Nebel

Kriminalroman

„Wer mit Sprengstoff hantiert, der fliegt leicht selber in die Luft", hatte der Schriftsteller Richard Nebel kurz vor seinem plötzlichen Tod zu dem Kriminalisten Wendt gesagt. Hatte er da vielleicht auch an den Stoff für seinen geplanten Politthriller gedacht? Dann hätte ihm das Wissen um die Gefahr allerdings wenig genützt. Christian Wendt jedenfalls hat Zweifel an einem Unfalltod Nebels und mit einem Mal den Verdacht, dass in dem Land, dem er mit Leib und Seele dient, das staatlich organisierte Verbrechen längst eine feste Größe ist. Christian Wendt, mit Leib und Seele Polizist, schließt ein Verbrechen nicht aus und gerät bei... alles anzeigen expand_more

„Wer mit Sprengstoff hantiert, der fliegt leicht selber in die Luft", hatte der Schriftsteller Richard Nebel kurz vor seinem plötzlichen Tod zu dem Kriminalisten Wendt gesagt. Hatte er da vielleicht auch an den Stoff für seinen geplanten Politthriller gedacht? Dann hätte ihm das Wissen um die Gefahr allerdings wenig genützt. Christian Wendt jedenfalls hat Zweifel an einem Unfalltod Nebels und mit einem Mal den Verdacht, dass in dem Land, dem er mit Leib und Seele dient, das staatlich organisierte Verbrechen längst eine feste Größe ist.

Christian Wendt, mit Leib und Seele Polizist, schließt ein Verbrechen nicht aus und gerät bei dem Versuch, zwei Herren zu dienen - der Wahrheit und seinem »Staat« -, in ein Netz von Erpressung und Betrug, Lüge und Mord, von Bestechung und Angst und schließlich in die Fänge jener Organisation, der womöglich auch Nebel zu nahe gekommen ist.

Das erstmals 1991 veröffentlichte Buch (das zweite über Kriminalkommissar Wendt) war das erste, dass die 1989/1990er Ereignisse in der DDR noch einmal hautnah miterleben lässt, in der von Wolfgang Schreyer gewöhnten Spannung und Detailtreue.



Es tut elend weh, kein Blut in den Händen, die immer schwerer werden. Versuche, die Finger zu bewegen! Gut, dass es hell wird. Fast alle anderen sind in Jeans, du bist die Ausnahme, das reizt den Kerl. Schon wieder sein Knüppel glatt poliert im Nacken, am Rückgrat abwärts, vor die Brust getippt und nun höhnisch unters Kinn. Das zeigt deutlicher als Worte, du musst parieren, er genießt es, dir turmhoch überlegen zu sein. Ihn freut das erbärmliche Stück Macht, weil er selber sonst kuschen muss.

Und die Pöbelei der Übrigen, wenn der Trupp sich nähert: »Pisser, Penner, Assis ...« - »Stehen, bis sie weich sind.« -»Wer abrutscht, darf noch mal.« - »Meine steht gut im Schuh.« - »Die Fotze da ist auch hübsch zäh.« (Es klingt, als schließe man Wetten ab.) »Haben uns aufhängen wollen, ehj.« - »Dem stehen wohl die Zähne zu eng?« - »Wenn der Fisimatenten macht, schlag ihm die Scheiße aus dem Leib.« - »Der Arsch von der Firma macht wieder Terror.« - »Madam, woher das Pflaster? Was gehst du mit der Figur auch auf die Straße? Das kannst du bei uns leichter haben.« - »Wer nicht spurt, kriegt 'ne Abreibung.« - »Die machen wir fertig, gleich wird man sie sprinten sehen« - »Das mussten die jedes Wochenende kriegen.« - »Und zwar einzeln, individuell.« - »Bis denen das Wasser im Arsch kocht.«

Landsknechte, denkt Jenny. Die Zeiten der Ketzerjagd. Unglaublich, dass diese Typen zur Schule gegangen sind. Das also hat der Sozialismus auch hervorgebracht. Plötzlich nichts mehr. Sie sind weggeschlurft; weiter. Ihr Ton ist ätzend, empörend das ganze Betragen, die Behandlung hier, selbst wenn man ihnen zugutehält, dass sie seit Tagen Bereitschaft haben und nach ihren Reden kaum aus der Uniform gekommen sind. So darf ein Mann nicht verludern, auch wenn er glaubt, im Bürgerkrieg zu sein. So benimmt sich kein Polizist, einerlei, was man ihm erzählt haben mag über die Opposition. Es sei denn, seine Oberen peilen die chinesische Lösung an und geben ihm grünes Licht, den Freibrief für Niederträchtigkeit im Vorfeld des Himmlischen Friedens.

Das Zerren im Unterleib nimmt zu, der Druck auf die Blase wächst. Als der Bewacher hinter ihr vorbeistreift, sagt sie: »Ich halt's nicht mehr aus ...«

»Beleg mich nicht von der Seite.«

»Ich muss mal.« Es klingt wie im Kindergarten.

»Schon wieder? Hochziehen und ausspucken!«

»Verzeihung, aber es ist unerträglich.«

»Pissnelken seid ihr. Schwitz es durch die Rippen.«

»Bitte, es geht nicht mehr.« Nur Betteln kann ihn erweichen.

Endlich sagt er: »Na ja. ich bin kein Unmensch. Los, hock dich hin, mach Pipi.«

Sie kauert nieder, fühlt erst Erleichterung, dann Scham. Es macht sie so wahnsinnig klein, ihr Kopf auf der Höhe seines Schritts, gebieterisch steht er vor ihr, dürfte zehn Jahre jünger sein.

»So human sind wir«, sagt er. »Verdient hast du's nicht, du Schnepfe. Ihr wolltet uns fertigmachen, ja? Nun aber Schluss. Hose hoch, in Fliegerstellung! Nutz meine gute Laune nicht aus zum Schummeln. Einen Meter weg von der Wand und Botten auseinander ...« Die alte Litanei. Mit dem Stock korrigiert er ihre Haltung.

Jenny bebt vor Kälte, vor Wut, vor Angst, es nicht länger durchzustehen. Die Hände kribbeln, die Arme schlafen ihr ein, es zuckt in der Wade, ein Krampf kündigt sich an. Sie verringert den Abstand der Füße, rückt der Wand heimlich näher, legt die Handflächen auf, um den Muskelschmerz zu mindern. Sie muss es schaffen, wer schlappmacht, den prügeln sie hoch.

Das hat sie seit Mitternacht gelernt: Widerstand ist Warten, Schlottern, Quälerei in wechselnden Gängen und Höfen, ist Hundegebell, Hunger und Durst; nicht mal das Nötigste geben sie dir. Sich engagieren heißt hierzulande, kaum zu ahnen, wo du bist und was sich rings um dich tut. In Lastwagen durch die Stadt zu rumpeln, auf der Suche nach Zellen, nach Haftmöglichkeit und Vernehmungskapazität in überquellenden Revieren. Opponieren heißt, dich auf Kommando zu entkleiden, unter Aufsicht zur Toilette zu gehen, wenn überhaupt, und es bei offener Tür zu tun. Aufrechter Gang, das sind Spaliere prügelnder Bullen, Spießrutenlauf an jeder neuen Station, hechelnde Köter und die Furcht vor ihren Bissen. Menschliche Würde, das ist der Laufschritt treppauf, treppab, getrieben durch Knüppel, falls du zu langsam bist, Tritte in die Waden ... Viehauftrieb, gehetzt von Rufen wie »kommste-kommste«, »Mensch-Mensch-Mensch« und »Tempo, du Gurke, oder ich mach' dir Beine! So was Lahmes wie du braucht wohl nen Tritt in den Arsch!«.



Wolfgang Schreyer, geboren 1927 in Magdeburg. Oberschule, Flakhelfer, Soldat, US-Kriegsgefangenschaft bis 1946. Debütierte mit dem Kriminalroman "Großgarage Südwest" (1952), seitdem freischaffend, lebt in Ahrenshoop. 1956 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis für den Kriegsroman "Unternehmen Thunderstorm". Schreyer zählt zu den produktivsten und erfolgreichsten Autoren spannender Unterhaltungsliteratur in der DDR, schrieb Sachbücher, Szenarien für Funk und mehr als zwanzig Romane mit einer Gesamtauflage von 6 Millionen Exemplaren.

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