Sonntag unter Leuten

Erzählungen

Weshalb schreibt Nowotny Geschichten? „Wir wollen, dass unser Jemand die Sache genau so sieht, wie wir sie sehen. Dass er sie so riecht und schmeckt und fühlt, dass sich seine Haltung dazu von der Unsrigen nicht unterscheidet. Und in dem Augenblick, in dem wir begreifen, dass unsere geläufige Sprache diese Übereinstimmung nicht herzustellen imstande ist, beginnen wir zu erzählen. Wir erzählen eine Geschichte. Die Geschichte, in der die Sache verborgen ist, aber nicht endgültig, sondern dergestalt, dass sie beim Erzählen zutage tritt. Verstehe, sagt plötzlich unser Jemand. Genau das ist es, was diese Erzählungen heraushebt. Sie kommen... alles anzeigen expand_more

Weshalb schreibt Nowotny Geschichten? „Wir wollen, dass unser Jemand die Sache genau so sieht, wie wir sie sehen. Dass er sie so riecht und schmeckt und fühlt, dass sich seine Haltung dazu von der Unsrigen nicht unterscheidet. Und in dem Augenblick, in dem wir begreifen, dass unsere geläufige Sprache diese Übereinstimmung nicht herzustellen imstande ist, beginnen wir zu erzählen. Wir erzählen eine Geschichte. Die Geschichte, in der die Sache verborgen ist, aber nicht endgültig, sondern dergestalt, dass sie beim Erzählen zutage tritt. Verstehe, sagt plötzlich unser Jemand. Genau das ist es, was diese Erzählungen heraushebt. Sie kommen einem nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Was der Dichter sagen will, steckt in den Geschichten drin. Und was für Geschichten!

Bekommt da etwa der ehemalige zweite Bäcker Herr Rademann vom Arzt Arbeit an frischer Luft verschrieben und wird beim Bau einer Betonstraße eingesetzt. Ausgerechnet da streikt die so dringend benötigte Planierraupe, und es muss mit der Handdampframme weitergearbeitet werden. Bregula, Jule Bucht und Jauernicks Leo wollen sich einen Spaß machen, wohl auch ihren Ärger über die defekte Planierraupe auslassen und stellen den ehemaligen zweiten Bäcker an die Ramme, und diese zieht mit Herrn Rademann durch die Lausitzer Landschaft wie das Pferd mit dem kutscherlosen Wagen. Da wird der Leser ebenso lachen wie Jule Bucht und Jauernicks Leo. Aber Herr Rademann lernt das Untier, die „Tonne“, beherrschen und setzt sie schließlich so genau auf Jule Buchts Stiefelsohlenspitze, dass dem das Lachen im Halse stecken bleibt.

„Geschichten machen sich immer gut“, meint Joachim Nowotny, „sie sind passiert, und keiner kann gegen sie an.“



INHALT:

Malepartus

Stimme aus der Schonung

Sonntag unter Leuten

Grog von Rum

Weiter war nichts

Greta Heckenrose

Petrik auf Pirsch

Abenteuer ziemlich weit oben

Wind in den Bäumen

Der kleine Riese

Ein komisches Leben

Ordentliche Verhältnisse

Der glückselige Stragula

Hic sunt leones



Und wir bauten uns eine Sprungschanze ziemlich am Ende des Berges, die tauften wir dann Todesschanze. Als wir sie mit viel Geschrei eingeweiht hatten, merkten wir, dass sie nicht so hoch war. Der dicke Goy aber, der traute sich nicht. Leute, sagte er, wenn ich da drüber donnere, ich mit meinem Gewicht, ich flieg gleich bis Bautzen! Das war natürlich eine Ausrede, eine von der schlimmsten Sorte, hinter ihr wollte der dicke Goy seine Angst verstecken und doch gleichzeitig sagen: Guckt bloß mal an, was ich eigentlich für ein Kerl bin! Wir fielen freilich nicht drauf rein, sondern setzten dem Feigling ganz schön zu, wir verhöhnten ihn und versuchten es auch im Guten, schließlich schrien wir alle auf ihn los: Angsthase, Pfeffernase! und noch allerhand andere Sachen, die ich nicht wiederholen möchte. Der Goy jedenfalls bekam Wut, er schmiss die Stecken hin, packte sich den nächsten besten und warf ihn den Berg hinunter, dem zweiten gab er einen Stoß, dass er wie ein geölter Blitz ins winterstarre Dickicht schoss, dem dritten trat er auf die Skispitzen, dass es gleich knackte, auch mich wollte er packen und wegschleudern, aber ich kam ihm zuvor. Lass doch, sagte ich mit ganz normaler Stimme, ich verstehe dich ja. Da ließ er mich tatsächlich sein und starrte mich ungläubig an. Während die anderen mit sich selber zu tun hatten, Bindungen flickten, Beulen betasteten und Fäuste schwangen, redete ich auf den dicken Goy ein, als hätte ich einen störrischen Ziegenbock vor mir, der absolut nicht laufen will.

Sieh mal, sagte ich, das ist nun nicht jedermanns Sache, so ein Schanzenflug, da brauchst du dich nicht zu schämen, der eine macht das und der andere etwas anderes. Du springst vielleicht vom Zehnmeterturm in der Badeanstalt, und wenn nicht, dann ist das auch nicht schlimm, dann stemmst du vielleicht drei Zentner mit der linken Hand. Zu solchen Sachen wie Ski- und Turmspringen gehört nun einmal Mut, wer den nicht hat, der kann nichts dafür, der lässt das eben bleiben und geht hübsch beiseite, damit die anderen Platz haben, fertig. Aufregen würde ich mich jedenfalls an deiner Stelle nicht, da zeigst du ja bloß deinen Ärger darüber, dass du keinen Mut hast. Aber Mut ist schließlich nicht die Hauptsache, wenn einer Muskeln hat wie Eisen und mit einem Schlag zwei Vierzöller ins Holz treiben kann, was braucht er eigentlich Mut?

So und nicht anders habe ich auf den dicken Goy eingeredet, immer wieder und wieder, er hat freilich erst mit den Augen gerollt, dann aber doch wohl zugehört, vor allem, wenn das Wort Mut fiel. Und plötzlich hat er mich doch noch mit dem linken Ellenbogen zur Seite geschleudert, hat gebrüllt: Was denn, ich soll keinen Mut haben?, hat seine Skistöcke aufgerafft und Anlauf genommen. Es donnerte wie ein D-Zug, als er über die Piste ging, es zischte wie Wasser und Feuer, als er sich in die Lüfte erhob und sprang.

Bis Bautzen ist er freilich nicht ganz gekommen, aber der Hochspannungsmast da unten im Auslauf konnte sich gratulieren, dass er nicht gerade in Flugrichtung stand, denn sonst hätte er heut mindestens einen ordentlichen Knick.



Joachim Nowotny entstammt einer Arbeiterfamilie. Er absolvierte eine Lehre als Zimmermann und arbeitete in diesem Beruf. 1954 legte er an einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät die Reifeprüfung ab und studierte anschließend bis 1958 Germanistik an der Universität Leipzig. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Verlagslektor. Seit 1962 lebt er als freier Schriftsteller in Leipzig. Von 1967 bis 1982 wirkte er als Dozent am dortigen Literaturinstitut Johannes R. Becher.

Joachim Nowotny ist Verfasser von Erzählungen, Romanen, Hör- und Fernsehspielen. Den Schwerpunkt seines Werkes bilden Kinder- und Jugendbücher; thematisch ist er eng mit seiner Heimatregion, der Lausitz, verbunden. Nowotny behandelte als einer der ersten DDR-Autoren am Beispiel des Lausitzer Braunkohle-Tagebaus Themen wie Landschafts- und Umweltzerstörung.

Joachim Nowotny ist seit 1990 Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller.

Auszeichnungen:

1971 Alex-Wedding-Preis,

1977 Heinrich-Mann-Preis

1979 Nationalpreis der DDR (II. Klasse für Kunst und Literatur)

1986 Kunstpreis des FDGB.

Bibliografie (Auswahl)

Hochwasser im Dorf, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1963

Jagd in Kaupitz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1964

Hexenfeuer, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1965

Jakob läßt mich sitzen, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1965

Labyrinth ohne Schrecken, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1967

Der Riese im Paradies, Der Kinderbuchverlag, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1969

Sonntag unter Leuten, Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) 1971

Ein gewisser Robel, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1976

Die Gudrunsage, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1976

Ein seltener Fall von Liebe, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1978

Abschiedsdisco, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1981

Letzter Auftritt der Komparsen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1981

Die Äpfel der Jugend, Aufbau Verlag, Berlin 1983

Ein Lächeln für Zacharias, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1983

Der erfundene Traum und andere Geschichten, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1984

Schäfers Stunde, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1985

Der Popanz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1986

Wo der Wassermann wohnt, Domowina Verlag, Bautzen 1988 (zusammen mit Gerald Große)

Adebar und Kunigunde, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1990

Als ich Gundas Löwe war, Faber & Faber, Leipzig 2001

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