Lindenstraße 28

„Weil ich endlich leben will, wie es mir gefällt!“, sagt Vera. Sie hat ihr Elternhaus verlassen, um der Enge sowie der Aufsicht ihrer uneinsichtigen Eltern zu entkommen, die fürchten, mit ihrer ‚aufmüpfigen’ Tochter unangenehm aufzufallen und dem eigenen Ansehen zu schaden. In einem abrissreifen Hinterhaus der Kleinstadt findet Vera Unterschlupf und trifft in einer Diskothek auf Stuck, der dort in seiner Freizeit Platten auflegt. Er sträubt sich gegen das Vorhaben seiner Eltern, ihn auf die Schauspielschule zu schicken. Er zieht zu Vera, die sich um das Kind ihrer Freundin kümmert, denn gern wäre sie Erzieherin geworden. Aber... alles anzeigen expand_more

„Weil ich endlich leben will, wie es mir gefällt!“, sagt Vera.

Sie hat ihr Elternhaus verlassen, um der Enge sowie der Aufsicht ihrer uneinsichtigen Eltern zu entkommen, die fürchten, mit ihrer ‚aufmüpfigen’ Tochter unangenehm aufzufallen und dem eigenen Ansehen zu schaden.

In einem abrissreifen Hinterhaus der Kleinstadt findet Vera Unterschlupf und trifft in einer Diskothek auf Stuck, der dort in seiner Freizeit Platten auflegt. Er sträubt sich gegen das Vorhaben seiner Eltern, ihn auf die Schauspielschule zu schicken. Er zieht zu Vera, die sich um das Kind ihrer Freundin kümmert, denn gern wäre sie Erzieherin geworden. Aber ihrer Zeugnisse wegen hatte man sie abgelehnt.

Im ständigen Widerstreit mit der Gesellschaft der Erwachsenen, die sie nach ihrer Lebensauffassung formen will, versuchen Vera und Stuck ihren Platz zu finden und sich zu behaupten. Trotz schmerzhafter Erfahrungen entscheiden sie selbstbewusst über ihren Lebensweg.

„Ich bin wie eine Klette!“, sagt Vera zu Stuck. „Mich wirst du nie wieder los!“

Auch Stucks Einberufung zur Armee wird daran nichts ändern.

Lebensgeschichten junger Leute aus den achtziger Jahren in der ostdeutschen Provinz.

Das Buch erschien erstmals 1980 beim Verlag Neues Leben Berlin.



Gleich nach Schichtschluss war sie zu Egon gegangen. Mit dem Motorrad fuhren sie dann bei einbrechender Dunkelheit zur Laube hinaus, wo bereits die ganze Gruppe versammelt war und schon ungeduldig auf den Chef wartete.

Vera hatte bisher geglaubt, das Geschehen jenes Abends aus ihrem Gedächtnis verbannt zu haben, doch nun, wieder in der Laube, laufen die Bilder erneut so deutlich vor ihr ab, als wären sie Szenen eines unvergesslichen Films, in dem sie selbst die Hauptrolle spielt. Außer im Spiegel oder im Traum hat sie ihr eigenes Bild noch nie so deutlich gesehen, und je fester sie die Augen schließt, desto gegenwärtiger ist das Geschehen: In Großaufnahme zunächst Egon mit seinem Belmondo-Ausdruck, doch gleich darauf sie selbst – angezogene Schultern unter langem blondem Haar, so dass es aussieht, als sei der Kopf unmittelbar auf dem Rumpf gewachsen. Hat sie nicht sogar einen runden Rücken?

Was habt ihr vor? hört sie sich fragen, wobei sie den Kopf wendet, um alle der Reihe nach ansehen zu können, aber es ist wie verhext, außer sich selbst und Egon kann sie niemand entdecken. Einen hübschen kleinen Einbruch, erwidert Egon, der plötzlich seinen Integralhelm trägt und den Mundschlitz geöffnet hat. Seine Lippen kommen ihr dahinter dick und wulstig vor.

Du spinnst, sagt Vera, und obwohl sie die anderen nicht sehen kann, hört sie deren lautes spöttisches Lachen. Ohne mich, sagt sie und sieht, dass sie sich auf die Kante des Sofas vorschiebt, wie um sofort zum Sprung bereit zu sein.

Nicht ohne dich, sagt einer, der unsichtbar bleibt, aber Vera erkennt ihn an der Stimme. Es ist der Rothaarige, Egons Leibwächter. Der springt, sobald der Chef nur pfeift. Ihr könnt mich doch nicht zwingen, ruft Vera. Aus dem Hintergrund hält ihr dann jemand den Mund zu. Wirst du mal schön flüstern? Egon sorgt mit einer Handbewegung dafür, dass sie aus dieser Maulkorbsituation befreit wird. Du gehörst zu uns, sagt er dann, beschreibt schließlich mit seiner Hand einen weiten Bogen, bis sie flach auf seiner Brust ruht. Zu mir gehörst du, oder etwa nicht?

Aber das mache ich trotzdem nicht mit. Vera sieht, dass sie sich erhebt, langsam, als fiele es ihr schwer. Sie bleibt dann vor Egon stehen, dessen Kopf nun wieder frei ist, der Helm liegt neben ihm auf dem wackligen Tisch.

Schätzchen, sagt Egon, glaubst du, du kannst dich verdrücken, wenn ich es nicht will? Seine Worte locken wieder das spöttische Lachen der anderen hervor, die Vera nicht sehen kann. Ihr kommt es vor, als wäre alles ein einstudiertes Spiel.

Du bist sogar ganz wichtig für uns, sagt Egon, so klein und dünn wie 'n Bleistift, da passt du doch wunderbar durch die Kellerluke.

Wo denn? ruft Vera und spürt schon die Hand, die ihr wieder den Mund verschließen will, darum läuft sie um den kleinen Tisch herum, bis sie an dem mit Pappe verschlossenen Fenster steht. Mit dem Ellbogen prüft sie, ob sie die Pappe hinausdrücken kann, aber Egon bleibt ihre Bewegung nicht verborgen. Versuch's nicht, sagt er, du kommst keine zwei Schritte weit, Schätzchen.



Siegfried Maaß

Geboren am 06.10. 1936 in Magdeburg, Schulbesuch in Staßfurt.

Vermessungstechniker in Bergbau und Kataster. 1960 – 1964 Literaturinstitut Leipzig. Schauspieldramaturg. Freier Schriftsteller seit 1971.

Verheiratet. Zwei Kinder.

Bibliografie

Ich will einen Turm besteigen, Verlag Neues Leben, Berlin 1974

Ins Paradies kommt nie ein Karussell, Verlag Neues Leben, Berlin 1976.

Lindenstraße 28, Verlag Neues Leben, Berlin 1980

Keine Flügel für Reggi, Verlag Neues Leben, Berlin 1984.

Abschied von der Lindenstraße, Verlag Neues Leben, Berlin 1986

Vier Wochen eines Sommers, Verlag Neues Leben, Berlin 1989

Du bist auch in der Ferne nicht für mich verloren, BK-Verlag, Staßfurt 1994

Tango in der Düppler Mühle, Volksstimme, Magdeburg1998

Von Uhlenturm und Arnstein, Volksstimme, Magdeburg1999

Und hinter mir ein Loch aus Stille, dr.ziehten verlag, Oschersleben 2000

Zeit der Schneeschmelze, 2001, dr. ziehten verlag, Oschersleben

Peggy Vollmilchschokolade, Projekte Verlag, Halle 2002

Der Handschuhbaum, Projekte Verlag, Halle 2003

Schulschreibertagebuch sowie der Mann im Haus bin ich, Projekte Verlag, Halle 2003

Sonntagspredigt oder Heimkehr auf die Insel, BK-Verlag, Staßfurt 2004

Adolfchen und der 'doofe’ Arm, Projekte Verlag, Halle 2005

Sternie, Spinni und das Kleine Gespenst Kugelrund, dorise verlag, Burg 2006

Das Versteck im Wald, dorise verlag, Burg 2007

Das Haus an der Milchstraße, dorise verlag, Burg 2008

Nachtfahrten, dorise verlag, Burg 2009

Als unser Weihnachtsmann Urlaub machte, dorise verlag, Burg 2009

Im Schatten der Milchstraße, dorise verlag, Burg 2010

Tango in der Düppler Mühle, erw. Fassung, Block-Verlag, 2011

Beteiligung an Anthologien,

Herausgaben von fünfzehn Bänden mit Schülertexten sowie Texten aus Kreativwerkstätten schreibender Senioren.

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