Der Irrläufer

Sommer 1987: Der junge Spiele-Erfinder Georg Kroning hat ein bizarres Brettspiel entwickelt. Als er das Irrläufer-Spiel mithilfe einer Agentur vermarkten will, scheint es sich zu verselbstständigen: In Georgs Umgebung kommt es zu rätselhaften Todesfällen, die sich allesamt nach den Regeln seines Spiels zu ereignen scheinen. Handelt es sich um spukhafte Zufälle, ist Georg ein psychopathischer Mörder – oder werden durch das Spiel Kräfte freigesetzt, die in einem düsteren Familiengeheimnis viele Jahre lang gebunden waren? »Die oft atemberaubende Handlung einschließlich treffsicher gezeichneter Milieus hat alle Qualitäten... alles anzeigen expand_more

Sommer 1987: Der junge Spiele-Erfinder Georg Kroning hat ein bizarres Brettspiel entwickelt. Als er das Irrläufer-Spiel mithilfe einer Agentur vermarkten will, scheint es sich zu verselbstständigen: In Georgs Umgebung kommt es zu rätselhaften Todesfällen, die sich allesamt nach den Regeln seines Spiels zu ereignen scheinen. Handelt es sich um spukhafte Zufälle, ist Georg ein psychopathischer Mörder – oder werden durch das Spiel Kräfte freigesetzt, die in einem düsteren Familiengeheimnis viele Jahre lang gebunden waren?

»Die oft atemberaubende Handlung einschließlich treffsicher gezeichneter Milieus hat alle Qualitäten eines film noir; doch das Unheimliche dieses Romans und wohl auch seine Raffinesse bestehen darin, dass den Leser trotz einer Romanwelt, die alles zu bieten hat, was spannende Lektüre ausmacht, immer wieder das Gefühl beschleicht, selbst einem Spiel mit unbekannten Regeln zu folgen (...) 'Der Irrläufer' ist ein ungewöhnliches und großartiges Buch.« Prof. Eva Geulen, Humboldt-Universität Berlin



»Sinnlich, mysteriös, grausam und bis zur letzten Zeile fesselnd.« (Gisbert Haefs über Die Maya-Priesterin)

»Ein teuflisch guter Roman.« (histo-couch.de über Faust, der Magier)

»Ein sagenhaft spannender Thriller.« (»Berliner Morgenpost« über Wolfswut)

»Ein genialer Fantasy-Detektiv-Roman.« (»Nautilus« über Der Ruf der Schlange)



Andreas Gößling



Der Irrläufer



Roman



Edition Marbuelis - Band 1



(c) 2020 Edition Marbuelis im Verlag MayaMedia, Berllin



















Dem größten Spieler





















Eins:

Tannenschatten







1

Am letzten Maimittwoch trat Georg gegen neun Uhr früh aus dem hohen, dämmrigen Mietshaus im Züricher Außersihlquartier. Mit Anzug und Koffer kam er sich wie ein Geschäftsreisender vor, der beispielsweise eine Musterkollektion modischer Tarnkappen mit sich herumschleppte. Während er auf die Schattenseite überwechselte, amüsierte er sich einige Augenblicke mit dieser Idee – wie einer sich nicht mit den Tarnkappen, sondern raffinierter als deren Händler tarnte.

Daraus müsste man ein Spiel machen, dachte er, obwohl er keinen Schimmer hatte, was für ein Spiel. Immerhin waren die Spiele sein Beruf, mit dem er allerdings bis heute keinen Pfennig oder Rappen verdient hatte. Fast zwei Jahre lang hatte er vergeblich versucht, sein Irrläufer-Spiel an einen Spieleproduzenten zu verkaufen. Wenn er heute nicht mit Härtel & Rossi übereinkam, konnte er gleich seine Sachen packen, seine Mansarde und sein ganzes bisheriges Leben aufgeben und als schmählich Gescheiterter zurück zu seinen Eltern nach Deutschland fahren. Nüchtern betrachtet war seine Lage nicht amüsant, sondern mehr oder weniger verzweifelt.

Der Aufgang zur Agentur lag halb versteckt in einer Passage. Links glitzerte ein winziges Juwelierfenster, rechts bauschten sich Zeitungen im blechernen Kioskkarussell. Auf dem Messingschild stand



4. Etage

St. Härtel & Fr. Rossi

Internationale Agentur

Kulturelle Transfers

Realisationen aller Art

Zürich – Rom – Tokio – New York



Georg zwängte sich durch den Türspalt und drückte auf den Liftknopf. Während er in die vibrierende Zelle trat, überlegte er allen Ernstes, vielleicht wäre es besser, umzukehren und die ganze Sache zu vergessen. Unangenehm war ja nicht, dass er sich in dem grauen Flanellanzug verkleidet fühlte, sondern dass er spürte, er beherrschte die Rolle nicht, für die er kostümiert war. Seit Wochen hatte er mit keinem Menschen geredet, höchstens alle paar Tage mit Alex. Und Alex – na ja, manchmal war er nicht sicher, ob Alex wirklich existierte.

Oben gab es keine Klingel, allerdings eine Variante des Firmenschildes: Härtel & Rossi – Realisationen und Transfers. Er stellte seinen Koffer ab und pochte gegen die schwarze Flügeltür. Drinnen klapperten Klinken, ein Schlüsselbund klirrte herbei. Schritte hörte man gar nicht. Der Schlüssel drehte sich knirschend, dann schwang die Tür auf. Im Rahmen stand eine schmale, klein gewachsene Frau, die pechschwarz gekleidet und leuchtend grün geschminkt war. Schwarz war auch ihr Haar, das sich südländisch kraus von Schläfen und Stirn absträubte und als schwerer, breit geflochtener Zopf über ihre linke Schulter floss.

»Mein Name ist Georg Kroning. Ich bin mit Herrn Härtel verabredet.« Seine Stimme klang belegt und schwankend.

»Francesca Rossi.« Sie warf Georg einen erstaunten Blick zu, den er lächelnd erwiderte. »Sie sind überraschend jung, Herr Kroning.«

Sie sprach mit italienischem Akzent, der die deutschen Wörter taumeln ließ. Georg nahm seinen Koffer auf und folgte ihr durch einen schmalen, düsteren Gang, der sich mehrfach überraschend krümmte, als wüsste er selbst nicht recht, wohin. Der Agent Fr. Rossi war also eine Frau, dachte er. Francesca war sicher nicht viel älter als er selbst – höchstens zwei- oder dreiundzwanzig. Um ihren schmalen Körper spannte sich ein schwarzes, über Rücken und Brust tief ausgeschnittenes Kleid, dessen enger Saum sie zu Trippelschritten nötigte. Auf ihrem Rücken schwang rhythmisch der Zopf, schwer und mattschwarz wie sein eigenes Haar, das Georg gegen jede Mode schulterlang trug.

»Hier entlang, bitte.«

Sie traten in ein geräumiges, karg möbliertes Büro. Das schmale Fenster hinter der Jalousie wies auf einen Mauerschacht, aus dem Milchlicht sickerte. Einen träg quirlenden Ventilator umschließend, surrte unter der Decke ein bleiches Neonquadrat. Den Boden bedeckten betongrau lackierte Bohlen, auf denen sich links eine klinisch wirkende schwarze Ledercouch, rechts ein chrom- und glasblitzender Schreibtisch erhoben. Zwei oder drei bleifarbene Metalltischchen waren ohne erkennbaren Zweck im Raum verteilt.

»Nehmen Sie Kaffee, Herr Kroning? Übrigens müssen Sie heute mit mir vorliebnehmen. Härtel musste überraschend nach New York fliegen; ich erwarte ihn frühestens morgen zurück. Aber keine Sorge, ich bin über alles informiert.«

Georg nickte lächelnd. Statt Kaffee sagte Francesca Kaffä, und Sorge klang bei ihr wie Sorrke. Da sie praktisch jedes Wort falsch aussprach, wirkten ihre Sätze zweideutig, obwohl die Nebenbedeutungen diffus blieben wie Bilder und Gebärden in Träumen.

»Und ziehen Sie doch diese dicke Jacke aus. Seien Sie ganz ungeniert. Es ist fürchterlich warm hier.« Als sie ihm den Koffer aus der Hand nahm, streiften ihre kühlen, grün manikürten Finger seinen Handrücken. Sie legte den Kopf zurück und lächelte ihn schleierhaft an, wobei ihre meergrünen Lider sich über die Augenhöhlen senkten. Dann trippelte sie nach links zur Couch und ließ seinen Koffer achtlos aufs Polster fallen, sodass drinnen die tönernen Irrläufer-Figuren aneinander schlugen.

»Schauen Sie sich ruhig ein wenig um, während ich versuche, die Kaffeemaschine in Schwung zu bringen.«

Obwohl er die Hitze unter dem grauen Flanell fast fauchen hörte, beschloss Georg, seine dicke Jacke anzubehalten. Kein Grund zur Nervosität, sagte er sich wieder, aber in seinem Magen ballte sich eine Art Drahtbüschel, das schwache Stromstöße durchzuckten.

An den gekälkten Wänden hingen grellfarbene Plakate. Eines zeigte eine Gruppe düsterer Steinskulpturen, ein weiteres einen bleich feixenden Clown. Seltsam war das an der linken Schmalwand prangende Poster. Ein anscheinend gänzlich nackter Schwarzer schlug mit beiden Fäusten ekstatisch auf eine kleine, um seine Hüften geschnallte Felltrommel ein, die sein Geschlechtsteil verbarg oder vielleicht umwölbte. Das vierte, schief über dem Schreibtisch hängende Plakat hatte Georg schon einmal gesehen.

Großflächig zeigte es eine zerklüftete Felslandschaft; Felsnasen spießten eine trübgrün versinkende Sonne auf. Im Vordergrund bohrte sich ein von Fackeln düster erleuchteter Stollen schräg ins Gestein. Von rechts fiel der Schatten eines schmächtigen, seinerseits unsichtbaren Menschen ins Bild, der sich offenbar anschickte, in den Stollen zu kriechen. Das Plakat warb für das Geheimgang-Spiel, das die Agentur Härtel & Rossi vor einigen Monaten mit einer groß angelegten Kampagne herausgebracht hatte.

Auf dem Schreibtisch lag eine Zeitschrift, die das Geheimgang-Plakat als Titelbild brachte. Georg blätterte sie mechanisch auf, obwohl er den Artikel fast auswendig kannte. Es war die März-Nummer des Fachmagazins Welt des Spiels, auf das er seit seinem vierzehnten Lebensjahr abonniert war.

»Den Bericht kennen Sie wahrscheinlich schon.«

Georg fuhr zusammen. Als er sich umwandte, saß Francesca auf der klinisch wirkenden Couch und balancierte ein Chromtablett auf den Knien. Kaffee dampfte in Glastassen, zwischen zwei winzigen Kelchen schwankte eine Flasche Grand Marnier.

»Ja, natürlich«, sagte Georg. »Ich lese die Welt regelmäßig.«

»Sie sagen einfach Welt?«, fragte Francesca mit einem Lachen. »Das ist originell, zumal es ja eine deutsche Zeitung gibt, die sich wirklich einfach Welt nennt. Sie kommen doch aus Deutschland, Georg?«

»Ja«, sagte er wieder. »Meine Eltern wohnen in Lerdeck, einem Taunusstädtchen in der Nähe von Frankfurt am Main. Sie werden den Namen wahrscheinlich noch nie gehört haben. Früher gab es dort ein berühmtes Spielcasino, aber heute ist Lerdeck einfach so ein Villengeschwür für Millionäre.« Übrigens lese er keine gewöhnlichen Zeitungen, fügte er hinzu.

Lächelnd schüttelte Francesca den Kopf. »Was fange ich nur mit diesem Tablett an? Wir sind fürchterlich unpraktisch eingerichtet – sehr chic, aber man kann nicht einmal eine Tasse abstellen.« Mit einem komischen Seufzer schob sie das Tablett neben sich auf Georgs Koffer, der flach auf dem Polster lag. Sie stand auf, nahm die schlanken Tassen und kam mit Trippelschritten auf Georg zu, der am Schreibtisch lehnte, die Welt des Spiels in der schlaff hängenden linken Hand. »Hier, nehmen Sie Ihren Kaffä. Leben Sie schon lange in Zürich?«

»Im Juni werden es zwei Jahre«, erwiderte Georg. Da seine Eltern ihm als Abiturgeschenk ein Schweizer Konto mit einem Guthaben von dreißigtausend Franken eingerichtet hatten, war er unmittelbar nach den Prüfungen in die Schweiz übersiedelt. Zürich war die Stadt der Spiele, in der ein halbes Dutzend großer Spieleproduzenten residierten. Obwohl er in den zwei Jahren einige wirklich gute Spiele entworfen hatte, war es doch auch eine Zeit der Niederlagen, Enttäuschungen und Heimlichkeiten gewesen. Beispielsweise glaubten seine Eltern bis heute, dass er im ersten Jahr nach den Abiturprüfungen durch halb Europa gereist und dann mehr oder weniger zufällig in Zürich gestrandet war. Die Vorstellung, dass ihr Sohn sich auf eine klassische Bildungsreise begab, hatte ihnen geschmeichelt. Da ihnen seine Leidenschaft für Spiele immer verdächtig gewesen war, hätten sie ihm zweifellos keinen Pfennig gegeben, wenn er ihnen offen gesagt hätte, wofür er das Geld brauchte.

»Wenn es Ihnen recht ist«, hörte er Francescas raue, fremd modulierende Stimme, »will ich Ihnen zunächst ein bisschen über Härtel & Rossi erzählen, damit Sie ungefähr wissen, wem Sie sich anvertrauen.«

»Gern«, murmelte er. Sein Guthaben war auf drei- oder viertausend Franken zusammengeschrumpft. Wie er das zweifellos monströse Honorar der Agentur aufbringen sollte, war vorläufig schleierhaft – im Moment begriff er selbst nicht, wie er jemals hatte hoffen können, dass seine Eltern ihm noch einmal aushelfen würden.

»Am besten fangen wir dort an.« Francesca packte ihn beim Ärmel und zog ihn nach links zu dem Plakat, das die Steinskulpturen zeigte. Über ihren Köpfen brummte und schwappte träg der Ventilator. Es war entsetzlich heiß in dem seltsam kühl möblierten Büro. »Vor der Gundlach-Kampagne haben wir fast nur solche Sachen gemacht.« Sie schwenkte ihre Tasse gegen die Skulpturen, die in ihrer verkrampften Starre weniger feindselig als hilflos und fast ängstlich wirkten. Eine Gruppe grauer, grob behauener Steinriesen wandte dem Betrachter die schorfigen Rücken zu. Obwohl es überall kleinere oder größere Lücken zwischen den Rücken gab, versuchte man vergeblich, sich mit Blicken in die Gruppe zu drängen, deren Gesichter unkenntlich blieben. »Bertonis berühmte Ausstellung der Felsenmenschen im Züricher Kunsthaus. Wir haben die Ausstellung organisiert, die anschließend um die halbe Welt gewandert ist. Natürlich werden Sie davon gehört haben. Stefan – ich meine, Härtel – kennt Bertoni von der römischen Kunstakademie. Und für mich ist Sergio Bertoni ein serr, serr guter Freund, wenn Sie verstehen, Georg.«

Er beschränkte sich darauf, von seinem Kaffee zu nippen, der widerlich gesüßt war. Auch den Namen Bertoni hatte er nicht gekannt, bis er den Gundlach-Artikel in der Welt des Spiels gelesen hatte. Soweit er sich erinnerte, wurde der Bildhauer in dem Bericht als lebendes Denkmal bezeichnet, und die Felsenmenschen standen inzwischen im Pariser Louvre in einem eigenen Bertoni-Saal.

»Stefan und ich haben lange überlegt«, sagte sie, »ob wir die Geheimgang-Kampagne riskieren sollten. Wenn die Sache schiefgegangen wäre, hätten wir uns fürchterlich blamiert. Aber nachdem wir Bertoni und Lombart überredet hatten, das Spiel künstlerisch zu gestalten, schien uns das Risiko vertretbar. Natürlich waren wir selber überrascht, wie viel Geld in Ihrer Branche zu verdienen ist.«

Sie hängte sich bei Georg ein und zog ihn zum zweiten Plakat, das den feixenden Clown zeigte. Irgendwie schaffte es Georg, im Vorbeigehen die Welt des Spiels und seine Tasse auf eines der bleifarbenen Tischchen zu schieben. »Der weltberühmte Gaukler und Magier Papa insanta. Sein Comeback vor zwei Jahren, Sie werden sich erinnern, und wir haben die Tournee organisiert. Auftritte in aller Welt – Europa, Amerika, Asien, sogar in Neuseeland; das größte Projekt, das Härtel & Rossi jemals realisiert hat«, sagte sie.

Während sie redete, presste sie seinen Arm und klimperte mit ihren grün getünchten Lidern, was einigermaßen albern aussah. »Noch sehr viel mehr wird Sie das nächste Plakat interessieren.« Sie zog ihn zur Nische, in der das grellfarbene Bild mit dem ekstatisch trommelnden Schwarzen prangte. Der glänzend nackte Mann hatte die Augen weit aufgerissen und so stark verdreht, dass nur zwei milchfarbene Halbkugeln aus den Höhlen quollen. Breitbeinig, mit zurückgeworfenem Oberkörper stand er auf einer orange angestrahlten Bühne und hämmerte mit beiden Fäusten auf die winzige Felltrommel ein, die unter seinem Nabel schwankte. Quer über dem Bild stand in verschwimmender Schrift: Ng’dugbai – trance-session eighty-one.

»Natürlich kennen Sie diese Thäorie, wonach Schwarzafrika für die weiße Zivilisation das Freudsche Unbewusste symbolisiert.« Sie beugte sich vor und stellte ihren Kaffeebecher auf das Tablett. Ihr schwerer Zopf glitt über ihre Schulter nach vorn und entblößte Nacken und Rücken, deren Bleichheit fast krankhaft wirkte. Als sie sich aufrichtete, hielt sie den Zopf mit der linken Hand vor ihrer Schulter fest und fing an, nervös an dem Haarstrang herumzuzerren. »Wenn Ng’dugbai in Trance sinkt«, sagte sie schnell atmend, »verwandelt er sich in eine Art Flussgott und fängt an – wie sagt man das – in Zungen zu reden.«

»Ich würde jetzt lieber ...«, warf Georg ein; weiter kam er nicht. Er hatte sagen wollen, dass er gern über den Irrläufer reden würde, da er sich für nackte, trommelnde Afrikaner absolut nicht interessierte.

»Sie müssen das einmal erleben, Georg – es ist wirklich ein magischer, ein ganz unvergesslicher Akt. Auf dem Höhepunkt hört Ng’dugbai plötzlich auf, diese Trommel zu bearbeiten, die scheinbar ganz von alleine weiter wummert, während er sich auf dem Boden wälzt.«

Unbehaglich beobachtete Georg, wie sie immer schneller und härter an ihrem Zopf herumzerrte, wozu sie ihm von schräg unten grüne Klimperblicke zuwarf, als überlegte sie schon, ob auch er für eine solche Trance-Session in Frage kam.

»Erst stößt Ng’dugbai so einen lang gezogenen, urweltlichen Schrei aus«, sagte sie, »der nach zwei, drei endlosen Minuten in Wimmern und Stammeln übergeht. Man glaubt, dass er Wörter redet, aber in Wirklichkeit versteht man überhaupt nichts. Aber Bilder schießen einem durch den Kopf, und was man fühlt – nein, ich kann es Ihnen nicht beschreiben. Sie sälber müssen es erläbt haben, Georg.«

»Nein, danke«, erwiderte er. »Wenn Sie nichts dagegen haben, sollten wir allmählich über das Geschäftliche reden.« Schroff machte er sich von ihrem Arm los und trat einen Schritt zurück. Er zitterte am ganzen Körper; dabei wusste er selbst kaum, was ihn derart außer Fassung brachte.

»Wie Sie wollen.« Unwillig ruckte Francescas Zopf über ihre Schulter zurück. »Wir von Härtel & Rossi haben uns immer um ein gutes Verhältnis zu unseren Künstlern bemüht«, verkündete sie. »Und wie ich schon angedeutet habe – viele weltberühmte Künstler zählen zu unserer Klientel. Bertoni, Lombart, Papa insanta und Ng’dugbai – das sind Namen, vor denen jeder andere erstarren würde, während Sie für alles nur ein Schulterzucken haben. Ich will damit sagen: Härtel & Rossi ist auf Ihren Auftrag nicht unbedingt angewiesen.«

Sie stemmte ihre kleinen Fäuste auf die Hüften und starrte ihn an, bis Georg merkte, dass sie auf eine Entschuldigung oder wenigstens eine versöhnliche Bemerkung von ihm wartete. Ihre Brüste, die spitz unter dem schwarzen Stoff vorstachen, zitterten, als ob auch ihr Körper sich über ihn empörte.

»Hören Sie«, sagte Georg, »ich wollte Sie nicht kränken oder so etwas. Es ist nur so, dass dieser Ng’dugbai ... Ich bin einfach dagegen, dass jemand in aller Öffentlichkeit seine Geheimnisse preisgibt.« Er zwang sich zu lachen, obwohl er spürte, dass er im gleichen Moment erbleichte. »Am besten, wir lassen all das beiseite und gehen zum geschäftlichen Teil über.«

Francesca nickte. Sie trippelte hinter den Schreibtisch, schwang sich auf den Drehsessel und versteckte ihr Gesicht hinter einer großen Brille mit dunklen, undeutlich spiegelnden Gläsern. »Natürlich haben wir Erkundigungen über Ihre Vermögensverhältnisse eingezogen. Nehmen Sie bitte Platz.« Sie nahm einen grauen Schnellhefter vom Schreibtisch und blätterte ihn auf.

Da es in der Nähe des Schreibtischs keine weitere Sitzgelegenheit gab, setzte sich Georg wieder auf die Couch zu seinem Koffer. Er zog die Gitanes aus der Tasche und zündete sich eine an. »Sie haben uns ein Modell Ihres Irrläufer-Spiels zugeschickt«, sagte Francesca. »Wir haben es an Herrn Alfred Sinking weitergeleitet, der in der Spielebranche als erstrangiger Experte gilt und uns schon für Gundlachs Geheimgang eine Expertise erstellt hat.« Sie ließ den Schnellhefter sinken und fuhr nach einer Kunstpause fort: »Sinkings Gutachten ist absolut euphorisch. Wenn er in dieser Hinsicht nicht unverdächtig wäre, würde man diese Blätter für ein reines Gefälligkeitsgutachten halten. Beispielsweise schreibt er hier – warten Sie ...«

Erneut beugte sie sich über den Hefter und raschelte mit den Blättern. »Ja, hier ... Das überraschende Meisterwerk eines jungen, überaus talentierten Künstlers ... originell, raffiniert, souverän ... schnörkellose Eleganz ... oder hier ... unverschämte, selbstgefällige Dummheit ... Nein, langsam, dieser Absatz bezieht sich auf unsere Konkurrenten.«

Georg hatte unwillkürlich den Atem angehalten, als Francesca in den falschen Absatz gerutscht war. Jetzt ließ er die angestaute Luft ausströmen und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ihm war so heiß, dass sein Haar an den Schläfen klebte. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr litt er an einem periodisch aufflammenden nervösen Kopfschmerz, der angeblich unheilbar war. Er glaubte zu spüren, wie sich irgendwo im Hintergrund eine neue Schläfenschmerzattacke vorbereitete. Sein Herz hämmerte, obwohl er gleichzeitig dachte – dieser Sinking konnte gar nicht anders, als den Irrläufer in den Himmel loben, da es wirklich nichts Vergleichbares gab.

»Warten Sie«, murmelte Francesca. »Sie müssen entschuldigen, ich hatte keine Zeit, dies alles gründlich durchzusehen ... Interessant ist noch der Schlussabschnitt, den Stefan rot unterstrichen hat. Hören Sie ... müssen wir jedoch einschränkend feststellen, dass Der Irrläufer naturgemäß niemals die Popularität des Geheimgangs erreichen kann. Der Durchschnittsbürger wird sich durch ein solches, den gesunden Menschenverstand verhöhnendes Spiel vor den Kopf gestoßen fühlen. Entsprechend muss die im Gundlach-Modell entwickelte Vermarktungsstrategie radikal abgewandelt werden ... Und so weiter«, sagte Francesca aufblickend.

Sie streifte die spiegelnde Brille ab und warf sie auf den Hefter. »Trotz dieser Einschränkungen können Sie mit dem Gutachten mehr als zufrieden sein. Ich bin allerdings in der unglücklichen Lage, über etwas reden zu messen, das ich selber nur vom Hörensagen kenne. Natürlich hat Sinking uns das Irrläufer-Modell zusammen mit der Expertise zurückgeschickt, aber hier im Büro ist es nicht. Bevor Sie kamen, habe ich alles abgesucht, aber vergeblich. Keine Ahnung, wo Stefan Ihren Irrläufer versteckt hat. Bevor wir über die finanzielle Seite reden ...«

»Das ist kein Problem«, sagte Georg schnell. »Ich habe ein zweites Exemplar dabei.«

Er zog den schmalen Koffer unter dem Chromtablett hervor und ging zu dem bleifarbenen Tischchen, das unter dem Plakat mit dem nackten Schwarzen stand. Francesca kam hinter dem Schreibtisch hervor und kniete sich links von dem Tischchen auf die betongrauen Holzbohlen, während Georg den Koffer aufklappte und den Irrläufer-Spielplan hervorzog. Er kniete sich auf der anderen Seite des Tischchens hin und klappte den Spielplan über die Platte.

»Schauen Sie«, sagte er, »in dieser Welt spielt das kleine Drama, das den gesunden Menschenverstand verhöhnt.«

Der Spielplan bestand aus sechsunddreißig trapezförmigen Feldern, die wabenartig ineinander geschoben und abwechselnd grau und lila ausgemalt waren. Vom linken Rand aus zog sich ein rostroter Pfad spiralförmig in die genaue Mitte des Plans. Die Felder dieses Pfades waren viermal kleiner als die Trapezfelder und kreisrund, aber sie waren so angeordnet, dass sie immer zweifelsfrei einem der Trapezfelder zugeordnet werden konnten. Georg selbst hatte den Plan gezeichnet, die Felder mit Leuchtstiften eingefärbt und das Ganze auf steifem Kunstkarton aufgeklebt.

»Spielen Sie Schach und Dame, Francesca?«, fragte er.

Als sie nickte, streifte ihre Stirn fast gegen seine. Man hätte glauben können, dass sie im Begriff waren, sich zu küssen. Hoffentlich vergaß Francesca nicht, dachte er, dass sie aus rein geschäftlichem Anlass unter dem ekstatischen Trommler knieten.

»Die lila und grauen Figuren«, sagte er, »werden nach Regeln bewegt, die Sie im Prinzip von den Dame- und Schachspielen schon kennen.«

»Hm«, machte Francesca flach atmend.

Er zog die Figuren paarweise aus ihrem Kofferfutteral, wobei er erklärte: »Der Irrläufer ist ein Spiel für drei Personen. Der erste Spieler führt die lilafarbenen, der zweite die grauen Figuren, während der dritte Spieler einzig den Irrläufer selbst bewegt.« Auch die Figuren hatte er eigenhändig entworfen und modelliert – er hatte sie aus nassem Lehm geknetet, in seinem klapprigen Backofen gebrannt und anschließend leuchtend lackiert.

»Das Spiel ist serr ästhetisch«, sagte Francesca. »Ich bin gespannt, was Sergio – was Bertoni zu Ihrem Modell sagen wird. Ich jedenfalls finde, dass Sie auch plastisch begabt sind. Aber welche von diesen Figuren ist der Irrläufer?« Sie sagte Irrrleuwerr, wobei ihre wild zwischen Lippen und Zähnen herumschießende Zunge fast zu zerbrechen schien und ihr grün geschminkter Mund krampfartig zuckte.

»Er ist noch nicht aufgetaucht«, sagte Georg.

Die lila und grauen Armeen bestanden aus je vier quader-, pyramiden- und säulenförmigen Figuren, die wie beim Schachspiel die beiden Grundlinien vor den Spielern besetzten. Während er die Figuren auf ihre Startfelder schob, erläuterte er:

»Die Grundregeln sind äußerst einfach; jedes Kind kann sie begreifen. Ich halte nichts von Spielen, deren Regeln man erst stundenlang studieren und immer wieder nachschlagen muss, weil sie verworren formuliert sind und ein ganzes Buch füllen. Die Quaderfiguren werden vertikal und horizontal bewegt, die Säulen ziehen diagonal, während die Pyramiden jede dieser Bewegungsarten beherrschen. Die Figuren nenne ich Wun, Kor und Stam – das sind reine Fantasienamen, bei denen man sich gar nichts denken muss. Wun heißen die Quader, Kor die Säulen, die Pyramiden Stam. Im Unterschied zum Schach dürfen die Figuren nicht rückwärts laufen. Man muss sich also genau überlegen, ob man es riskieren will, eine Figur in die Front oder sogar ins gegnerische Hinterland zu schieben. Wie bei Schach und Dame werden die Figuren gedeckt und geschlagen, aber sie können nicht verwandelt werden, indem man sie bis zur gegnerischen Grundlinie zieht. Tot ist tot; der Irrläufer kennt keine Wiedergänger ... So, diesen grauen Kor noch und den lila Stam; jetzt sind die Figuren komplett.«

»Bis auf den ... Irrrleuwerr.«

»Ja, langsam.« Georg sah, wie ihre grün manikürte Hand wieder an dem Zopf zerrte, der ihr schwer und schwarz über die Schulter floss. »Wenn man den dritten Spieler«, hörte er sich sagen, »und die Irrläufer-Figur zunächst einmal beiseite lässt, besteht das Ziel des Spiels ganz einfach darin, dass die lila und grauen Armeen sich gegenseitig vernichten.«

»Hm«, machte Francesca wieder.

»Am besten«, sagte er, »ich zitiere einfach die Irrläufer-Regel Nummer sieben: Gesiegt hätte auch der Spieler, dem es gelänge, seinen Gegner so in die Enge zu drängen, dass dieser keinen Zug mehr ausführen kann, ohne gegen die Regeln zu verstoßen ... Jetzt also zum dritten Spieler und zur Irrläufer-Figur.«

Der Irrläufer steckte in einem Extrafutteral auf dem Kofferboden. Georg zog ihn heraus und umschloss die rostrote, scheinbar pochende Säule mit der linken Hand, ehe er den Irrläufer auf sein Startfeld am linken Spielfeldrand stellte. Vor dem Irrläufer schraubte sich der spiralförmige Pfad ins Zentrum des Spielplans.

»Aber«, rief Francesca, »er sieht äntsätzlich aus!«

Erschrocken starrte sie den Irrläufer an, aus dessen Stirn ein graues, weit aufgerissenes Zyklopenauge schwoll. Sein Leib war ein gedrungener, gliederloser Rumpf, und sein Mund, der einer stilisierten Ohrmuschel glich, schien lautlos zu schreien, indem er angespannt horchte.

»Das ist eine großartige Skulptur«, murmelte Francesca. Sie nahm den Irrläufer vom Startfeld und führte ihn mit zwei Fingern so dicht vor ihr Gesicht, als ob sie hineinbeißen wollte. »Das muss unbedingt Sergio sehen, verstehen Sie – Bertoni, mein serr, serr guter Frreund. Selbst wenn Ihre Spielidee ein völliges Fiasko wäre, Giorgio – als Plastiker sind Sie eine Offenbarung.«

»Ach, tatsächlich?«, fauchte Georg. Ihm selbst war nicht klar, weshalb er sich über Francescas Reaktion ärgerte. Irgendwie klang es, als ob sie das Spiel für kindisches Zeug hielt und ihn erst jetzt ernst zu nehmen begann, da er angeblich eine plastische Begabung hatte. Außerdem erinnerte ihn dieser Ausdruck an die plastische Chirurgie, auf die sein Vater sich nebenher spezialisiert hatte – er knetete den Leuten ihre krummen Nasen weg, zerrte zerknitterte Gesichter glatt und schüttete flüssigen Kunststoff in die schlaff hängenden Brüste alternder Frauen. Mit einer brüsken Geste nahm er Francesca den Irrläufer aus der Hand und setzte ihn zurück auf sein Startfeld.

»Dieses Auge«, murmelte Francesca. »Finden Sie nicht, dass der Irrläufer ein wenig unserem Ng’dugbai ähnelt?« Sie deutete auf das Plakat über ihren Köpfen.

»Nein, überhaupt nicht«, sagte Georg schnell. »Übrigens ist der Irrläufer mehr oder weniger ein reiner Glücksspieler. Er wird mit diesem Würfelpaar bewegt, während die lila und grauen Armeen einzig nach logischen und strategischen Regeln geführt werden. Der Irrläufer muss versuchen, auf seinem Pfad bis zum Ende der Spirale oder bis ins Zentrum des Spielplans vorzudringen. Aber sein Weg führt mitten durch das Schlachtfeld der lila und grauen Armeen. Und da er genauso wie alle anderen Figuren geschlagen werden kann, hat er scheinbar keine Chance. Schauen Sie her.«

Er schüttelte das Würfelpaar in der Hand und ließ es auf die Spielplanmitte fallen, wobei sein Handrücken versehentlich über Francescas Wange streifte. Die Würfel zeigten eine Eins und eine Zwei.

»Oh«, hauchte Francesca.

»Wahrscheinlich wundern Sie sich über diese Würfel«, behauptete Georg. »Sie sind halb blind – die Würfel, meine ich –, da sie auf keiner Seite mehr als zwei Augen zeigen. Mit jedem Zug bewegt sich also der Irrläufer um wenigstens zwei und höchstens vier Felder auf seinem Pfad voran. Da der Pfad aus achtundvierzig Feldern besteht, braucht er mindestens zwölf Züge, um ins Zentrum zu kommen. Übrigens kann er als einzige Figur auch rückwärts ziehen. Aber sehen Sie selbst – der Irrläufer wandert jetzt eins – zwei – drei Felder weit auf seinem Pfad. Völlig ungeschützt steht er da. Jeder der beiden anderen Spieler könnte ihn schlagen, ohne dass der Irrläufer selbst auch nur die zaghafteste Gegenwehr leisten könnte. Wenn beispielsweise dieser graue Stam sich auf das Irrläufer-Feld wälzt, scheidet der Irrläufer aus, und die beiden anderen Spieler ziehen alleine weiter.«

Er zeigte ihr, welche Pyramide er meinte, aber aufblickend sah er, dass Francesca ihm abwesend ins Gesicht starrte und den Irrläufer fast vergessen zu haben schien.

»Was ich nicht verstehe«, murmelte sie, »warum ziehen Sie nicht diese Jacke aus?«

Verwirrt senkte er den Blick und wollte sofort vom Irrläufer weiterreden. Plötzlich fühlte er ihre kühlen Finger, die ihm das feuchte Haar aus der Stirn streiften. Unter Stirn und Schläfen klopfte der nervöse Schmerz.

»Sie sind sonderbar, Georg.«

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn also der Spieler, der die grauen Figuren führt, nennen wir ihn Spieler A, den Irrläufer herausschlägt, dann gibt er sich vor seinem eigentlichen Gegenspieler eine Blöße, die schon spielentscheidend sein kann. Denn jetzt steht seine Pyramide ungeschützt da wie vorher der Irrläufer. Spieler B, der die lila Figuren führt, ist am Zug und kann sie ungestraft herausschlagen. Der Witz des Spiels ist also kurz gesagt der: Da beide Hauptspieler versuchen müssen, den Irrläufer auszuschalten, ehe er sein Zielfeld erreicht, sind sie in dieser Hinsicht zwangsweise verbündet. Aber sowie ihr Bündnis seinen Zweck erfüllt hat, bricht es auseinander, und der Spieler, der für die scheinbar gemeinsame Sache ein Opfer gebracht hat, wird vom anderen zur Belohnung aufgefressen.«

Francesca nickte langsam. Ihre rechte Hand, sehr klein und bleich, umklammerte den Zopf, der ihr zerzaust über die linke Schulter hing.

»Der Irrläufer selbst ist wehrlos«, sagte Georg, »und niemand glaubt im Ernst, dass er eine Chance hätte. Anfangs wird er von den anderen Spielern kaum beachtet; sie sind sicher, ihn irgendwann nebenher erledigen zu können, und natürlich hofft jeder, dass der andere ihm diese lästige Arbeit abnehmen wird. Aber während A und B sich gegenseitig belauern und bekämpfen, schleicht der Irrläufer auf seinem Pfad voran.«

Er nahm den Irrläufer in die Hand und ließ den plumpen Rumpf tänzelnde Schritte auf der rostroten Spirale vollführen. Sein graues Zyklopenauge stierte ins Leere, während sein Mund lautlos schrie, indem er angespannt horchte. Georg hatte der Spielbeschreibung eine Art Motto vorangestellt, das er während der Arbeit am Irrläufer geträumt hatte: In die Mauern aus schweigendem Hass bricht die Angst eine fast unsichtbare Lücke, durch die mit einigem Glück der Irrläufer schlüpft ...

»Obwohl beide den Irrläufer hassen und verachten«, sagte er zu Francesca, »zwingt er immer einen der Spieler, ihn vor dem anderen zu beschützen. Und falls einer ihn schließlich doch schlägt, wird der andere ihn rächen, obwohl dieser andere ebenso entschlossen war, den Irrläufer zu vernichten. Natürlich gewinnt der Irrläufer nicht mechanisch jede Partie. Aber wenn er geschickt zieht und einigermaßen Würfelglück hat, besitzt er zumindest eine reelle Chance, als scheinbar wehrloser Einzelner zwei hochgerüstete Armeen zu überlisten. Wenn er gegen jede Wahrscheinlichkeit und zur wütenden Verblüffung der Gegenspieler sein Zielfeld erreicht, werden alle anderen Figuren abgeräumt, und er allein bleibt im Zentrum des Spielplans stehen.«

Als er Francescas trübes Lächeln bemerkte, stand er auf und wich zwei Schritte ins Zimmer zurück. Er zündete sich eine Gitane an und spürte, dass er zu frösteln begann, obwohl es im Zimmer zweifellos immer noch drückend schwül war. Auch das Frösteln kündigte die neue Schläfenschmerzattacke an, die spätestens morgen mit ganzer Wucht über ihn hereinbrechen würde.

Schräg unter ihm kniete Francesca vor dem Tischchen mit dem Spiel. Nun tauchte sie langsam hoch und kam auf ihn zu, wobei sie immer noch fast verlegen lächelte. »Eigentlich«, sagte sie leise, »ist das ein sehr trauriges Spiel. Geben Sie mir eine Zigarette, Georg? Und seien Sie mir nicht böse – wegen gar nichts, ja?«

Und nachdem er ihr das Gitanes-Päckchen gereicht hatte: »Wenn wir Ihrem Irrrleuwerr auch in der wirklichen Welt zum Sieg verhelfen wollen, müssen wir jeden Schritt sorgfältig planen. Bis das Spiel auf den Markt kommt, werden Monate vergehen. In dieser Zeit werden wir uns häufig sehen, weil es immer wieder tausend Details zu besprechen gibt. Es ist also sehr wichtig, dass wir uns verstehen und halbwegs miteinander zurechtkommen. Da in der Agentur hauptsächlich ich für die Betreuung unserer Künstler zuständig bin, werden Sie sehr viel mehr mit mir als mit Stefan zu tun haben. Glauben Sie, dass wir miteinander auskommen können, Giorgio?«

Sie hatte so ernsthaft geredet, dass er sich plötzlich wieder bedrückt fühlte. Da er das Geld nicht hatte, das der Irrläufer in der wirklichen Welt brauchen würde, kam er sich wie ein Hochstapler vor, der sich Francescas Zuneigung und Zeit erschlichen hatte. Er versuchte seine Befangenheit aufzusprengen, indem er mit dem Rauch ein halbes Lachen ausstieß. »Natürlich können wir klarkommen«, murmelte er.

Francesca nickte sichtlich erfreut. »Wenn Sie wollen, sprechen wir jetzt über den Vertrag, den Stefan vorbereitet hat.«

Als er wieder auf der Couch saß, fröstelte er so heftig, dass er fast mit den Zähnen klapperte. Unter der Jacke klebte sein Hemd auf Rücken und Brust, und der Schmerz in seinen Schläfen begann schon verhalten zu hacken. Der Vater von Margot Klaußen, seiner Kindheits- und Ewigkeitsfreundin, der als leitender Nervenarzt in derselben Klinik wie Georgs Vater arbeitete und in der Villa neben seinen Eltern lebte, hatte den nervösen Kopfschmerz diagnostiziert und behauptet, der Schmerz würde sich spätestens mit dem Ende der Pubertät verflüchtigen. Aber da Georg in knapp zwei Wochen einundzwanzig wurde, konnte von Pubertät kaum noch die Rede sein.

»... wir uns mit der Gundlach-Kampagne schon einen gewissen Namen gemacht haben, brauchen wir für Ihren Irrrleuwerr nicht mehr so aufwendig zu werben wie für das Geheimgang-Spiel. Ihr Irrrleuwerr kriecht sozusagen durch den Geheimgang, den wir schon vorher gebohrt haben.«

Aufblickend sah Georg, dass Francesca wieder hinter dem Schreibtisch saß; die Brille verdeckte zur Hälfte ihr Gesicht. Während sie redete, blätterte sie in irgendwelchen Papieren. Der Ventilator schleuderte schneidend kalte Luftwellen durch den Raum.

»Wer wie Sie«, fuhr sie lachend fort, »schon gleich in seinem ersten Brief kategorisch verfügt, jedes Exemplar Ihres Spiels müsse manuell und aus echtem Marmara-Marmor hergestellt werden, der muss allerdings damit rechnen, dass ihm zunächst mal gewaltige Produktionskosten entstehen. Aber glücklicherweise sind Sie ja auf raschen Gewinn nicht angewiesen.«

»Nein«, murmelte Georg, »natürlich nicht.«

»Wie Stefan überschlägig errechnet hat ...«

Mit halb geschlossenen Augen fixierte er den rotierenden Ventilator, der scheinbar sich bauschende Schatten durch den Raum warf. Als ihm schwindlig wurde, drehte er den Kopf zur Seite und tastete nach seinen Schläfen.

»... möglicherweise da und dort ein wenig kürzen und geizen, aber unter zweihunderttausend Franken können wir die Kosten unmöglich drücken. Und falls Sie wünschen, dass Sergio – dass Bertoni den Irrrleuwerr noch künstlerisch überarbeitet ...«

Natürlich, wollte Georg einwerfen, obwohl er kaum begriff, wovon sie redete. In diesem Moment warf sich der Schmerz wie ein wütendes Tier von innen gegen seine Schädelwand und bohrte seine Krallen mit aller Kraft in Georgs Schläfen. Er schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte auf.

»Giorgio«, hörte er Francescas erschrockene Stimme, »was ist los mit Ihnen?«

»Nichts, gar nichts. Es ist alles ... wunderbar.«

»Wunderbar? Aber Sie sehen aus wie ein Gäspänst!«

Zwei-, dreimal war es vorgekommen, dass er unter dem Anbranden der ersten, höhnisch heulenden Schmerzwelle das Bewusstsein verlor. Leuchtfarbene Schatten flatterten ihm vor den Augen, und in seinem Kopf schwankte sirenenhaft ein lang gezogener Schrei. »Die Tabletten«, murmelte er, »in meiner Tasche – das Hermaton.«

Da er halb geahnt hatte, dass sich eine neue Attacke anbahnte, hatte er vorhin die Pillen eingesteckt, die schnell wirkten und zumindest die wütendsten Schmerzen betäubten. Blindlings tastete er über seine Jacke; aber er spürte, er würde es nicht mehr schaffen. Seine Hand schlüpfte in die Jackentasche, dann sackten die Bilder weg, und Georg stürzte in ein schwarzes, saugendes Schweigen.





2

Als er zu sich kam, lag er lang hingestreckt auf der Couch, und in seinen Schläfen hackte der Schmerz. Francesca kauerte neben ihm auf dem betonfarbenen Holzboden. Sie hatte ihm Schuhe und Jacke abgestreift und sogar das Hemd bis zum Gürtel aufgeknöpft. Mit der linken Hand massierte sie seine Herzgegend, während sie den Medikamentenzettel aus der Hermaton-Packung in der Rechten hielt.

»Alles okay«, murmelte er. »Bitte lassen Sie das doch.« Er versuchte, ihre Hand wegzuschieben, die unter dem dürftigen Erste-Hilfe-Vorwand an ihm herumknetete. »Sie sollen mich in Ruhe lassen! Geben Sie mir die Tabletten.«

»Aber Sie waren ohnmächtig! Ich musste doch versuchen ...« Zögernd zog sie ihre Hand zurück und griff nach der Medikamentenpackung, die neben ihr auf dem Boden lag. »Wie viele nehmen Sie davon?«

»Zwei.« Wenn er die Augen schloss, glaubte er deutlich zu sehen, wie der Schmerz – ein länglicher, schwarzer Schatten – eine Art Spaten in seine Schläfe stach und die Grabschaufel langsam im Halbkreis drehte. Er richtete sich halb auf, nahm die Pillen von Francescas Hand und spülte sie mit einem Schluck Grand Marnier herunter.

»Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich erschrocken habe, Giorgio. Haben Sie denn öfter solche Anfälle?«

Georg nickte behutsam, wobei ihr grünbleiches Gesicht und das ganze Zimmer wie vor einer Unterwasserkamera hoch- und zurückschwappten.

»Natürlich werde ich Sie jetzt nicht länger mit diesen Zahlen quälen. Über den Vertrag können wir ebenso gut morgen oder nächste Woche reden, wenn Sie sich besser fühlen. Vielleicht sollte ich einen Arzt ...«

»Aber nein«, murmelte Georg. In zehn Minuten würde die Wirkung der Pillen einsetzen. Sie halfen nicht wirklich gegen den Schmerz, aber sie überdeckten ihn wenigstens, sodass man nicht dauernd zusehen musste, wie er sich, einem rasend gewordenen Maulwurf ähnlich, in Schläfen und Hinterkopf bohrte. »Gleich bin ich wieder okay«, sagte er mit festerer Stimme. »Diese Anfälle – das ist einfach eine Art Migräne, an der ich seit einigen Jahren leide. Alle paar Monate stürzen die Schmerzen auf mich los, um mich zwei oder drei Tage zu malträtieren und dann genauso überraschend wieder zu verschwinden. Wie lange war ich denn weg?«

»Ach, nur ganz wänige Minuten«, sagte Francesca mit einem Lächeln. »Sie brauchen sich überhaupt nicht zu gänieren, Georg. Aber stellen Sie sich vor, als ich Ihr Herz suchte, konnte ich es zuerst nicht finden, obwohl ich ...«

Da sie sich unterbrach, überlegte Georg unbehaglich, was auf ihr obwohl hätte folgen sollen. Als er spürte, dass die Hermaton-Wirkung einsetzte, stand er vorsichtig auf und zog die Sachen über, die Francesca ihm abgestreift hatte.

»Wenn Sie noch Zeit haben«, sagte er, »würde ich gern noch den Vertrag sehen.«

»Natürlich habe ich Zeit. Ich wäre eine schlechte Geschäftsfrau, wenn ich einen Kunden überreden wollte, unseren Vertrag lieber morgen als heute zu unterschreiben.«

Vom Unterschreiben hatte er nichts gesagt. Offenbar nahm sie an, dass er es ziemlich eilig hatte, den Irrläufer auf seinen Weg in die wirkliche Welt zu schicken. Aber wenn er sich Bedenkzeit ausbat, konnte sie nicht gut nein sagen.

»Sie sehen immer noch bleich aus, Georg. Hier ist der Värtrack.« Sie reichte ihm das Dokument, das aus drei ineinander gefalteten Bögen bestand. In der linken Hand hielt sie einen Füllfederhalter bereit, und ihre Stimme klang plötzlich drängend. »Es steht lediglich drin, was wir besprochen haben. Sie ermächtigen uns pauschal, Ihre Interessen in dem genannten Projekt zu vertreten, und Sie verpflichten sich, alle anfallenden Kosten zu tragen. Unser Honorar beträgt zwanzig Prozent des investierten Kapitals. Wir verpflichten uns im Gegenzug, Herstellung, Vertrieb und Werbung zu organisieren, jeden Schritt mit Ihnen abzustimmen und alle uns verfügbaren Möglichkeiten zu nützen, die Ihrem Projekt und Produkt zum Erfolg verhelfen könnten.«

Zögernd nahm er den Vertrag in die Hand. Was Francesca eben gesagt hatte, dachte er, klang in der Tat reichlich pauschal – selbst wenn die zweihunderttausend Franken in seiner Jackentasche steckten, hätte er sich das Recht genommen, den Vertrag wenigstens zu lesen, ehe er die Vollmacht unterschrieb. »Ich muss das erst durchsehen«, sagte er.

»Natürlich. Wie lange brauchen Sie? Zwanzig Minuten? Ich könnte aus dem Zimmer gehen; Sie wären ganz ungestört.«

»Ja«, sagte er, obwohl er nein meinte. »Ich hatte gehofft, dass ich schon heute alles perfekt machen könnte. Aber mein Kopf, verstehen Sie – ich bin jetzt nicht in der Lage, alles in Ruhe durchzulesen. Da Sie selbst sagten, dass es auf einen Tag kaum ankommt, will ich den Vertrag erst einmal mit nach Hause nehmen. Und sobald mein Kopf wieder klar ist ...«

»Wie Sie meinen, Georg.« Francesca trippelte zum Schreibtisch und blätterte im Terminkalender. »Wie wäre es mit morgen fünfzehn Uhr dreißig? Wenn Sie mir dann den Vertrag vorbeibringen, können wir sofort die nächsten Schritte besprechen. Auch Härtel müsste bis dahin aus New York zurück sein.«

Georg ging zu seinem Koffer, legte den Vertrag hinein und fing an, das Irrläufer-Spiel einzupacken. Ohne sich umzuwenden, sagte er leise: »Ich dachte nicht an einen Tag Bedenkzeit, Francesca, eher an – sagen wir – vierzehn.«

»Zwei Wochen?«, rief sie. »Was soll das bedeuten? Erst drängen Sie uns brieflich zur Eile, als ob das Wohl der Welt von diesem Spiel abhinge, und nachdem wir praktisch über Nacht Expertisen und Marktanalysen besorgt haben, kommt es Ihnen auf ein paar Wochen nicht mehr an? Wie soll ich das verstehen? Hat Ihnen in letzter Minute noch irgendwer ein besseres Angebot gemacht?«

»Aber nein«, murmelte Georg. Auf die Idee, dass er sich wegen der Kosten sorgte, kam sie offenbar immer noch nicht. Er schob die Irrläufer-Figur ins Futteral, klappte den Koffer zu und richtete sich schwankend auf. Hinter dem chemischen Schleier der Hermaton-Pillen grub und wühlte der Schläfenschmerz. Er würde ein Taxi nehmen und sich zu Hause sofort ins Bett legen. In den nächsten Tagen würde er zu nichts zu gebrauchen sein.

»Also was ist dann der Grund?«, fauchte Francesca. Sie lehnte am Schreibtisch und schwenkte anklagend ihren Terminkalender. Wieder sah Georg, dass ihre spitz vorstechenden Brüste unter dem schwarzen Kleid zitterten, als ob auch ihr Körper sich über ihn empörte. Dass er krank war und sie angeblich sogar um sein Leben gefürchtet hatte, schien aus ihrer Erinnerung schon gelöscht zu sein.

»Ich muss erst mit meinen Eltern sprechen. Schließlich ist es ihr Geld, und natürlich will mein Vater wissen ...« Georg selbst war erstaunt, als er sich die Wahrheit sagen hörte. Er hätte ihr irgendetwas auftischen können – dass er sich beispielsweise mit einem Freund beraten wollte, der erst in einigen Tagen nach Zürich kam. Aber falls sein Vater sich nicht überreden ließ, war es sowieso egal, mit welcher Begründung er das Irrläufer-Projekt zum Platzen brachte.

»Sie selbst haben also gar kein Geld?« Francesca starrte ihn fast erschrocken an.

»Jedenfalls keine zweihunderttausend«, sagte Georg. »Aber ich bin sicher ...« Er hoffte halb, dass sie ihn wieder unterbrechen würde, aber sie ließ ihn weiterreden. »Ich bin sicher, mein Vater gibt mir das Geld«, hörte er seine zögernde Stimme. Im Moment war er fast sicher, dass sein Vater den Irrläufer-Vertrag höhnisch lachend vor seinen Augen zerreißen würde.

Von Francesca kam eine Art Schnaufen. »Ihnen ist offenbar nicht klar, dass wir seit der Gundlach-Kampagne mit Anfragen wie Ihrer regelrecht überschwemmt werden. Und obwohl Sinking Ihren Entwurf in den Himmel lobt, könnten wir uns entschließen ...«

»Spätestens morgen schreibe ich meinen Eltern«, sagte Georg schnell. »Ich schicke ihnen eine Kopie des Vertrages und diesen Welt-Bericht über das Gundlach-Modell, und sowie mein Vater sich von der Seriosität des Projektes überzeugt hat ...«

»Ihre Eltern wissen also noch nichts von der ganzen Sache? Das darf doch einfach nicht wahr sein!«, rief Francesca. Sie schien wirklich bestürzt zu sein und fing wieder an, rhythmisch an ihrem Zopf zu zerren. »Wie stellen Sie sich das denn vor – wenn Ihre Eltern sich weigern, Ihnen das Geld zur Verfügung zu stellen?«

Georg zuckte mit den Schultern. »Dann wird eben vorläufig nichts aus dem Irrläufer«, sagte er. »Für mich wäre das ziemlich traurig, aber für Sie? Ich verstehe wirklich nicht, weshalb Sie sich derart erregen, Francesca. Schließlich haben Sie mir vorhin erklärt, dass Härtel & Rossi auf meinen Auftrag nicht angewiesen sind.«

»Glücklicherweise nicht. So naiv wie Sie kann ein Mensch doch gar nicht sein! Natürlich können Sie den Vertrag wegschmeißen, wenn Sie das Geld nicht zusammenbekommen. Aber eines darf ich Ihnen versichern – falls wir in vierzehn Tagen nicht den unterzeichneten Vertrag vorliegen haben, schicken wir Ihnen eine Rechnung, die Sie zweifellos nicht einfach wegschmeißen können.«

»Was für eine Rechnung?«

Erschöpft sah er zu, wie Francesca nach dem grauen Schnellhefter griff. Sie blätterte ihn auf und beugte sich über die Bögen. »Ihre aktuelle Schuld«, sagte sie, »beträgt ungefähr ... lassen Sie mich überschlagen ... dreitausend für Sinkings Expertise ... dann hat Stefan die Marktanalyse ausgearbeitet ... dazu kommt der vorläufige Produktionsplan ... das Werbungskonzept ... kleinere Posten ganz außer Acht gelassen ... Also ich würde schätzen«, sagte sie aufblickend, »wenn Sie sich in diesem Stadium aus dem Projekt zurückziehen wollen, müssten Sie eine Schuld von circa elf- oder zwölftausend begleichen.«

»Zwölftausend Franken?«

»Natürlich keine Lira, Sie Kindskopf. Als ich vorhin sagte, Sie seien sonderbar, habe ich wohl noch einigermaßen untertrieben. In welcher Welt leben Sie denn eigentlich? Und wohnen dort noch mehr Leute von ihrer Sorte?«

Höchstens noch Alex, dachte er. Die Erinnerung an Alex gab ihm Kraft, ein schiefes Lächeln überzustülpen. »Lassen wir doch den Unsinn«, sagte er. »Natürlich treibe ich die zweihunderttausend auf. Spätestens in zwei Wochen liegt der Vertrag hier auf Ihrem Tisch, und dann versäumen wir keine Sekunde mehr und stürzen uns in die Kampagne.«

Während dieser Worte ging er langsam zur Tür. Im Augenwinkel sah er, wie Francesca hinter ihm herkam, wobei sie wieder an ihrem Zopf herumzerrte. Auf der Schwelle schlüpfte sie an ihm vorbei und führte ihn ohne ein weiteres Wort zur Etagentür. »Wir sehen uns dann«, sagte Georg.

Francesca nickte. Georg wechselte seinen Koffer, dessen Gewicht sich durch den Vertrag bedeutend vermehrt zu haben schien, in die linke Hand und rumpelte mit der Liftkabine durch die gläserne Röhre zurück auf den Bleicherweg.







Zwanzig Minuten später winkte er ein Taxi heran. »Fahren Sie mich zu einem Postamt«, sagte er zum Chauffeur. Auf einer öffentlichen Bank sitzend, seinen Koffer auf den Knien, hatte er fast noch unter den Fenstern von Härtel & Rossi den Brief an seinen Vater geschrieben. Während das Taxi im Kolonnenverkehr durch den Bleicherweg kroch, überlas er den Bogen, den seine gedrängte Schrift kaum zur Hälfte füllte.



Zürich, im Mai 1987

Lieber Papa, fast zwei Jahre haben wir uns weder gesprochen noch gesehen, aber ich denke, Mama zeigt Dir meine Briefe. Dass ich Dir heute schreibe, hat einen besonderen Grund. Ich muss Dich bitten, mir eine Summe von zweihunderttausend Franken kurzfristig zur Verfügung zu stellen. Ich denke, wir können dies einfach als Vorauszahlung auf mein künftiges Erbe ansehen; aber die Details überlasse ich völlig Dir. Den beiliegenden Papieren kannst Du entnehmen, dass ich mit dem Betrag eine glänzende Karriere begründen will und dass praktisch nichts schiefgehen kann.

Aus alldem siehst Du auch, dass ich recht hatte, Euch vor fast zwei Jahren zu verlassen und meinen eigenen Weg zu gehen. Dass ich Euch auch im letzten Jahr, seit ich in Zürich lebe, nicht einmal besuchsweise sehen wollte, kam vor allem Mama vielleicht hart und fast rätselhaft vor; aber es war nötig. Ich brauchte das eben – Abstand und Alleinsein, ich brauchte es für die Spiele, die praktisch mein Leben sind.

Der Irrläufer-Vertrag bedeutet meinen wirklichen Durchbruch, von dem ich immer geträumt und für den ich hart gearbeitet habe. Das Weitere liegt jetzt bei Dir.

Antworte bitte rasch und grüße Mama. Euer Georg



Er legte den Bogen neben sich auf die Taxibank, klappte seinen Koffer auf und zog den Vertrag und ein großes Briefkuvert hervor. In einem Fach im Kofferdeckel steckte ein März-Exemplar der Welt des Spiels. Er schob alles in das Kuvert, das er sorgfältig verschloss und an die elterliche Villa adressierte. Dann fiel ihm ein, dass er den Vertrag nicht einmal flüchtig durchgelesen hatte. Egal, dachte er erschöpft – mochte sein Vater sich durch das Paragrafengehölz kämpfen.

»Postamt Engi«, schnarrte der Chauffeur.

»Warten Sie einen Augenblick.« Georg sprang aus dem Wagen und stürmte in die schmale Halle. Bei jedem Schritt buddelte in seinen Schläfen der Schmerz.

Vor der gläsernen Wand lehnend sah er zu, wie der Schaltermann seinen mit Marken und Eilt!-Stempeln gepflasterten Brief in einen Metallschlitz fütterte. Irgendwie erinnerte ihn der Schlitz an die dünnen, farblosen Lippen seines Vaters – gespannt starrte er darauf, als rechnete er allen Ernstes damit, dass der Stahlschlund den Brief zu zermalmen begann oder einfach wieder ausspuckte. Als er merkte, dass er immer noch den Schlitz fixierte, wandte er sich ab und ging zurück zum Taxichauffeur, der ihn die rauschende Sihl entlang zu seinem Mietshaus chauffierte. Wenn er die Augen schloss, schien der Fluss durch seinen Kopf zu rauschen, und die braune Gischt zerspritzte an seinen Schläfen.



Andreas Gößling, geboren 1958 in Gelnhausen.



Der promovierte Literatur- und Kommunikationswissenschafter beschäftigt sich seit vielen Jahren mit kultur- und mythengeschichtlichen Themen. Neben Romanen für erwachsene und junge Leser hat er zahlreiche Sachbücher publiziert und Forschungsreisen unter anderem im karibischen und südostasiatischen Raum unternommen. Andreas Gößling lebt mit seiner Frau, der Autorin und Sprachdozentin Anne Löhr-Gößling, bei Berlin.



1977-1986 Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Publizistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

1984-1986 Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes.

1986 Promotion mit s.c.l.-Dissertation über Thomas Bernhards Romane zum Dr. phil.

Anschließend Postdoktorandenstipendium der Deutschen Forschungsgesellschaft für ein dreijähriges Forschungsprojekt über Robert Walsers Romane, das einen dreimonatigen Arbeitsaufenthalt am Robert-Walser-Archiv in Zürich einschloss.



Literaturwissenschaftliche Buchpublikationen u.a. über Werke von Thomas Bernhard, Jean Paul und Robert Walser.



Romane u.a.: Die Maya-Priesterin (Eichborn 2001, Edition Marbuelis 2020), Im Tempel des Regengottes (Eichborn 2003, Edition Marbuelis 2020), Der Alchimist von Krumau (Eichborn 2004), Faust, der Magier (Aufbau 2007, Edition Marbuelis 2020), Der Ruf der Schlange (Klett-Cotta 2010), Wolfswut (Droemer Knaur 2018), Drosselbrut (Droemer Knaur 2019), Rattenflut (Droemer Knaur 2020), Bernsteingrab (überarb. Neuausgabe, Edition Marbuelis 2020), Der Irrläufer (überarb. Neuaugabe, Edition Marbuelis 2020), Dunkler Tanz (überarb. Neuausgabe, Edition Marbuelis 2020)



Romane für jugendliche Leser u.a.: Tzapalil (Arena 2005), Der Sohn des Alchimisten (Arena 2007), Die Dämonenpforte (Bertelsmann cbt 2009), Opus I+II (Boje 2010)



Sachbücher u.a.: Drachenwelten (Piper 2003), Voodoo (Knaur 2004, Edition Marbuelis 2020), Freimaurer (Knaur 2007), Die Männlichkeitslücke - Warum wir uns um die Jungs kümmern müssen (zs debatten 2008)



Weitere Infos: www.andreas-goessling.de

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  • Autor find_in_page Andreas Gößling
  • Autoreninformationen Andreas Gößling, geboren 1958 in Gelnhausen. Der promovierte… open_in_new Mehr erfahren
  • Verlag find_in_page MayaMedia Verlag
  • Seitenzahl 560
  • Veröffentlichung 29.07.2020
  • ISBN 9783944488493

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