Das rote Lachen
Fragmente einer aufgefundenen Handschrift
Das rote Lachen erweitert die Ereignisse des Russisch-Japanischen Kriegs (1904/05) zu einer expressionistischen Parabel über den »kollektiven Wahnsinn« des Krieges. Karl Liebknecht und Clara Zetkin begeisterten sich für diese Povest' mit ihren namenlosen Gestalten und ihren suggestiven Wiederholungen. Sieben »Fragmente« schildern unmittelbar Kriegseindrücke - Leiber werden zerfetzt, zerstochen, aufgespießt, von Eitergeschwüren bedeckt. Die Welt wird fremd und unbegreiflich, die Menschen werden von kollektivem Wahnsinn erfasst, dem »roten Lachen«, mit dem sie einst brennend und mordend über die Welt ziehen werden: »wir vernichten alles! Ihre Häuser, ihre Universitäten, ihre Museen!«, schreit der verrückt gewordene Doktor und erklärt das Irrenhaus zum Vaterland. Im achten und neunten Fragment ist der Ich-Erzähler, beinamputiert, wieder zu Hause - scheinbar glücklich trinkt er Tee und planscht in der Badewanne. Doch als er realisiert, dass im Krieg auch sein Denken und Schreiben zerrüttet wurden, ergreift ihn eine »heilige Offenbarung«, und er schüttet, wie besessen schreibend, »Blumen und Lieder über die Welt«. Dies entpuppt sich rückblickend, aus der Perspektive seines Bruders, als Wahn - Blatt um Blatt waren in schlafloser Ekstase bis zum Tod mit trockener Feder beschrieben worden. In den übrigen Fragmenten (11-19) dringt das »rote Lachen« in das geistige Leben der Stadt ein. Im Traum des Bruders werden Kinder zu hungrigen Ratten, die überall hindurchkriechen. Das Gehirn der Erde wird zu blutigem Brei.
Das rote Lachen erweitert die Ereignisse des Russisch-Japanischen Kriegs (1904/05) zu einer expressionistischen Parabel über den »kollektiven Wahnsinn« des Krieges. Karl Liebknecht und Clara Zetkin begeisterten sich für diese Povest' mit ihren namenlosen Gestalten und ihren suggestiven Wiederholungen. Sieben »Fragmente« schildern unmittelbar ...
Zum ersten Male wurde ich mir dessen bewusst, als wir auf der nach N. führenden Straße dahinmarschierten – zehn Stunden lang ununterbrochen marschierten, ohne einen Augenblick Halt zu machen, ohne das Marschtempo zu mäßigen, ohne die Fallenden mitzunehmen, die in der Gewalt des auf drei, vier Stunden Entfernung hinter uns herdrängenden, die Spuren unseres Rückzugs mit seinen Schritten verwischenden Feindes verblieben.
Es war unerträglich heiß. Ich weiß nicht, wie viel Grad, ob vierzig, fünfzig oder noch mehr – ich weiß nur, dass es eine ununterbrochene, gleichmäßige, intensive Hitze war, die uns zur Verzweiflung brachte. Die Sonne erschien so groß, so glühend heiß und furchtbar, als ob die Erde ihr immer näher rückte und über kurz oder lang von dieser erbarmungslosen Glut verzehrt werden sollte. Die Augen hatten das Sehen verlernt. Die Pupillen hatten sich zusammengezogen, sie waren so winzig klein geworden wie Mohnkörner und suchten gierig das Dunkel im Schatten der geschlossenen Lider. Doch die Sonne durchdrang die dünne Membran, und ihr blutig-rotes Licht fand den Weg in das erschlaffte Gehirn. Aber es war doch immer erträglicher so, als wenn man die Augen offen hielt, und ich marschierte lange, vielleicht ein paar Stunden lang, mit geschlossenen Augen einher und hörte nur, wie sich rings um mich die Massen vorwärts bewegten: ich hörte das dumpfe, unregelmäßige Stampfen von Menschen und Pferden, hörte das Knirschen der eisernen Geschützräder auf dem Steingeröll, das schwere, stoßweise Atmen der erschöpften Lungen und das trockene Schmatzen der verdorrten Lippen. Alles schwieg – es war, als ob eine Armee von Stummen daher zöge. Wenn jemand zusammenbrach, so tat er es schweigend, und die anderen stolperten über seinen Körper, fielen hin, standen schweigend wieder auf und gingen, ohne zurückzuschauen, weiter, als wären sie nicht nur stumm, sondern auch taub und blind dazu. Was ich sah, schien mir eine wilde Phantasie, ein wüstes Traumbild der tollgewordenen Erde. Die heißdurchglühte Luft vibrierte, und lautlos, als ob sie eben in Fluss kommen sollten, vibrierten auch die Felsen; und die Züge der Mannschaften, die Geschütze und Pferde weit hinten an der Wegbiegung schienen wie von der Erde losgelöst und zitterten wie Gallerte – als wären es nicht lebende Wesen, die da marschierten, sondern ein Heer von fleischlosen Schatten. Bis ins Innerste des Körpers, in die Knochen, ins Hirn drang die heiße, dörrende Glut und erzeugte das Gefühl, als wackle da oben zwischen den Schultern nicht der Kopf hin und her, sondern eine seltsam fremde, schaurige, äußerlich aufgestülpte Kugel...
Und da – da erinnerte ich mich plötzlich meines trauten Heims: ich sehe einen Winkel des Zimmers, und ein Stück der blauen Tapete, und die unbenutzte, staubige Wasserkaraffe auf meinem kleinen Tisch, von dessen drei Beinen das eine kürzer ist als die beiden anderen und durch ein zusammengefaltetes Stück Papier gestützt wird. Und im anstoßenden Zimmer – so, dass ich sie nicht sehen kann – sitzt meine Frau mit meinem kleinen Sohn. Wäre ich imstande gewesen, zu schreien, ich hätte laut aufgeschrien vor Überraschung: so ungewohnt war mir dieses einfache, friedliche Bild, dieses Stück blaue Tapete samt der unbenutzten, staubigen Karaffe.
Ich weiß, dass ich stehen blieb und die Arme ausstreckte – aber da erhielt ich von hinten einen Stoß und lief rasch weiter, hastig durch die Menge drängend, als ob ich es sehr, sehr eilig hätte. Eine ganze Zeit lang lief ich dahin zwischen den schweigsamen Menschenreihen, vorüber an den vom Sonnenbrand geröteten Nacken, an den aufgeprotzten, glühend heißen Geschützen, die ich unbewusst streifte – als plötzlich der Gedanke, was ich denn eigentlich treibe, wohin ich so eilig laufe, mich abermals Halt machen ließ. Nun schlug ich mich seitwärts, gelangte auf eine freie Stelle, kroch durch eine Schlucht und setzte mich auf einen Felsblock, tief aufatmend, als ob dieser heiße, raue Block das Ziel all meiner Wünsche wäre. Und da kam mir jene furchtbare Tatsache zum ersten Mal klar zum Bewusstsein: ich sah mit aller Deutlichkeit, dass alle diese Menschen, die da schweigend in der Sonnenglut vorwärts hasteten und, von Hitze und Erschöpfung übermannt, jäh zusammenbrachen – dass sie Wahnsinnige waren. Sie wissen nicht, wohin sie gehen, sie wissen nicht, warum diese Sonne da auf sie niederbrennt, sie wissen nichts, rein gar nichts. Sie tragen keinen Kopf auf den Schultern, sondern Kugeln – seltsame, schaurige Kugeln. Dort drängt sich einer, gleich mir, hastig durch die Reihen und stürzt nieder; ihm folgt noch ein zweiter, ein dritter. Da bäumt sich über der Menge der Kopf eines Pferdes empor, mit starren, blutunterlaufenen Augen und breit gefletschtem Maule, aus dem jäh ein entsetzlicher, halb erstickter Schrei dringt – es bäumt sich empor, stürzt zu Boden und bildet im nächsten Moment den Mittelpunkt eines Auflaufs – bis nach einem kurzen, dumpfen Wechsel von Worten ein jäher Schuss ertönt und dann von Neuem diese endlose, schweigsame Bewegung einsetzt. Bereits seit einer Stunde sitze ich auf dem Felsblock, und an mir vorüber marschieren, marschieren sie nur immer, und die Erde, die Luft, die gespenstischen Menschenreihen dort hinten vibrieren in einem fort. Wiederum spüre ich diese ins Innerste dringende, ausdörrende Hitze; vergessen ist, was für einen Augenblick mich so lebhaft beschäftigte, und an mir vorüber sehe ich sie nur immer gehen und gehen, und ich weiß nicht, wer sie sind. Die einen tragen Gewehre und sehen wie Soldaten aus; andere sind halb nackt, und ihre Haut ist ganz purpurrot und entsetzlich anzuschauen. Nicht weit von mir liegt einer lang ausgestreckt, mit dem nackten Rücken nach oben; nach der Art, wie er gleichgültig sein Gesicht auf das spitze, heiße Felsgestein stützt, nach der blutlosen Weiße der seitwärts gedrehten Handfläche kann man darauf schließen, dass er tot ist; aber sein Rücken ist rot, wie bei einem Lebenden, und nur ein leichter gelber Anflug, gleich dem von geräuchertem Fleische, verkündet den Tod. Ich will von ihm fortrücken, doch ich habe nicht die Kraft dazu, und so starre ich über ihn hinweg, immer wieder auf diese endlos daher schreitenden, gespenstisch schwankenden Reihen. Ich spüre es wohl, dass auch mich im nächsten Augenblick der Hitzschlag treffen wird, aber ich erwarte ihn ruhig, wie in einem Traum, der den Tod nur als Etappe auf einem Wege voll wunderbarer, wirrer Visionen erscheinen lässt.
Und ich sehe, wie ein Soldat sich von der Truppe löst und seinen Schritt auf uns zu lenkt. Einen Augenblick verschwindet er in einem Graben, und wie er dann herauskriecht und weitergeht, werden seine Schritte unsicher, und über seinem verzweifelten Versuch, die versagenden Glieder zusammenzuraffen und vom Fleck zu bringen, liegt's wie ein Abglanz des Endes. Er kommt so jäh auf mich zu, dass ich aus dem dumpfen Halbschlummer auffahre, der mein Hirn umfängt, und erschrocken frage: »Was willst du?«
Er macht plötzlich Halt, als ob er nur dieses eine Wort erwartet hätte, und steht nun vor mir da – groß und breit, bärtig, mit zerrissenem Kragen. Die Arme und Beine stehen vom Körper ab, er sucht sie an sich zu ziehen, doch vermag er es nicht mehr; kaum hat er sie an den Leib gebracht, so streckt er sie gleich wieder von sich.
»Was ist mit dir? So setz dich doch!«, rufe ich.
Doch er steht da, sucht vergeblich seine Haltung zu bewahren, schweigt und sieht mich an. Und ich richte mich unwillkürlich von meinem Felsblock empor, blicke, während ich unsicher hin und her schwanke, in seine Augen und schaue in ihnen in einen Abgrund von Schrecken und Wahnsinn. Bei allen andern sind die Pupillen klein und eng – bei ihm jedoch haben sie sich geweitet, dass sie das ganze Auge ausfüllen: welch ein Feuermeer muss er sehen durch diese großen, schwarzen Fenster! In diesen schwarzen, grundlosen, wie bei den Vögeln von einer schmalen, orangefarbigen Iris umgebenen Sehlöchern lag mehr als der Tod, mehr als die Angst vor dem Sterben.
»Geh fort!«, schrie ich, unwillkürlich zurückweichend. »Geh fort!«
Und wie ich so rufe, stürzt er auch schon mit der ganzen Wucht seines Körpers auf mich nieder, wortlos und starr, und bringt mich zu Fall. Zitternd mache ich meine Beine frei von der unheimlichen Last, voll Entsetzen springe ich auf und will irgendwohin in die sonnige, menschenleere, vibrierende Ferne flüchten – da erdröhnt von links auf dem Berggipfel ein Schuss, und gleich darauf folgen ihm, wie ein Echo, zwei andere. Und irgendwo über meinem Kopf saust mit Zischen und Pfeifen und Jubeln eine Granate durch die Luft.
Wir sind umzingelt!
Vergessen ist plötzlich die mörderische Hitze, verschwunden die Angst und die Müdigkeit. Meine Gedanken sind klar, meine Vorstellungen scharf und deutlich, und wie ich keuchend zu der in Reih und Glied aufmarschierenden Batterie eile, sehe ich heitere, fast lachende Gesichter, höre ich laute, wenn auch heisere Stimmen, Kommandorufe, Scherze. Die Sonne scheint höher gestiegen zu sein, um nicht zu stören, ihr Glanz erscheint matter, ihre Glut gemildert – und abermals saust, wie mit freudigem Aufschrei, gleich einem Luftgespenst, eine Granate über meinen Kopf hinweg.
Schon bin ich zur Stelle...
Leonid Nikolajewitsch Andrejew * 9. Augustjul./ 21. August 1871greg. in Orjol; † 12. September 1919 in Mustamäki, Finnland, heute Russland) war ein russischer Schriftsteller.
Leonid Andrejew war nach seinem Jurastudium für kurze Zeit als Anwalt in Moskau tätig, später als Journalist, Gerichtsberichterstatter und Feuilletonist. Wie die Mehrheit der russischen Intelligenz sympathisierte auch er mit der Revolution 1905, nach deren Scheitern wandte er sich allerdings den konservativen Kräften zu.
Diese Entwicklung und der Tod seiner Frau führten bei Andrejew zu einer pessimistischen, irrationalen Geisteshaltung, die durch den Einfluss von Schopenhauer, Tolstoi und Dostojewski noch verstärkt wurde. Seine anfangs realistische und expressionistische Erzählweise verdüsterte sich zunehmend, er wurde immer sarkastisch-resignierender. In seinen Schauspielen arbeitete Andrejew mit allegorischen Anspielungen, die Hässliches, Unharmonisches, Verunstaltetes hervorheben, ja überzeichnen, „um so das Gefühl des unerträglichen Ausgeliefertseins an Tod und Vernichtung noch zu verdichten“.[1]
Sein bekanntestes Theaterstück „Hinauf zu den Sternen“ (K swjosdam) vollendete Andrejew 1905. Dieses Drama entwickelte Maxim Gorki nach anfänglicher Zusammenarbeit unter dem Titel „Kinder der Sonne“ später allein weiter.
Nach der Revolution 1917 wanderte Andrejew mit kurzen Zwischenaufenthalten in Deutschland und Frankreich nach Finnland aus, wo er 1919 nur 48-jährig auf seinem Landsitz verstarb.
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- Artikel-Nr.: SW9783961270989458270.1