Uns hat Gott vergessen
Tagebuch eines langen Abschieds
Dieses Buch lässt den Leser teilhaben an einem authentischen tragischen Familienschicksal. Mehr und mehr muss Markus erkennen, dass sich sein „Mädchen", wie er Monika, seine Frau, liebevoll nennt, verändert. Aber auch Monika merkt, dass nichts mehr so ist wie früher. Alltägliche Handgriffe werden zu unüberwindlichen Hindernissen. Ihre Krankheit, bald als Morbus Alzheimer diagnostiziert, frisst den liebenden Partner förmlich auf, schränkt aber seine Liebe nicht ein.
Das ergreifende Tagebuch eines langen Abschieds erschien erstmals 2000 im quartus-Verlag, Bucha.
LESEPROBE:
Markus: Montag, am 1. September
Es ist noch früh am Nachmittag. Der Park liegt einsam unter dem blauen Himmel. Über dem Rasen flimmert die Luft. Ich brauche das jetzt, Wärme und Stille. Wie gestern zu den Mahlzeiten, so habe ich Monika im Krankenhaus auch vor zwei Stunden zum Mittag wieder Nahrung eingeflößt. Sie nimmt von den Schwestern weder Essen noch Trinken an, dabei ist sie trotz der Spezialkost zum Erschrecken abgemagert und geschwächt. Sie muss beim Gang zur Toilette gestützt werden, und selbst das Sprechen verlangt ihr sichtlich Mühe ab. Als die Schwester mir sagte, dass die Stationsärztin mit mir reden möchte, habe ich insgeheim auf irgendeine ermutigende Nachricht gehofft. Vielleicht, dass es ein neues Medikament für Monika gibt, eine hilfreiche Therapie, mit der dieses teuflische Leiden, wenn auch nicht geheilt, so doch mindestens in seinem Verlauf gebremst werden könnte. Aber nichts dergleichen. Die Frau Doktor, bestimmt schon nahe der Sechzig und spürbar im Besitz der in diesen Jahren gesammelten Erfahrungen mit Leben und Tod, wollte mich untersuchen. Mich! Blutdruck messen, Herztöne prüfen, Lunge abhorchen. Das Ergebnis schien sie nicht zu überraschen. Ich könne so nicht weitermachen, eröffnete sie mir. Krankenpflege sei Schwerstarbeit. Unvorstellbar beispielsweise, dass eine Schwester ihren Patienten 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Wochen und zwölf Monate im Jahr ohne längere Erholungspause betreut. Genau dies aber sei mit der Pflege meiner Frau nun schon im dritten Jahr mein Bemühen, und selbst im Ergebnis der flüchtigen Untersuchung zeichne sich bei mir bereits deutlich ein in absehbarer Zeit zwangsläufig eintretender Zusammenbruch ab.
Die Ärztin erschreckte mich nicht.
Markus: Montag, am 1. September
Es ist noch früh am Nachmittag. Der Park liegt einsam unter dem blauen Himmel. Über dem Rasen flimmert die Luft. Ich brauche das jetzt, Wärme und Stille. Wie gestern zu den Mahlzeiten, so habe ich Monika im Krankenhaus auch vor zwei Stunden zum Mittag wieder Nahrung eingeflößt. Sie nimmt von den Schwestern weder Essen noch Trinken an, dabei ist sie trotz der Spezialkost zum Erschrecken abgemagert und geschwächt. Sie muss beim Gang zur Toilette gestützt werden, und selbst das Sprechen verlangt ihr sichtlich Mühe ab. Als die Schwester mir sagte, dass die Stationsärztin mit mir reden möchte, habe ich insgeheim auf irgendeine ermutigende Nachricht gehofft. Vielleicht, dass es ein neues Medikament für Monika gibt, eine hilfreiche Therapie, mit der dieses teuflische Leiden, wenn auch nicht geheilt, so doch mindestens in seinem Verlauf gebremst werden könnte. Aber nichts dergleichen. Die Frau Doktor, bestimmt schon nahe der Sechzig und spürbar im Besitz der in diesen Jahren gesammelten Erfahrungen mit Leben und Tod, wollte mich untersuchen. Mich! Blutdruck messen, Herztöne prüfen, Lunge abhorchen. Das Ergebnis schien sie nicht zu überraschen. Ich könne so nicht weitermachen, eröffnete sie mir. Krankenpflege sei Schwerstarbeit. Unvorstellbar beispielsweise, dass eine Schwester ihren Patienten 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Wochen und zwölf Monate im Jahr ohne längere Erholungspause betreut. Genau dies aber sei mit der Pflege meiner Frau nun schon im dritten Jahr mein Bemühen, und selbst im Ergebnis der flüchtigen Untersuchung zeichne sich bei mir bereits deutlich ein in absehbarer Zeit zwangsläufig eintretender Zusammenbruch ab.
Die Ärztin erschreckte mich nicht. Ihre Ankündigung erinnerte an den frommen, längst verstorbenen Großvater, der jeden in schwierige Lage Geratenen ins Gebet einschloss und uns auch immer wieder mit dem Wort trösten wollte: Der Herrgott legt jedem Menschen nur so viel Bürde auf, wie er zu tragen vermag. Nein, ich bin nicht überfordert. Ich will das nicht glauben. Auch manche Stunden, in denen mir alle Kraft müde wird, geben der Frau Doktor noch nicht recht. Die Liebe braucht zuweilen nur eine kurze Rast, um dauernder, schwerer Last Stand zu halten, denke ich. Eine kleine Ruhepause, nicht mehr. Zwei Stunden Sauna wöchentlich zum Beispiel. Was also soll dieser dringende Rat der Ärztin, der mich verwirrt, wie ein Stich in die Brust ist, mich mit dem Schmerz zugleich aber auch in Überlegungen lockt, die sich trotz eines heftigen Empfindens von Scham nicht aus dem Kopf zwingen lassen wollen. Tag für Tag, Nacht für Nacht ohne Unterbrechung. Am Computer sitzen, denken und schreiben, stundenlang vielleicht. Ungestört lesen, die Zeitung, ein Buch. Wieder ins Konzert gehen, ins Theater, ins Kino. Freunde besuchen, Tennis spielen ... Das lockt! Eine Versuchung? Und Monika? Nein, nein, nein!
Ich bleibe nicht allein auf der Bank. Der vollbärtige Alte sieht aus, als sei er schon lange unterwegs. Rucksack, Kniehose, Lederweste und, als gäbe es Sonne und Hitze nicht, Filzhut mit einigen kleinen Abzeichen über der Krempe. Einige Symbole erkenne ich. Matterhorn, Wartburg, Brandenburger Tor und dazwischen, mit dem Fächer aus Sonnenstrahlen, das Blau der Freien Deutschen Jugend. Er holt Bierflasche und Käsebrot hervor, lädt mich ein, sucht Unterhaltung. Mir ist nicht nach Dialog. Weil ich wortkarg bleibe, bedenkt er mich unwirsch mit ein paar unfreundlichen Bezeichnungen, packt Speise und Trank wieder ein und überlässt mich, auf seiner Suche nach redseliger Gesellschaft, meinen ernsten Gedanken.
Wir sind hier kein Pflegeheim, sagte die Frau Doktor im Krankenhaus. Den Satz habe ich schon einmal gehört. Damals, von dem Professor in der Klinik. Diesmal sind keine guten Wünsche dabei. Ich soll Monika in einem Heim unterbringen.
In ein Pflegeheim!
Noch vor Ende dieser Woche!
Eigentlich müsse meine Frau heute bereits aus dem Krankenhaus entlassen werden, aber man will mir - so nennt es die Ärztin freundlich - zeitlich entgegenkommen. Bis zum Wochenende darf Monika im Krankenhaus bleiben, vorausgesetzt, dass ich am Mittag und am Abend komme und ihr, wie es in Fachkreisen energisch heißt, die Nahrung reiche. Gefüttert werden nur Tiere.
Ringsum wandern die Schatten und ich vergesse die Zeit. Meine Monika in einem Heim, allein der Gedanke macht übel. Meine Eltern hatten ihre letzten Jahre so ein Zuhause. Wir haben sie dort besucht, mindestens zweimal in der Woche. Sie fühlten sich versorgt und geborgen, aber für Monika waren solche Häuser wie schlimme Wartezimmer vor der Tür zum Himmel. Die Luft in den Gängen machte ihr das Atmen schwer. Es riecht darin nach Sterben, hat sie mal gesagt. Und jetzt soll ich, soll sie ...
Unwillkürlich erinnere ich mich an ein paar Sätze, die ich kürzlich gelesen habe. Es ging dabei um die Lebenserwartung von Alzheimer-Patienten. Sie soll im Vergleich zu der von gesunden Gleichaltrigen in der jeweiligen Altersgruppe zwei- bis vierfach kürzer sein. Die Unterbringung in einem Heim verkürzt nach Meinung der Wissenschaftler die Lebenszeit von Alzheimer-Kranken noch weiter. Fast ein Drittel der im Heim untergebrachten Kranken sterben demnach bereits im ersten Jahr ihres Aufenthaltes, die Hälfte vor Ablauf des zweiten Jahres, mehr als zwei Drittel vor dem Ende des vierten Jahres, und nicht mehr als fünfzehn Prozent überleben im Heim länger als fünf Jahre ...
Schon, als ich das gelesen hatte, war mir die Ursache dieses Unterschiedes zu den in der Familie Betreuten schnell klar. Ich erlebe Tag für Tag, wie dringend für Monika dauernde Zuwendung ist. Jede Minute des Alleinseins wird ihr zur Qual. Die unmittelbare Nähe eines im ganzen Sinne des Wortes hilfsbereiten, also in jedem Moment zur Hilfe bereiten Menschen, ist für sie wichtig wie Licht für die Augen. Aber eine derartige, ständige Anwesenheit einer Pflegeperson an der Seite des kranken Heimbewohners setzte, das ist mir klar, für zehn Patienten, rund um die Uhr und täglich, Freizeit, Urlaub und andere unvermeidliche Dienstausfälle berücksichtigend, eine ganz und gar illusorische Zahl von Pflegekräften sowie enorme Geldmittel voraus. Und wenn ich den zwingenden Rat der Ärztin abtue, einfach aus meinem Denken lösche? Sie kündigt mir Zusammenbruch an. Krankheit. Unfähigkeit zu körperlicher und geistiger Leistung. Ich könne dann womöglich tage- oder wochenlang nichts für Monika tun. Gar nichts! Sie würde vergeblich nach mir rufen, auf mich warten und leiden ... Mein Gott, wo ist hier ein Weg, den ich gehen darf ohne Scham und Schuld?
Geboren 1930 in Weimar, aufgewachsen und erzogen in einem konsequent sozialdemokratischen Elternhaus, stark geprägt vom Erlebnis KZ Buchenwald im April 1945 auf der Suche nach einem von der Gestapo verhafteten Onkel.
Volksschule und Handelsaufbauschule in Weimar, 1948/49 als Volkspolizist freiwilliger Aufbauhelfer (Enttrümmerung, Wasserleitung Maxhütte, u.a.).
Erkrankung an Tuberkulose. Im Sanatorium für den weiteren Lebensweg entscheidende Begegnung und monatelanges, gemeinsames Zusammenleben in einem Zimmer mit gleichaltrigem Vikar.
Journalistische Ausbildung. Tätigkeit als Redaktionsassistent. Erste Buchveröffentlichung 1959.
Ab 1964 freischaffender Schriftsteller. Im literarischen Schaffen beeinflusst von Louis Fürnberg, Hans-Joachim Malberg, Bruno Apitz und Walter Janka. Zahlreiche Romane, Kinder- und Jugendbücher (u.a. Autor des Weimarer Knabe-Verlages), Drehbücher für Film und Fernsehen.
Literarische Auszeichnungen: Literatur-und Kunstpreis der Stadt Weimar, Nationalpreis der DDR, Preis der Filmkritiker, u.a. als erster deutscher Drehbuchautor für den Europäischen Filmpreis Felix nominiert, Goldene Ehrennadel der Stadt Weimar 2005.
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- Artikel-Nr.: SW9783863949549