Letzter Auftritt der Komparsen

Novelle

Ja, der Krambach. Ein Mensch unter uns. Als er seine Chance erhält, will er es ihnen zeigen, seinem kühl kalkulierenden Chef und den Zauderern und Vorsichtigen, denen er begegnet. Und zwar mit einer großen menschlichen Komödie. Was aber geschieht, ist eher tragisch zu nennen. Es ereignet sich nicht auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sondern in einem seltsamen Dorf, gleich nebenan, und widerfährt Menschen unmittelbar neben uns. Sie leben im Ausnahmezustand, denn der Tagebau rückt Stunde um Stunde näher. Er wird ihrem Bleiben am angestammten Platz ein sicheres Ende setzen. Ihm sehen sie entgegen, wie man in die Tiefe der Zeit schaut. Und ihre... alles anzeigen expand_more

Ja, der Krambach. Ein Mensch unter uns. Als er seine Chance erhält, will er es ihnen zeigen, seinem kühl kalkulierenden Chef und den Zauderern und Vorsichtigen, denen er begegnet. Und zwar mit einer großen menschlichen Komödie. Was aber geschieht, ist eher tragisch zu nennen. Es ereignet sich nicht auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sondern in einem seltsamen Dorf, gleich nebenan, und widerfährt Menschen unmittelbar neben uns. Sie leben im Ausnahmezustand, denn der Tagebau rückt Stunde um Stunde näher. Er wird ihrem Bleiben am angestammten Platz ein sicheres Ende setzen. Ihm sehen sie entgegen, wie man in die Tiefe der Zeit schaut. Und ihre Aufmerksamkeit ist abgelenkt, gerade in jenen Augenblicken, in denen ein Kind ihrer bedarf. Ihm ist mit halber Aufmerksamkeit und mit Proklamationen nicht zu helfen, es benötigt die sorgende Hand, die ohne Hintergedanken und ganz aus dem Gefühl für die kreatürliche Not des anderen gereicht wird. Sie kommt zu spät. — Dass Krambach sein Stück nie schreiben wird, ist das kleinere Übel. Er hat auf der Bühne des Lebens versagt.



»Er ist bis jetzt noch nicht gekommen«, sagte sie. Und aus dem Klang ihrer Stimme ließ sich schließen, was die Augen noch unvollkommen spiegeln konnten. Sie war beunruhigt.

»Er wird gesucht«, sagte ich.

Die Eitelkeit des Mehrwissers mischte sich dabei mit dem Bedürfnis, dieses großäugige Gesicht, in dem immer noch ein Rest von Schrecken darüber lebte, dass sich die Welt nicht nach Märchenschlüssen richtete, länger genießen zu können.

»Zu Hause war er auch nicht.«

»Sein Glück«, sagte ich leichthin, »wenn er schlau ist ...!«

»Aber er ist nicht schlau. Und er wird Hunger haben. Ich versteh nicht, warum er nicht kommt. Essen muss er doch was.«

»Das nehm ich auf mich«, räumte ich generös ein. »Ich hab ihn gestern verjagt.«

»Aber irgendwas muss doch unternommen werden! Er kann doch nicht dort draußen bleiben.«

»Sie werden ihn schon finden.«

»Nein«, rief sie, »finden dürfen sie ihn nicht. Das geht nicht gut.«

Sie war wirklich ein schönes Mädchen und imstande, es zu vergessen, wenn sie erregt war. So griff sie nun mit der Hand über sich in die Vorhangfalte, eine Bewegung, der sie sich nicht bewusst war und die doch den Körper aufs Angenehmste spannte.

Ich kam dem Ruck, mit dem sie die Vorstellung beenden würde, zuvor, indem ich sagte:

»Vorschlag zur Güte: Wir suchen ihn. Du und ich. Gleich wenn du hier dichtgemacht hast.«

Das Du ergab sich wie von selbst; sie reagierte nicht anders, als wäre es zwischen uns schon seit Kindertagen üblich. Sie kam gleich zum Wesentlichen.

»Und wo sollen wir suchen?«

»Das weiß ich auch noch nicht. Aber wir haben schließlich den Vorteil, einiges von ihm zu wissen. Du das eine, ich das andere. Legen wir’s zusammen! Auf diese Art ist man schon manchem auf die Schliche gekommen.«

Ich beobachtete mit Genugtuung, wie die helle Aufregung in ihren Augen einer Art Bewunderung Platz machte. Nach Lage der Dinge konnte sie nur einem gewissen Krambach gelten, der gewöhnlich in Sorge war, ob der Bart sein biederes Gesicht vorteilhaft verlängere. Sollten es am Ende unbegründete Sorgen sein?

Gundels Hand ließ den Vorhang los. Sie benötigte ihren Mittelfinger, um nachdenklich an der Unterlippe zu zupfen. Schließlich blitzte das schiere Vergnügen über die Verschwörung aus ihren Augen.

»Gut«, flüsterte sie, »ich mach den Laden heut eher zu. Spätestens drei viertel drei.«

Nun schlug sie den Vorhang zurück und gab den Blick in den nüchtern hellen Verkaufsraum frei.

Die murrende Menge beruhigte sich, je näher sie in den Bannkreis der natürlichen Anmut kam. Nur wer mich in Augenschein nahm, der blieb noch dem Grimm verhaftet. Mich störte es wenig. Mit einer solchen Verabredung in der Tasche hätte ich ganz andere Spießrutenläufe gewagt.



Joachim Nowotny entstammt einer Arbeiterfamilie. Er absolvierte eine Lehre als Zimmermann und arbeitete in diesem Beruf. 1954 legte er an einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät die Reifeprüfung ab und studierte anschließend bis 1958 Germanistik an der Universität Leipzig. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Verlagslektor. Seit 1962 lebt er als freier Schriftsteller in Leipzig. Von 1967 bis 1982 wirkte er als Dozent am dortigen Literaturinstitut Johannes R. Becher.

Joachim Nowotny ist Verfasser von Erzählungen, Romanen, Hör- und Fernsehspielen. Den Schwerpunkt seines Werkes bilden Kinder- und Jugendbücher; thematisch ist er eng mit seiner Heimatregion, der Lausitz, verbunden. Nowotny behandelte als einer der ersten DDR-Autoren am Beispiel des Lausitzer Braunkohle-Tagebaus Themen wie Landschafts- und Umweltzerstörung.

Joachim Nowotny ist seit 1990 Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller.

Auszeichnungen:

1971 Alex-Wedding-Preis,

1977 Heinrich-Mann-Preis

1979 Nationalpreis der DDR (II. Klasse für Kunst und Literatur)

1986 Kunstpreis des FDGB.

Bibliografie (Auswahl)

Hochwasser im Dorf, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1963

Jagd in Kaupitz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1964

Hexenfeuer, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1965

Jakob läßt mich sitzen, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1965

Labyrinth ohne Schrecken, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1967

Der Riese im Paradies, Der Kinderbuchverlag, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1969

Sonntag unter Leuten, Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) 1971

Ein gewisser Robel, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1976

Die Gudrunsage, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1976

Ein seltener Fall von Liebe, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1978

Abschiedsdisco, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1981

Letzter Auftritt der Komparsen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1981

Die Äpfel der Jugend, Aufbau Verlag, Berlin 1983

Ein Lächeln für Zacharias, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1983

Der erfundene Traum und andere Geschichten, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1984

Schäfers Stunde, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1985

Der Popanz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1986

Wo der Wassermann wohnt, Domowina Verlag, Bautzen 1988 (zusammen mit Gerald Große)

Adebar und Kunigunde, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1990

Als ich Gundas Löwe war, Faber & Faber, Leipzig 2001

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