Der verschenkte Leutnant
In "Der verschenkte Leutnant" von Friedrich Wolf taucht der Leser in eine packende Episode aus dem Ersten Weltkrieg ein. Im Sommer 1915, zwischen Reims und Chalons, trifft eine deutsche Pionierkompanie auf eine unerwartete Herausforderung. Eine mysteriöse Bedrohung und eine waghalsige Mission führen zu einer ungewöhnlichen Begegnung zwischen deutschen und französischen Soldaten. Diese zeitlose Erzählung beleuchtet den absurden Heldenmut und außerdem die überraschende Menschlichkeit, die sich selbst im Krieg finden lässt. Es ist eine bewegende Geschichte von Mut, Opferbereitschaft und der Sehnsucht nach Frieden.
Im heißen Sommer 1915 schienen nun in der „Lausechampagne“ alle Brunnen zerstört oder ausgetrocknet, nur ein Brunnen in diesem Abschnitt hatte reichlich Wasser, und der befand sich eben in jenem Dorf St-Souplet in der Richtung des „Eisenbahngeschützes“. Dort zwischen den Linien trafen sich im Morgengrauen die Wasserholer – die deutschen und französischen –, nachdem sie ihre Waffen vorher abgestellt hatten.
Noch in der Nacht schlossen sich der Patrouillenführer der Infanterie und der Pionierunteroffizier den Wasserholern zu einer Erkundung an. Man hielt, während die Sterne am dunkelgrünen Sommerhimmel strahlten, durch die Drahtverhaugassen im Niemandsland scharf auf den zerschossenen Kirchturm des Dorfes. Die Begleitmannschaft der Wasserholer setzte am östlichen Dorfrand die Gewehre zusammen; auch die beiden Unteroffiziere legten die Waffen ab. Dann ging es mit betont lautem Geklapper der Kochgeschirre und Wasserkannen zwischen den bleichen Dorfruinen zum Kirchplatz.
„Halt! – Kameraden? Franzuski?“
Lauschen.
„Qui est là? Camarade allemand? Les armes à terre! Sauerkraut nix gut! Camarade allemand gut!“
Nach diesen Formalitäten kamen unter friedlichem Geklapper der Kochgeschirre von beiden Seiten des Kirchplatzes graue Gestalten aus dem Zwielicht der Sterne, gaben einander die Hände, tauschten Tabak, Zucker, Schokolade und begannen ihre Gefäße am Brunnen zu füllen.
„Was nun?“, fragte der Pionierunteroffizier.
„Warte!“ Der Kollege von der Infanterie sprach mit einem von den Poilus; der nahm einen andern Franzosen beiseite; dann gingen die deutschen Unteroffiziere mit den beiden Franzosen zusammen etwas abseits in den Chor der zerschossenen Kirche. Sie saßen dort nieder auf den Stufen zur Sakristei und berieten. Punkt eins: Es gab nach Wissen der französischen Soldaten gar kein Eisenbahngeschütz, sondern nur weit hinten in der Festung Chalons einbetonierte schwere Langrohrgeschütze mit Versenk-Lafetten. Punkt zwei: Es war ein heller Wahnsinn, mit Stoßtrupps dorthin einen Durchbruch zu versuchen. Punkt drei: Musste man wirklich einem solchen wilden Unfug nur einen einzigen Soldaten opfern? Aber – Befehl ist Befehl! Das verstanden auch die Franzosen.
Die vier saßen schweigend in dem Kirchenchor, von dessen Wandpaneel junge heilige Frauen in bunten Gewändern und bärtige Märtyrer aus Gips auf die ratlosen Soldaten herniederschauten.
Plötzlich ertönte eine Stimme, die eines jungen pausbäckigen französischen Soldaten, der zu den vieren niedergehockt war: „Camarades, könnt ihr mir nicht euren Leutnant schenken, s’il vous plait?“
„Tu es fou!“, will ihn der ältere Poilu beiseite schieben.
„Den Leutnant schenken?“, fragt der Pionierunteroffizier.
„Naturellement, bitte!“ Er hat aus seiner Brusttasche einen Umschlag gezogen, nimmt einen Brief heraus und ein Foto; dann knipst er eine kleine Taschenlampe an: auf dem Foto erscheint im engen Kreis des Lämpchens das erstaunte Gesicht eines dicken Säuglings mit zwei lustigen Froschaugen, unverkennbar der Nachkomme des pausbäckigen Soldaten. „Ein halbes Jahr ist er schon alt, und ich habe ihn noch nicht gesehen, le petit coco; werde ich ihn überhaupt sehen?“
Schweigen. Über den Soldaten in der Kirchenruine beginnt sich der grüne Himmel rosa zu färben. Draußen klappern schon wieder die mit frischem Wasser gefüllten Kochgeschirre.
„Und der Leutnant?“, meint der Pionierunteroffizier.
„Wenn wir einen Leutnant von euch fangen, bekommen wir zwei Wochen Urlaub, und ich kann meinen kleinen Coco sehn – o là là, was für kluge Augen er hat!“ Ganz verliebt betrachtet er den froschäugigen Säugling. „Uns allen ist geholfen; ihr seid den Leutnant los, der euch in den Tod schickt, und auch für ihn ist der Krieg zu Ende! D’accord?“
Was gibt es da lange zu überlegen? In der Kirche, durch deren nicht vorhandenes Dach ein kaum erwachter Morgen lächelt, während draußen die Männer von hüben und drüben die Kochgeschirre mit klarem Wasser füllen und jetzt der junge französische Soldat bis über beide Ohren strahlt vor dem kommenden Glück, sein Söhnchen in den Armen zu halten – nirgends hier nur ein Hauch von Feind, Handgranate, „Eisenbahngeschütz“ und Tod.
„D’accord, wir werden euch den Leutnant schenken, wenn er uns noch einmal in den Tod jagen will!“
Friedrich Wolf (* 23. Dezember 1888 in Neuwied; † 5. Oktober 1953 in Lehnitz) war ein deutscher Arzt, Schriftsteller und Dramatiker, der sich besonders durch seine politische und literarische Arbeit einen Namen machte.
Friedrich Wolf wurde als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. Er studierte von 1907 bis 1912 Medizin, Philosophie und Kunstgeschichte in verschiedenen deutschen Städten und promovierte 1913 in Medizin. Während des Ersten Weltkriegs diente er als Truppenarzt und entwickelte sich zum entschiedenen Kriegsgegner. Nach dem Krieg engagierte er sich politisch und wurde Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats in Dresden.
Wolf war ab 1928 Mitglied der KPD und verfasste zahlreiche politisch engagierte Werke. Sein bekanntestes Drama, "Cyankali" (1929), prangerte das Abtreibungsverbot des § 218 an und löste eine breite gesellschaftliche Debatte aus. Neben seiner literarischen Tätigkeit arbeitete er als Arzt und engagierte sich für die Rechte der Arbeiterklasse.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte Wolf 1933 in die Sowjetunion, wo er weiterhin literarisch aktiv war und für Radio Moskau arbeitete. Während des Spanischen Bürgerkriegs versuchte er, als Arzt an den Internationalen Brigaden teilzunehmen, blieb aber in Frankreich. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er in Frankreich interniert, konnte jedoch 1941 mit sowjetischer Hilfe nach Moskau zurückkehren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Wolf nach Deutschland zurück und engagierte sich in der DDR kulturpolitisch. Er war Mitbegründer der DEFA und der Deutschen Akademie der Künste. Zudem diente er von 1949 bis 1951 als erster Botschafter der DDR in Polen. Friedrich Wolf starb 1953 an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin beigesetzt.
Wolf hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk, das durch seinen politischen und sozialen Einsatz geprägt ist. Seine Söhne Markus und Konrad Wolf setzten sein Erbe als bedeutende Persönlichkeiten der DDR fort.
Staatliche Auszeichnungen
1943: Orden Roter Stern
1949: Nationalpreis der DDR II. Klasse für das Theaterstück Professor Mamlock
1950: Nationalpreis der DDR I. Klasse für den Film Rat der Götter.
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- Artikel-Nr.: SW9783689120467458270
- Artikelnummer SW9783689120467458270
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Autor
Friedrich Wolf
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 16
- Veröffentlichung 01.08.2024
- ISBN 9783689120467
- Wasserzeichen ja