Gambit
Drei Erzählungen
Ungewöhnliches geschieht da in der Titelerzählung dieses Bandes: Ein Vater versteckt seinen Sohn gegen dessen Willen in den letzten Kriegstagen in den Wäldern, um ihn vor dem Zugriff des nahenden Krieges zu retten, und der Sohn hasst deshalb seinen Vater. Gambit - das Figurenopfer im Schachspiel - wird zu einem Symbol für diese erregenden Tage, denn der Vater muss die Versäumnisse seines bisherigen Lebens mit dem Tod bezahlen. Aber das Opfer war nicht umsonst, denn der Sohn beginnt zu fragen, nach den Leuten, die ihnen das Essen herausstellten und damit nach seiner Zukunft. Diese Erzählung hat die DEFA 1978 unter dem Titel „Ich zwing dich zu leben“ verfilmt (Regisseur Ralf Kirsten).
Auch in den beiden anderen Geschichten dieses Bandes geht es um das Problem der Erziehung und Selbsterziehung, freilich unter nunmehr neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten. So gewinnt ein Heimkehrer Vertrauen zu sich und zu seiner Welt, weil es ihm gelingt, das Vertrauen eines Kindes zu gewinnen. Und das Kind befreit sich vom Albdruck böser Erfahrungen. Mitten in der DDR-Zeit spielt die dritte Erzählung, in der die Kündigung einer Lehrerin zum Anlass für Überlegungen und Handlungen wird, die die schwierige Aufgabe des Lehrers heute bestimmen. Das Fernsehen der DDR brachte hierzu 1983 den viel diskutierten Film „Die Kündigung“ heraus (Regisseur Edgar Kaufmann).
Karl Sewart erweist sich in diesem Band als ein erstaunlich reifer, psychologisch eindringlicher Erzähler, der künstlerisch originelle und zwingende Lösungen zu finden weiß und vor allem: Er hat Geschichten zu erzählen, die uns bewegen und verändern können.
INHALT:
Gambit
Heimkehr eines Rades
Die Kündigung
Gambit
Heimkehr eines Rades
Die Kündigung
Dahinten irgendwo sein Sohn in der Erde. Da vorn irgendwo seine Frau zu Haus, im Bett, in der Frauenschaftsversammlung oder in der Luftschutzbelehrung, weil sie nicht allein sein konnte abends, zu Hause, im Bett. Sie war nie imstande, zu begreifen, wie man aufbleiben konnte, um zu lesen, zu lernen, sie war von Kind auf zeitig zu Bett gegangen, hatte es auch von ihm erwartet, gefordert, erzwungen. Er hatte erklärt, sie getrotzt, gekeift, gejammert. Er hatte seine immer knapper werdende Zeit nicht mit Gezänk vergeuden wollen, musste haushalten mit seinen Kräften, sich für die Zukunft rüsten, sich für den Jungen schonen - wusste er jetzt. Er war mit ihr schlafen gegangen, heimlich wieder aufgestanden, hatte sein nächtliches, eigentliches Leben geführt, so, wie er sich daran gewöhnt hatte, alles Eigentliche heimlich zu tun - ein verkehrtes, von Grund auf falsches Leben, weil es nicht erkämpft worden war, weil es nichts geändert hatte, weil es genauso gewesen war, als hätte er es nicht gelebt, erkannte er jetzt. Seltsam: Gerade in diesen Tagen, da besinnliche Versenkung in die Urgründe des Ichs und der Welt nicht mehr möglich war, weil die Befriedigung der primitivsten Notdürfte fast alle Kräfte des Tages und der Nacht verbrauchte, gerade jetzt sah er die Welt und sich selbst in immer klareren Konturen, so, wie nun im sinkenden Tag die Gebilde des Waldes deutlicher, eigentlicher hervortraten als unter helllichtem Himmel. Das war wie ein Wettlauf zwischen dieser Welt, die dahinten hinterm Wald ihrem Untergang entgegenraste und ihn mit hinabreißen wollte, und seinem wachsenden Vermögen, die Welt zu erkennen. Er hatte sich einen Vorsprung erkämpft. Würde er ihn halten können, wenn er, zum Waldmenschen, Waldläufer geworden, das Feld, das Dorf betrat? Es war ein ungleicher Kampf da draußen, und es konnte ihm ergehen wie jenem Riesen, der seine Kräfte einbüßte, wenn er die Berührung mit der Erde verlor.
Die Wege, die Anlage des Waldes kannte er besser als irgendein Holzfäller. Mit Büchern, mit Malzeug, mit dem Pilzkorb war er hier seit fünfundzwanzig Jahren aus- und eingegangen. Und er kannte das Dorf. Wer die Kinder kennt, kennt die Leute, kennt die Häuser. Es musste ein abgelegener Hof sein, auf dem es keinen Bauern gab und keinen Hund. Er blieb stehen mitten im Schritt: Wenn ihm etwas geschah, so plötzlich geschah, dass er kein Wort mehr sagen konnte! Der Junge dahinten musste elend verhungern. Er eilte in die nächste Lichtung, zog sein Notizbuch, skizzierte im letzten Schein des Tages die Lage des Verstecks, gab durch Pfeile und die Nummern der Abteilungen den Weg an, schrieb darunter: „Da liegt der Junge, gefesselt, unter grünen Ästen. Er hat nichts zu essen.“ Pfeil zum Versteck. Schonung 46.
Schon lag das stumpf schimmernde Band der Landstraße vor ihm, die schwarze Erde in zwei Teile trennend, in den schützenden Wald, aus dem er kam, und das nackte Feld, das er betreten musste. Drinnen war es still gewesen, nur ein sanftes Wispern in den Wipfeln, hier fegte ein schneidender Wind stoßweise das Randgesträuch, junge, verkrüppelte Eichen, denen der Winter ihr ockerfarbenes Laub nicht hatte entreißen können. Ihn schauerte durch und durch, er schrak ein paar Mal unter dem Rascheln der Blätter zusammen, wartete, bis seine Ohren die veränderte Geräuschkulisse zu durchdringen und zu sondieren vermochten. „... Nacht und Wind ... In dürren Blättern säuselt der Wind ...“ Da war wieder dieses Summen, diese Melodie, in ihm, er sah die Landstraße unter dem grauen Märzenhimmel, den grauen Zug, die lange, gebeugte Gestalt, die kleinere führend, den grauen Blick ... Da kam ihm jäh die Vermutung, diese Melodie, dieses kaum hörbare Summen könne ein letzter Hilferuf, eine wichtige Parole gewesen sein, und er, dazu ausersehen, sie zu vernehmen, zu verstehen, weiterzugeben, zu helfen, hatte in der grauen Stumpfheit dieser Tage versagt. Er war allein, abgeschnitten von jeder Möglichkeit, Hilfe zu leisten, Hilfe zu empfangen. Unter ihm lag das Dorf. Matter Schieferglanz, kaum zu unterscheiden von den schwarzen Feldern ringsum. Kein Licht, kein Laut. In der Weihnachtszeit hatte er oft den abendlichen Anblick von hier oben aus genossen: ein Sack Sterne, ins weiche Tal gestreut, ein erzgebirgischer Weihnachtsberg in Überlebensgroße - und beim nächtlichen Schein des Schnees lyrische Kritzeleien aus Heimatliebe und Weltbürgersinn in sein ewiges Notizbuch. Ein ewiger Notizenmacher, Aphorismenschreiber war er gewesen. Über dem Dorf hatten bei frostklarer Luft die Lichternebel von Rautenbach, Kaltbrunn, Heinersdorf, Annaberg geflimmert. Sechs Jahre lang hatte er dieses Bild nicht gesehen. Kriegsweihnachten, verdunkelte Weihnachten, Kriegsbücher, Panzer, Stukas, ein neues Koppel mit Hakenkreuz, ein neues Braunhemd auf den Gabentisch eines jeden deutschen Jungen.
Kein Licht, kein Laut. Auch keine Sterne heut, das war gut. Ab und zu ein eiskalter Tropfen ins Gesicht. Er bog die Zweige zur Seite, huschte über die Straße. Vielleicht war alles schon zu Ende ohne Endkampf, ohne den letzten Blutstropfen. Und dieser Heckenschütze schob mit seinem Pimpf Kohldampf im Niemandsland dahinten. Doch dann hätte zu dieser Stunde das Dorf erleuchtet sein müssen.
Die Steine des ausgewaschenen Feldwegs klirrten unter seinen Füßen gegeneinander, er wechselte auf den Rand, ins nasse Gras, pirschte sich an die Scheune heran, schlich hinter das Wohnhaus, drückte sich in das starre Geäst des Holunderstrauchs, den er einst mit dem Jungen aquarelliert hatte, weiß blühend vor der schwarzbraunen Bretterwand. Dicht ans Fenster heran. Nur ein winziges Loch in der Verdunklung verriet, dass drin Licht brannte. Vom Kuhstall her das Geräusch des Wiederkäuens und müdes Kettengeklirr, ab und zu ein wohliges Brummen, ein Hauch warmer Stalldunst. Aus der Stube immer noch kein Ton. Keine Nachrichten, kein Wehrmachtsbericht - keine Bekanntgabe der Siegermächte. Er wusste durch den Jungen, dass sie einen Rundfunkempfänger hatten. Aufsatz: „Meine liebste Sendung“, von Heschke diktiert, auszuwerten im Sinne des totalen Krieges mit schriftlichem Bericht an den Rektor, der mit Gestapo-Offizieren auf die Jagd ging; er aber unterschlug, was den Jägern hätte als Spur dienen können; war es damals aus Mitleid mit dem Wild, aus dem instinktiven Trotz des an der Kompetenz seines Vorgesetzten zweifelnden biederen Beamten oder auch schon in der Vorahnung all der Unredlichkeit, all der Unrechtmäßigkeit, von der er später Nacht für Nacht hören, die er später sehen und an der eigenen Familie erfahren sollte.
Innen ging eine Tür. Die rasselnde Stimme des alten Kuhnert, sein Stock auf dem Fußboden: „Hertha, du musst was essen. Drei Tage geht das nun schon so.“ Aufschluchzen, die Bäuerin, dicht am Fenster. Der Stock auf der Diele. Eine Schranktür klinkte auf, Tellerklirren, Scheppern von Essgeschirr, Hantieren. Es stockte weiter heran, ein Teller wurde behutsam auf den Tisch gesetzt: „So. Denk an den Jungen, Hertha. Fritz, lang du auch zu.“
Stuhlbeine kratzten ein Stück Fußboden entlang.
„Und du, du musst auch essen“, die nasse Stimme der Frau.
„Ich brauch’ jetzt nichts“, der Alte.
Schluchzen. Stille.
„Na los, jetzt greifen alle zu!“, der Alte, barsch.
Ruhe, einmal ein leichtes Klirren des Tellers. Plötzliches Aufschluchzen der Frau. Stille.
„Waren die Aufgaben heut schwer?“, der Alte.
„Wir haben sie gar nicht erklärt gekriegt, nur auf, und drei Stunden sind ausgefallen.“
„Hast du noch nichts über den Grübler-Lehrer gehört? Was mit ihm ist?“
„Rektor Heschke hat gesagt, er wär’ überanstrengt gewesen, so was wie übergeschnappt, nicht richtig im Kopf.“
„So, so, vielleicht ist er auch nur vernünftig geworden. Wenn einer vernünftig ist, dann ist er nicht richtig im Kopf. Das passt zu allem noch dazu. Und erst haben sie verbreitet, er wär’ zu einem Sonderlehrgang abgezogen worden. Und sein Junge wär’ am selben Tag auf die Hitlerschule gekommen.“
„Manche denken, er hat sich irgendwo bei Leuten versteckt. Die Polizei hat bei Reuters und beim Kleinertbauer Haussuchung gemacht. Auch auswärts, in Rautenbach und in Heinersdorf, haben sie gesucht. Manche denken sogar, er will zu den Russen überlaufen. Der ,Himmelhund‘ hat eine Werwolfgruppe gegründet und will ihn fangen und abknallen, hat er gesagt. Vielleicht ist er auch draußen im Wald. Manche denken auch, er ist dem Wolfgang nachgemacht, um ihn nicht auf die Hitlerschule zu lassen.“
„Warum ist Herbert nicht übergelaufen“, die Frau, schluchzend.
Karl Sewart
Geboren 1933 in Annaberg. Vater Lehrer, Mutter Strumpfwirkerin. Aufgewachsen in Großolbersdorf/Erzgeb. Erste Schreibversuche Lyrik, Prosa. Oberschulbesuch in Zschopau, Abitur 1952.
Studium der Berufspädagogik und Naturwissenschaften in Gotha. Ausbildung zum Kunsterzieher in Erfurt. Lehrertätigkeit in Leuna, Merseburg, Großolbersdorf und Drebach.
Von 1970 bis 1973 Studium am Institut für Literatur "Joh. R. Becher" in Leipzig. Seitdem freiberuflicher Schriftsteller.
Förderpreis des Literaturinstituts und des Mitteldeutschen Verlages Halle 1972.
Auszeichnung mit dem Prädikat "Schönstes Buch des Jahres" 1978.
Literaturpreis des Messgerätewerks Zwönitz 1983.
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- Artikel-Nr.: SW9783863944414