Bilanz mit Vierunddreißig
oder Die Ehe der Claudia M.
Die Mozartstraße ist das Zuhause der jungen Frauenärztin und Ich-Erzählerin Claudia und ihrem Mann Martin. Beide sind zwölf Jahre miteinander verheiratet, und diese Ehe scheint sich etwas abgenutzt zu haben:
Er hat seinen Kugelschreiber aufgeschraubt, prüft die Miene. Da hört er mich an der Schwelle, dreht sich herum. Möchtest du etwas?
Ich lehne am Türrahmen, blicke Martin an. Er kommt, küsst mich aufs Haar, den Stift in der Hand.
Und ich sehe, auch dieser Abend verschwindet wie so viele andere, ohne Spuren zu hinterlassen.
Die Struktur ihrer Schlafzimmerdecke scheint wie ein Symbol ihrer Ehe zu sein:
Die Decke unseres Schlafzimmers ist quadratisch. Ihre rechten Winkel, die sie mit den Wänden bildet, scharf und genau. In Richtung der beiden von einer gemeinsamen Gardine verhangenen Fenster ziehen sich zwei feine Risse hin. Sie verlaufen beinahe in der Längsachse unserer Betten. An keiner Stelle berühren sie sich, was Parallelen, wie ich ja weiß, auch nicht können. Wir haben sie mehrmals verputzen und übermalen lassen. Sie durchdringen den Bewurf wieder und wieder.
Gleichweit von jedem Riss entfernt und im Schnittpunkt der Diagonalen hängt die Lampe, mit rotem Seidenstoff bespannt. Ich habe sie gekauft, aufgehängt und angeschlossen.
Claudia hat ihren späteren Mann nahe der heutigen gemeinsamen Wohnung kennengelernt: Ich liebe den künstlichen Hügel am Rande des Stadtwaldes nahe der Mozartstraße. Ein ehemaliger Schutt- und Scherbenberg. Nun bewachsen. Sogar bewaldet. Hier ist mir Martin zum ersten Male begegnet.
Zaghaft erst finden die beiden nahe der Mozartstraße zueinander, küssen sich erst nach Monaten, auch wenn Claudia ihren Martin bewundert. Und aus der Liebesgeschichte wird eine Liebesheirat. Und die beiden Liebenden geben sich ein Versprechen:
Wir dürfen uns niemals verbergen voreinander, rief ich, als hätte ich eine Formel entdeckt. Jeden Gedanken wollen wir uns sagen und jedes Gefühl.
Dennoch scheint dieses Versprechen nach Jahren der Gemeinsamkeit nicht mehr gültig zu sein. Und Claudia fragt sich, wie es nur gekommen sei, dass sie sich so missverstehen. Auch eine gemeinsame Reise in die CSSR kann das scheinbar unausweichliche Ende dieser Beziehung nicht aufhalten. Claudia sucht und findet sogar einen anderen Mann. Kann sie Martin zur Liebe zwingen? Und was erwartet sie eigentlich von diesem anderen Mann?
Aber auch das letzte Wort dieser sensiblen Beziehungsgeschichte lautet Mozartstraße.
In der Mozartstraße
Die Reise
In Martins Klinik
Geburtshilfe
Wilm oder ein Versuch
Wilm setzt sich auf die Kante der Liege. Ich wünschte, er bliebe so eine Weile neben mir. Wir reden leise. Ich fühle mich wie eine Katze in der Sonne. Alle Dinge und auch dieser Mann rücken an einen Punkt, wo sie mir nahe sind und doch gleichzeitig beruhigend fern. Als er einmal hinausgeht, schließe ich die Augen. Erinnere ein Spiel von früher: Ich wollte herausfinden, ob ich Mutter oder Vater mehr liebe. Dachte sie mir beide ins Meer, und ich, in einem Boot, könnte nur einen von ihnen retten. Ich quälte mich. Vergoss Tränen. Rannte schließlich in ihr Schlafzimmer und warf mich über die zu Tode Erschrockenen.
Wilm ist wieder da. In der Hand eine kleine Flasche Sekt. Das wird uns nicht umwerfen! Ich nehme das Glas.
Wie schnell bekennt einer seine Lebensansichten, sagt sich und anderen, welche Regeln er befolgt oder vorgeblich befolgt. Die Stimmung ist günstig für meine Frage.
Er habe keine Grundsätze, sagt Wilm. Da müsste er überlegen.
Er sitzt auf dem hölzernen Drehschemel, die Ellenbogen hinter sich auf den Schreibtisch gestützt. Dann aber rückt er sich gerade, nimmt die Hände auf die Knie.
Keinen Schaden zufügen, das wäre einer. Diesen Satz übrigens verdanke ich meinem Vater. Er ist Förster und macht seine Arbeit noch immer, obgleich er Rentner ist seit zwei Jahren.
Vielleicht auch: wenn jemand anders ist als man selbst, man ihn schwer nur begreift, ihm dennoch Platz schaffen.
Aber, was heißt eigentlich: niemandem schaden wollen. Wie lässt sich das machen. Solange soziale Ungleichheit herrscht, ist der Schwächere jedenfalls der Geschädigte. Oder etwas ganz Banales: Von fünf Bewerbern um eine Stelle bleiben vier immer auf der Strecke, und wenn zwei die gleiche Frau wollen, muss sie einen abblitzen lassen. Das lässt sich beliebig fortsetzen. Einer wird überfahren, fällt von einem Gerüst, weil ein Brett wackelt, jemand kriegt unverträgliches Blut. Sie sehen, wie es solche Grundsätze an sich haben. Man kann nicht alles in leicht übersichtliche Häufchen teilen. Das ist Kinderart.
Manchmal redet er verworren, verliert sich in Beispielen. Die Grammatik wird kraus, er produziert Satztrümmer, stottert sogar. Er würde sich, was er sagt, erst beim Sprechen überlegen, sei manchmal selber gespannt, was herauskäme. Ich habe große Lust, ihn alles mögliche zu fragen. Was er von Recht hält, was von Freiheit. Warum er Gynäkologe geworden ist.
Aber über sich sagt er nichts, nichts von seiner Frau. Wie er jetzt auf dem Drehschemel sitzt, sieht er aus wie einer, der ein Thema abgehandelt und sich wieder auf sich selbst zurückgezogen hat.
Ich stelle ihn mir vor, dort in der Oktoberstraße, wo man über die Stadt schauen kann, wenn ihn einer besucht, den allein gebliebenen.
Ich werde in den Kreißsaal gerufen. Kleinigkeiten: Fruchtblasen einreißen, einen Dammschnitt vernähen. Mit den Frauen und den Hebammen reden.
Wieder im Dienstzimmer und jetzt allein, bin ich mir Ankläger und Anwalt.
Es bewegt dich, was er sagt?
Ja.
Nur die Worte, nicht der Mann?
Ich weiß nicht.
Aber er gefällt dir?
Wolfgang Licht wurde 1938 in Leipzig geboren. Nach dem Abitur an der Petri-Schule in Leipzig wurde er an der Universität Leipzig für das Fach Biologie immatrikuliert. Später wählte er das Medizinstudium. Promotion zum Dr.med. Er wurde Facharzt für Allgemeinmedizin, danach arbeitete er als Arzt im Fach Frauenheilkunde.
Die Lust an der Poesie, schon als Kind erfahren, war niemals erloschen. Die Frage: Schreiben oder nicht, ließ sich nicht länger unterdrücken. Das war für ihn keine Frage der Logik. Er würde für Unbekanntes einen "ehrlichen" Beruf aufs Spiel setzen. Er hatte von Anfang an "den Menschen" erkunden wollen. Dazu hat ihm die medizinische Wissenschaft auch gedient. Er glaubte dort die Grundlagen unseres Denkens und Fühlens zu entdecken, Zugang zum innersten Kreis des Menschen zu haben. Doch als Arzt durfte er die Scham der anderen und seine eigene nicht durch Neugierde verletzen.
So war der Zwang entstanden, Poesie zu machen. Schließlich begann er seinen Debüt-Roman zu schreiben, der bei "Aufbau- Berlin und Weimar" veröffentlicht wurde. Weitere Werke folgten. Dem Schriftstellerverband der DDR trat er, trotz Aufforderung, nicht bei. Nach der Wende wurde er Mitglied im VS. Er wurde Gründungsmitglied des "Kulturwerkes deutscher Schriftsteller in Sachsen", in dessen Vorstand er arbeitet.
Bibliografie:
Bilanz mit Vierunddreißig oder die Ehe der Claudia M., Aufbau-Verlag, Berlin 1983 (1986 in tschechischer Übersetzung in Prag erschienen)
Die Geschichte der Gussmanns, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1986
Leibarzt am sächsischen Königshaus, Tauchaer Verlag, Taucha 1998
Die Axt der Amazonen. Eine Penthesilea-Modifikation in Prosa, Haag+Herrchen, Frankfurt am Main 1998
Johannes, Tauchaer Verlag, Taucha 2002
Johannes. Versuch einer Ehe zu dritt, Tauchaer Verlag, Taucha 2004
Lea, Tauchaer Verlag, Taucha 2006
Vera, Tauchaer Verlag, Taucha 2007
Die Zelle: Die Leidenschaften der Familie B, Tauchaer Verlag, Taucha 2009
Außerdem Beiträge in Anthologien
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- Artikel-Nr.: SW9783863943752.1