Claus und Claudia
Nach neueren Dokumenten
Zeitlebens hat sich Neutsch, dieser streitbare Autor, der die Dinge oft derb, aber klar und deutlich benannte, mit Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Fehlentwicklung beschäftigt. Das trifft auch für dieses, erstmals 1989 veröffentlichte Buch zu. Nebenbei bemerkt: Was mögen wohl Claus und Claudia gesagt haben, hätte man sie einige Jahre nach den Ereignissen, von denen hier die Rede ist, über die Wende und die Zeit danach befragt.
Aber zurück zur Geschichte von „Claus und Claudia“, für deren höhere Glaubwürdigkeit sich Autor Neutsch eines literarischen Tricks bedient: Er selbst war nach allem nicht mehr bereit, Auskunft zu geben, doch ein Bündel von zahlreichen Dokumenten, Aktennotizen und Protokollen gewährt genügend Einblick, um die Geschichte zu rekonstruieren.
Er – das ist Claus, Claus Salzbach mit Namen, der seit Jahren im Ausland, im diplomatischen Dienst stand und zuletzt im Auftrage der Regierung am Sitz der Unesco in Paris tätig war. Alle Leute, sowohl seine Vorgesetzten als auch jene, die sonst mit ihm zu tun hatten, kannten ihn als einen bescheidenen, verlässlichen, jederzeit seine Aufgaben gewissenhaft erfüllenden Menschen. So hatte er international die Republik stets würdig vertreten und ihr Ansehen durch sein entschlossenes und aufrichtiges Verhalten in aller Augen gestärkt.
Doch dann geschah etwas, das diesen Mann völlig veränderte, seinen Heiligen Zorn weckte und ihn zum Selbsthelfer im Sinne eines Kleistschen Michael Kohlhaas werden ließ: Claus hatte eine Tochter, Claudia, zweiundzwanzig Jahre jung, hübsch, lebenslustig, zielstrebig. Sie absolvierte eine Hebammenausbildung an der Medizinischen Fachschule, die der Universität in W. angeschlossen ist. Plötzlich erreichte ihren Vater in Paris die Nachricht, seine Tochter habe einen Nervenzusammenbruch und er solle sofort kommen. Claudia hatte einen Suizidversuch unternommen. „Sie wollen mich fertigmachen ...“, fasst Claudia ihre Situation während eines Spaziergangs im Park zusammen. Mit dieser Behauptung verband sie zugleich unglaubliche Geschichten, Erlebnisse jedenfalls, die Claus nicht für möglich hielt, zumindest für übertrieben ihrerseits. Er beginnt Fragen zu stellen, grundsätzliche Fragen: „Sie hat das Vertrauen verloren“, sagte er. „Das Vertrauen zu den Menschen, mit denen sie zu tun hat, selbst zur Partei, deren Mitglied sie gerade wurde, und vielleicht schlimmer noch: zu unserer Gesellschaft insgesamt.“ Taugte der Sozialismus nichts, nichts mehr?
»Nein. Ich kenne andere. Auch aus der FDJ-Leitung welche ...« Sie stockte, schien sich noch immer vorsichtig herantasten zu wollen. »Du bist Genossin, nicht wahr? So ziemlich die einzige hier weit und breit ... Ich hab's mir zusammengereimt, als ich zufällig Zeuge eines Gesprächs wurde. Zwischen zwei Hebammen. Wenn du Dienst hast, warnte die eine die andere, solle sie bloß nicht den Norddeutschen Rundfunk hören, der, wie du ja weißt, hier unentwegt dudelt. Sie bezeichnete dich als Spitzel.«
»Als was?«
»Als Spitzel der SED. Dein Vater muß irgendwas angestellt haben. Und von dir hieß es, du habest Doktor Braune in eurer Parteiversammlung angeschwärzt.«
»Doktor Braune?« Ein wenig erschrak Claudia jetzt. »Warum sollte ich?«
»Im Aufenthaltsraum, als dort die neuen Übergardinen aufgehängt wurden. Sie verdeckten jedoch in voller Breite die Wand mit dem Bild von Honecker daran. Jemand vom Personal wies Doktor Braune darauf hin, und er ordnete an, es abzunehmen. Was macht das schon, soll er geantwortet haben, da guckt doch sowieso keiner hin.«
»Ich schwör es dir, Heike. Ich weiß nicht das geringste davon. Was geht mich der Hetzsender an. Jeder ist selber schuld, der sich davon berieseln läßt. Und auch das mit der Parteiversammlung ist eine Lüge.«
»Ich dachte es mir. So eine bist du nicht.«
Stunden später, nachdem sie ihren Dienst beendet hatten, auf dem gemeinsamen Weg von der Klinik zur Bushaltestelle, setzte Heike ihr Gespräch mit einer anderen Eröffnung fort.
»Claudia, ich habe Angst.«
Sie sah sie mit ihren blauen, furchtsam geweiteten Augen an, wirkte verzagt wie ein Kind plötzlich, obwohl sie bereits achtzehn war.
»Wovor denn?«
»Versprich mir, es für dich zu behalten.«
»Bin ich etwa eine Tratsche?«
»Irgendwem muß ich es sagen. Und du - du bist selber Mutti ... Ich bin im dritten Monat. Zum Wochenende, sofort nach dem Praktikum, fahr ich nach Haus und lasse mir das Kind nehmen. Ich habe schon einen Arzt konsultiert, und der meint, jetzt sei der günstigste Zeitpunkt für einen Eingriff ... Mein Verlobter ist bei der Armee. Er erfährt erst gar nichts ...« Sie schnupfte und trocknete sich ein paar Tränen ab, die über ihr pummliges Gesicht rannen.
»Aber, Mädchen, du weinst ja.« Claudia legte ihren Arm um sie.
»Ach, weißt du, ich würde mein Baby so gern austragen. Aber bei den Aversionen hier, an unserer Schule? Die Baumholder predigt doch ständig, daß wir uns keine Kinder anschaffen sollen. Sie würden uns nur beim Studium stören. Und bekämen wir doch eins, müßten wir es in die Wochenkrippe abschieben ...«
Ja, davon wußte auch Claudia ein Lied zu singen.
Nun säuberte sie den Kreißsaal und gewahrte hin und wieder, wie nebenan Heike desgleichen tat. Der letzte Tag ihres Praktikums war herangerückt, und am Montag würde sie sich in das Krankenhaus ihres Heimatortes begeben.
Geboren 21. Juni 1931 in Schönebeck/Elbe, Studium der Philosophie und Publizistik an der Universität Leipzig, Diplom 1953, bis 1960 Kultur- und Wirtschaftsredakteur in Halle, Reporter.
Seit 1962 freischaffender Schriftsteller, Mitglied der Akademie der Künste der DDR 1974-1991, Mitglied des Schriftsteller-Verbandes Deutschlands.
Erik Neutsch ist am 20. August 2013 in Halle verstorben.
Veröffentlichungen
Romane:
Spur der Steine, Halle 1964, Bergisch-Gladbach 1991, München 1994, Leipzig 1996 (35 Aufl.)
Auf der Suche nach Gatt, Halle 1973, Benshausen 2009 (15 Aufl.)
Der Friede im Osten, bisher 4 Bände, Halle 1974-1987 (29 Aufl.)
Totschlag, Querfurt 1994 (2 Aufl.)
Nach dem großen Aufstand - Ein Grünewald-Roman, Leipzig 2003, Dößel 2010 (2 Aufl.)
Erzählungen:
Die Regengeschichte, Halle 1960 (3 Aufl.)
Die zweite Begegnung, Halle 1961
Bitterfelder Geschichten, Sammelband, Halle 1961 (3 Aufl.)
Die anderen und ich, Sammelband, Halle 1970 (5 Aufl.)
Tage unseres Lebens, Leipzig 1973
Heldenberichte, Sammelband, Berlin 1976
Akte Nora S., Berlin 1976
Der Hirt, Halle 1978, Berlin 1998
Zwei leere Stühle, Halle 1979 (10 Aufl.)
Forster in Paris, Halle 1981, Querfurt 1994 (3 Aufl.)
Claus und Claudia, Halle 1989 (3 Aufl.)
Stockheim kommt, Berlin 1998
Verdämmerung, Kückenshagen März 2003 (2 Auflagen)
Kinderbücher:
Olaf und der gelbe Vogel, Berlin 1972 (5 Aufl.)
Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte, Leipzig 1995.
Bühnenwerke:
Haut oder Hemd, Schauspiel, Urauff. Halle 1971
Karin Lenz, Opernlibretto zur Musik von Günter Kochan, Urauff. Deutsche Staatsoper Berlin 1971
Haut oder Hemd, Text und Dokumentation, Halle 1972
Da sah ich den Menschen, Dramatik und Gedichte, Berlin 1983
Die Liebe und der Tod, Gedichtband, Halle 1999
Mitautor in ca. 70 Anthologien und Sammelbänden.
Filme (nach seinen Texten):
Spur der Steine, DEFA 1966
Die Prüfung, DEFA 1967
Akte Nora S., Deutscher Fernsehfunk 1975
Auf der Suche nach Gatt, DFF 1976
Zwei leere Stühle, DFF 1982
Übersetzungen seiner Texte in über 20 Sprachen.
Verkaufte Bücher (ohne Anthologien): ca. 2,2 Millionen in Deutschland.
Auszeichnungen u.a.:
Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur 1964 und 1981
Heimich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR 1971
Kunstpreis der Stadt Halle 1971
Händelpreis der Stadt Halle 1973
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- Artikel-Nr.: SW9783863944087.1