling.de
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- Artikel-Nr.: SW9783944488486458270
- Artikelnummer SW9783944488486458270
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Autor
Andreas Gößling
- Verlag MayaMedia Verlag
- Seitenzahl 464
- Veröffentlichung 27.07.2020
- ISBN 9783944488486