Die Neigung

Roman

„Wie ist das mit der Schweigepflicht? Ich hab immer gedacht, sie bezieht sich auf das, was der Patient dem Arzt anvertraut. Gilt sie denn auch für das, was ein Arzt am Patienten versäumt?“ Die Frage und ihre Beantwortung im Interesse des Kranken ist ein Grundproblem in Uwe Bergers Roman DIE NEIGUNG. Der Kampf einer jungen Ärztin um gesittetes Verhalten in einem Krankenhaus, einem komplizierten Umfeld, führt zwei Menschen näher zusammen, die Ärztin Baum und den Fahrer Kusmin. Er bestärkt sie, gibt ihr Halt und Format. Der Unterschied in Bildung und Lebensgewohnheiten wird angesichts der Situation bedeutungslos. Das Problem der sozialen... alles anzeigen expand_more

„Wie ist das mit der Schweigepflicht? Ich hab immer gedacht, sie bezieht sich auf das, was der Patient dem Arzt anvertraut. Gilt sie denn auch für das, was ein Arzt am Patienten versäumt?“

Die Frage und ihre Beantwortung im Interesse des Kranken ist ein Grundproblem in Uwe Bergers Roman DIE NEIGUNG. Der Kampf einer jungen Ärztin um gesittetes Verhalten in einem Krankenhaus, einem komplizierten Umfeld, führt zwei Menschen näher zusammen, die Ärztin Baum und den Fahrer Kusmin. Er bestärkt sie, gibt ihr Halt und Format. Der Unterschied in Bildung und Lebensgewohnheiten wird angesichts der Situation bedeutungslos.

Das Problem der sozialen Unterschiede jedoch bleibt und führt in die jüngste Vergangenheit, in der es ebenfalls um engagiertes Denken und entschlossenes Handeln ging.

Das spannende Buch erschien erstmals 1984 im Aufbau-Berlag Berlin und Weimar.



LESEPROBE:

Soweit war ich, als mir der Zufall zu Hilfe kam. Vergeblich hatte ich versucht, mit den jungen Burschen meines Arbeitstrupps in Verbindung zu kommen. Ich behandelte sie gut, gönnte ihnen reichliche Pausen oder verschaffte ihnen eine Sonderration. Mit den wenigen Brocken Russisch, die ich gelernt hatte, kritisierte ich vorsichtig - um mich nicht selbst zu gefährden - die faschistische Praktik der Geiselmorde. „Krieg gegen Frauen und Kinder ist nicht gut“, sagte ich oder: „Nicht alle Deutschen sind so ...“ Sie verzogen keine Miene, sahen mich nur an und schwiegen. Da überraschte ich im Zimmer eines Vorgesetzten an einem Spätnachmittag, als ich ein Telefon zu reparieren hatte, eine junge Frau. Sie stand vornübergebeugt und schrieb ein Dokument ab. Erschrocken auffahrend starrte sie mich an.

„Lass mich erschießen, wenn du kannst“, sagte sie leise, in ziemlich gutem Deutsch, jedes Wort betonend. Langsam bewegte sie ihre Hand zur Bluse. Ich ahnte, was sie vorhatte, und packte sie am Arm.“

„Nicht! Ich tu dir nichts. Du kannst gehen.“

Wortlos und starr blickte sie mich an.

„Nimm mit, was du geschrieben hast!“

„Wie heißt du?“

„Robert Schlegel.“

Sie nahm ihren Zettel, besann sich, legte ihn wieder hin und fügte noch einige Notizen hinzu, dabei abwechselnd auf das Papier und auf mich schielend. Ihre Ruhe machte mich fassungslos.

„Beeil dich!“

Sie faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Bluse. Sorgfältig legte sie die Akte, der ihr Interesse gegolten hatte, in eine Mappe und packte die Mappe in eine Schublade. Dann streifte sie mich noch einmal mit einem Blick. Legte den Finger auf die Lippen



Soweit war ich, als mir der Zufall zu Hilfe kam. Vergeblich hatte ich versucht, mit den jungen Burschen meines Arbeitstrupps in Verbindung zu kommen. Ich behandelte sie gut, gönnte ihnen reichliche Pausen oder verschaffte ihnen eine Sonderration. Mit den wenigen Brocken Russisch, die ich gelernt hatte, kritisierte ich vorsichtig - um mich nicht selbst zu gefährden - die faschistische Praktik der Geiselmorde. „Krieg gegen Frauen und Kinder ist nicht gut“, sagte ich oder: „Nicht alle Deutschen sind so ...“ Sie verzogen keine Miene, sahen mich nur an und schwiegen. Da überraschte ich im Zimmer eines Vorgesetzten an einem Spätnachmittag, als ich ein Telefon zu reparieren hatte, eine junge Frau. Sie stand vornübergebeugt und schrieb ein Dokument ab. Erschrocken auffahrend starrte sie mich an.

„Lass mich erschießen, wenn du kannst“, sagte sie leise, in ziemlich gutem Deutsch, jedes Wort betonend. Langsam bewegte sie ihre Hand zur Bluse. Ich ahnte, was sie vorhatte, und packte sie am Arm.“

„Nicht! Ich tu dir nichts. Du kannst gehen.“

Wortlos und starr blickte sie mich an.

„Nimm mit, was du geschrieben hast!“

„Wie heißt du?“

„Robert Schlegel.“

Sie nahm ihren Zettel, besann sich, legte ihn wieder hin und fügte noch einige Notizen hinzu, dabei abwechselnd auf das Papier und auf mich schielend. Ihre Ruhe machte mich fassungslos.

„Beeil dich!“

Sie faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Bluse. Sorgfältig legte sie die Akte, der ihr Interesse gegolten hatte, in eine Mappe und packte die Mappe in eine Schublade. Dann streifte sie mich noch einmal mit einem Blick. Legte den Finger auf die Lippen und ging.

Die junge Frau hieß Nina. Sie arbeitete in der Kommandantur des Ortes als Reinigungskraft. Ich bewohnte dort mit einem anderen Unteroffizier ein Zimmer. Als dieser abberufen worden war, erschien Nina eines Nachmittags bei mir.

„Ich will mich bedanken“, sagte sie.

„Wofür?“

„Warum hast du es getan?“

„Ich hasse die Faschisten. Ich möchte zu euch kommen.“

„Was heißt: zu euch?“

„Zu den Partisanen.“

„Hör zu! Wir haben dich beobachtet. Ich glaube, dass du die Wahrheit sagst. Aber wenn du etwas gegen die Faschisten tun willst, dann sollst du hierbleiben und Informationen sammeln ...“

„Das ist gefährlich ...“ Die Worte rutschten mir heraus.

„Es ist Krieg“, antwortete sie, „wir haben ihn nicht gewollt. Gefährlich ist es, mit dir zu sprechen - du kannst ein Spitzel der Gestapo sein.“

„Ich dachte, du glaubst mir, Nina.“

„Ich glaube, und du musst beweisen.“

Daraufhin erklärte ich mich einverstanden. Wir berieten die Einzelheiten. Ich sollte versuchen, die Zielorte von Truppentransporten, den Zeitpunkt von Aktionen gegen die Partisanen und ähnliches herauszubekommen. Nina würde meine Kontaktperson sein. Wenn möglich, wollte sie in mein Zimmer kommen. Sie riet mir, zu den Mitgliedern meines Bautrupps allmählich unfreundlicher zu werden und schließlich so barsch zu sein, wie es sich für einen Okkupanten gehört, und überhaupt die größte Vorsicht walten zu lassen.

Nina gab mir die Hand und entfernte sich leise.

Da ich am Fernschreiber Dienst tun musste, gingen manche Befehle und Mitteilungen durch meine Hand, aus denen Schlüsse zu ziehen waren. Auch versuchte ich, das gute Verhältnis, das ich zu einigen Leuten der Kommandantur hatte, zu entwickeln. Da war der Bursche des Kommandanten, der Obergefreite Bechtold, der mir manchmal sein Herz ausschüttete, oder mein unmittelbarer Vorgesetzter, der Oberleutnant Dreyer, der den Schnaps liebte.

Bechtold, von Beruf Schneider, ein faltiger Vierziger, kam eines Abends zu mir und jammerte: „Mit Balthasar ist mal wieder kein Auskommen. Nichts mach ich ihm recht. Er brüllt bloß herum.“

Major Balthasar war der Ortskommandant.

„Was hat er denn?“, fragte ich.

„Der Streifzug gegen die Partisanen ist ins Leere gegangen. Und heute im Morgengrauen haben die die Brücke vor der Stadt mit drei Lastwagen darauf in die Luft gesprengt ... Hast du nicht die Detonation gehört?"

„Nein, Ich schlafe gut.“

„Die werden noch mal die Kommandantur hochjagen, hat der Major geschrien, und wir müssen durchgreifen, ganz egal wo und wie, die stecken alle unter einer Decke, und Bechtold beugte sich vor und flüsterte, „in der nächsten Woche wird ein großer Schlag geführt, mit einem Strafkommando, mit Panzern und Artillerie ..."

„Woher weißt denn du davon? Dich werden sie gerade einweihen!“

„Der Kommandeur war schon hier, und die haben alles beredet; man konnte es durch die Tür hören ..."



Uwe Berger wurde 1928 in Eschwege geboren. Seine Jugend verlebte er in Emden und Augsburg. Mit 15 Jahren war er Flakhelfer bei Berlin. Anfang 1945 meldete er sich, um nicht zur Waffen-SS gezogen zu

werden, freiwillig zur Kriegsmarine. Im selben Jahr wurde er vorzeitig aus britischer Gefangenschaft entlassen. Während seines Studiums in Berlin (Germanistik, Kunstwissenschaft) arbeitete er im Volk und Wissen Verlag. Bald darauf wurde er in den Aufbau-Verlag geholt. Wegen eines positiven Gutachtens zu Hanns Eisler („Johann Faustus") maßregelte ihn die SED. Ermutigt sah er sich von Friedrich Wolf und Jahre danach von dem Schriftsteller und späteren estnischen Staatspräsidenten Lennart Meri.

Literarisch bedeutsame Reisen nach Nordrussland (Nowgorod) und Mittelasien, nach Sibirien und anderen Ländern unternahm er mit seiner Frau und Gefährtin.

Er ist 2014 in Berlin verstorben.



Bibliografie

Lyrik und Prosa

Die Einwilligung. Sechs Erzählungen

Straße der Heimat. Gedichte

Der Dom in dir. Gedichte

Der Erde Herz. Gedichte

Hütten am Strom. Gedichte 1946-1961

Rote Sonne. Skizzen und Aufzeichnungen

Mittagsland. Gedichte. Aufbau-Verlag

Gesichter. Gedichte. Aufbau-Verlag

Die Chance der Lyrik. Aufsätze und Betrachtungen

Bilder der Verwandlung. Gedichte

Arbeitstage. Aus dem Tagebuch 1964-1972

Feuerstein. Gedichte. Auswahl und Nachwort von Armin Zeißler

Lächeln im Flug. Gedichte

Backsteintor und Spreewaldkahn. Märkische Landschaften

Nebelmeer und Wermutsteppe. Begegnungen

Zeitgericht (Gedichte 1946-1975)

Leise Worte. Gedichte

Der Schamanenstein. Menschen und Orte

Lächeln im Flug. Ausgewählte Gedichte (1946-1978; russisch)

Nur ein Augenblick. 99 Reiseskizzen

Auszug aus der Stille. Gedichte

Das Verhängnis oder Die Liebe des Paul Fleming (Roman)

Die Neigung. Roman

In deinen Augen dieses Widerscheinen. Gedichte

Woher und wohin. Aufsätze und Reden 1972-1984

Das Gespräch der Delphine. Tierverse

Weg in den Herbst

Traum des Orpheus. Liebesgedichte 1949-1984

Last und Leichtigkeit. Oden

Flammen oder Das Wort der Frau

Suche nach mehr. Roman. 1989-1991

Atem. Liebesgedichte und Grafiken

Räume. Verse und Bilder

Pfade hinaus

Wegworte. Gedichte und Zeichen

Kater-Vater. Sinngedichte

Den Granatapfel ehren, Hundert Gedichte 1946 - 1989

Du wirst sein. Gedichte und Zeichen

Vom Sinn. Nachlese

Ungesagtem lauschen. Aus dem Tagebuch der Jahre 2000 bis 2012

Suche nach mehr

Das Gespräch der Delfine und anderer Tiere

Ein Schiff fährt über Land. Ostfriesland und das Meer

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