Hoffnung für Dan
Aus dem Alltag mit einem behinderten Kind
Wann ist ein Mensch normal? Was aber ist normal? Und wenn mit einem nicht alles stimmt, nicht alles normal ist? Ein solcher Mensch, mit dem nicht alles stimmt, der nicht normal ist, ein solcher Mensch ist Dan. Dan ist ein Mensch mit Behinderungen, mit schweren Behinderungen. Es fällt nicht immer leicht, ihn zu verstehen, oft versteht man überhaupt nicht. Es ist, als hätte Dan eine Schallmauer um sich gezogen, und niemand kann zu ihm vordringen:
Zwanzig Minuten Weg von unserer Wohnung bis zur Tagesstätte, in der Dan zurzeit noch betreut wird. Auf halb acht bringen wir ihn hin, auf vier holen wir ihn ab. Von Montag bis Freitag - abends und am Wochenende ist er zu Hause. Da muss man sich dann was einfallen lassen, denn allein will und kann er nicht runter. Der Verkehr, die anderen Kinder. Er versteht ihre Spiele nicht, stellt sich nicht auf sie ein, stört sie, und das kann übel für ihn ausgehn. Kinder sind großartig, aber auch rücksichtslos und aggressiv, wenn sie den Außenseiter erkennen, das Besondere nicht erklärt bekommen. Also geht Wolfram mit ihm, während ich den Haushalt mache. Essen koche, erledige, was sonst zu tun ist. Oder ich nehme ihn in die Küche mit. Ich schäle Kartoffeln, er darf sie in Stücke schneiden. Darf Pudding einrühren, zuschaun, mit Wasser pantschen. Auch Wäsche waschen wir gemeinsam, zu dritt, wir haben ein relativ großes Bad. Aber der Tag ist lang, und bis zum Abend muss man viele Ideen haben. Und das an jedem Wochenende, und das an den Feiertagen und im Urlaub, der für uns kein Urlaub wie für andere Leute ist.
Nicht für ihn, auch für seine Eltern ist dieses Leben mit Dan eine große Herausforderung:
Der Gedanke, von Dan, Wolfram und mir zu berichten, kam uns schon vor Jahren, damals, als wir den ersten Schock wenn auch nicht verdaut (wie könnte man das jemals), so doch hinter uns hatten. Er meldete sich von Zeit zu Zeit erneut, besonders nach jeder Krise, und jetzt, da wieder alles in der Schwebe ist, da sich die ständige Anspannung sehr unfreundlich auf mich ausgewirkt hat, nimmt er konkrete Gestalt an. Wem das Herz voll ist, dem läuft der Mund über. Ja, es stimmt, die Erfahrungen, die sich angesammelt haben, wollen ausgesprochen sein, die Erlebnisse drängen auf die Lippen. Dennoch fällt es mir schwer, darüber zu reden.
Dieser 1983 erschienene literarische Bericht gehörte zu den ersten Büchern, die sich in der DDR mit dem schwierigen Thema Menschen mit Behinderungen auseinandersetzten – ein Buch wie ein Aufschrei. Noch immer.
Hochsommer, Wolfram war wegen des Ferienbetriebes und des damit verbundenen Personalmangels in der Buchhandlung mächtig eingespannt, aber abends, als Dan versorgt war, machten wir uns in die Bar um die Ecke auf. Ich hatte der Nachbarin unseren Schlüssel gegeben, damit sie zwischendurch nach Dan schaute, allzu lange wollten wir nicht bleiben. Wolf war in spendabler Stimmung: Als mir der Wein nicht zusagte, den er bestellt hatte, ließen wir die zu drei Vierteln gefüllte Flasche stehen und tranken nur noch Sekt mit Ananas. Außerdem gab's Muschelpastete, ein stinkteures Gericht, das ich seither nirgends mehr gesehen, geschweige denn gegessen habe, Ragout fin, Eis, französischen Kognak und Mokka double - wir waren so richtig unvernünftig. Ich hatte ein blaues Azetatseidenkleid mit Puffärmeln an und um den Hals eine knallige gelbe Bernsteinkette, das Wertvollste, was ich an Schmuck damals besaß. Wolf trug helle Hosen mit Schlag und ein quergestreiftes Hemd, er sah aus wie ein Seemann. Wir tanzten und waren albern, und ich ahmte den Schlagzeuger nach, der sein Instrument betont exaltiert bediente. Trotz unserer Ausgelassenheit aber dachten wir an unseren Sohn und die Nachbarin und brachen auf, als es am schönsten wurde, gegen Mitternacht. Wie um uns zu entschädigen, schlief Dan in dieser Nacht ruhig und relativ lange.
Wenige Wochen danach missglückte unser Ostseeurlaub, und als einige Monate vergangen waren, erfuhren wir zum ersten Mal von Dans Hörschaden. Unmöglich, die Zahl der Konsultationen bei Ohrenärzten und Neurologen zu nennen, der Aussprachen, die wir in Kliniken und Krankenhäusern hatten. Dans Schlafschwierigkeiten wuchsen, er nervte uns mit seinem Starrsinn, seiner Widerborstigkeit und einem ständigen monotonen Gequietsche. An eine Rückkehr in die Schule war nicht mehr zu denken, die geplante Dissertation gab ich sehr bald auf...
Dieses unaufhörliche Quietschen - es waren die Wassertropfen auf den Kopf, von denen ich sprach. Ein steter I-i-Ton, von morgens bis abends, er bildete sich über Jahre heraus, entwickelte sich aus dem Piepsen der ersten Monate, wurde stärker und stärker. I-i ... , i-i ... , i-i ... , i-ih ...
Wenn ich den Kopf in die Höhe nehme und in mich hineinlausche, höre ich's, kein Ohropax hilft, kein Schal um die Ohren, ich krieche unter die Bettdecke, vergebens, selbst dort diese feinen, piksenden Nadelstiche.
Mit zwei, drei Jahren hatte Dan seine schlimmste Quietschphase. Ich nehme einen beliebigen Tag heraus, einen, an dem unser Junge bis fünf oder sechs Uhr morgens geschlafen hat; noch ist es dunkel, da weckt uns sein I-i ... , I-i ... Wolf zieht sich die Decke über den Kopf, sein Arbeitstag beginnt etwas später, ich versuch mich gleichfalls vor diesem Geräusch zu verstecken, aber nicht lange, dann spring ich aus dem Bett. Schnell in die Küche, irgendwas holen, worauf er herumknautschen kann, morgens ist er noch ausgeruht und am ehesten abzulenken. Der Nuckel - auch wir waren zeitweise so vermessen, auf ihn verzichten zu wollen, wir besannen uns bald anders -, ein Keks, etwas Zucker. Manchmal hilft' s für eine halbe Stunde, manchmal nicht. Wie auch immer, wir zwingen uns, bis halb sieben durchzuhalten. Das verlangt die Erziehung, um sieben gibt's Frühstück und nicht eher, gerade gehörlose Kinder soll man an feste Zeiten gewöhnen. Trotzdem, wenn ich aufstehe, ist der Tag schon lange losgegangen. Er hat im Grunde gar nicht aufgehört, noch vom Abend vorher habe ich Dans Quietschen im Ohr. Doch was mich mehr schafft - ich weiß, dass ich's erneut bis zum Abend ertragen muss. Waschen, Zähne putzen, Kämmen, den Morgenrock anziehn. In der Küche, die durch den Gang und zwei Türen von Dans Zimmer abgetrennt ist - wir sind inzwischen umgezogen -, drehe ich laut das Radio auf, klappre mit dem Geschirr, um den bohrenden I-i-Ton zu verdrängen. Hierher dringt er nur leise, das Besetztzeichen eines Telefons aus weiter Ferne, aber ich bin innerlich so auf ihn eingestellt, dass mich selbst dicke Gummiwände nicht schützen könnten. Nur wenn Dan abschaltet, vermag auch ich abzuschalten.
Das Frühstück nehmen wir getrennt ein. Dan, der uns mit seiner Zappligkeit die Ruhe raubt und für jeden Bissen endlos lange braucht, kommt zuerst dran. Dann, er ist wieder in seinem Zimmer, essen wir eine Kleinigkeit, ich am wenigsten, denn ich muss ja nicht zur "Arbeit". Die eigentliche Tortur beginnt, wenn Wolf weg ist, wie beneide ich ihn, dass er einfach so aus dem Haus gehen kann. Es ist die Zeit, da ich mich bereits als Übersetzerin versuche, wenigstens drei vier Seiten in der Woche will ich schaffen. Doch woher soll ich die Konzentration nehmen. Ich setze mich im Wohnzimmer an den Tisch, Dan ist nebenan mit irgendwelchem Spielzeug beschäftigt, das er freilich nur herumwirft, und schon stimmt er seinen Gesang an. Eine halbe Seite, denke ich, morgens bin ich noch am frischesten, einem verschollenen Raumschiff muss ich auf die Spur kommen, der Verlag hat mir eine fantastische Erzählung anvertraut. Also: "Petrow sah den Bordingenieur vielsagend an und schaltete das Funkgerät auf Empfang ..." I-i ..., i-i ..., nein, das ist nicht das Funkgerät, das ist mein Sohn, kann er denn nicht eine Minute damit aufhören. Ich springe hoch, renne rüber, reiße die Tür auf. Er hört mich nicht kommen; er sitzt mit dem Rücken zu mir, schaut auf die Wand, wo ein Sonnenkringel tanzt, und gibt seine monotonen Laute von sich. Ich bin entwaffnet, doch damit ist mir nicht geholfen. Um etwas zu tun, tippe ich ihn an, deute auf seinen Mund: Er soll ihn schließen, still sein. Er sieht mich verständnislos an (das heißt, manchmal glaube ich, dass er durchaus begreift, mich aber absichtlich herausfordern will, und dann könnte ich mit Fäusten auf ihn losgehn), er verstummt für den Augenblick. Ich kehre an meinen Arbeitsplatz zurück, greife zum Buch: "Die beiden Männer, in ihren Sesseln nach vorn gebeugt, lauschten angespannt. Ihr Ruf war nach draußen gedrungen in den unendlichen Kosmos - würde eine Antwort erfolgen?" Die Antwort erfolgt nicht, jedenfalls im Moment nicht, mein Sohn quietscht erneut los. Wie, zum Donnerwetter, soll ich da einen klaren Gedanken fassen. Wenigstens zehn Minuten müsste man haben, um reinzukommen ... Einen geriebenen Apfel, ja, das ist es, er soll sowieso viele Vitamine erhalten. Ich sause also wieder in die Küche, reibe den Apfel, serviere ihn auf einem Plasttellerchen. Dan ist erfreut, er strahlt mich dankbar an, aber er möchte, dass ich ihm den Löffel in den Mund schiebe. Was hab ich davon, er soll den Obstbrei selbst vertilgen, er kann das. Ich lasse Dan mit dem Teller sitzen, kehre zu Petrow zurück, der nun, nach langem vergeblichem Warten auf Antwort, den Kurs in Richtung eines fürchterlichen schwarzen Lochs ändert, eines komprimierten Sterns, der alle Körper mit gewaltiger Anziehungskraft in sich einsaugt. "Sie flogen mit Lichtgeschwindigkeit in der unermesslichen Weite und Einsamkeit des Alls dahin." Ja, jetzt hab ich' s, langsam beginne auch ich dahinzuschweben. Allerdings nicht mit Lichtgeschwindigkeit und nur solange nebenan der geriebene Apfel reicht. I-i ..., i-i ..., i-i ... Ich halte mir die Ohren zu, wäre ich doch fern von dieser Wohnung in der Einsamkeit des unermesslichen Alls. Aber ich bin hier bei Dan, niemand stellt mir ein Raumschiff zur Verfügung, und wenn, würde man mir mein Kind zwecks Betreuung und mütterlicher Pflege mit auf die Reise geben. Und ich müsste es samt Gitterbett in der Schlafkabine unterbringen. Gefangen bin ich, gefesselt, durch die Normen menschlichen Zusammenhockens.
Klaus Möckel, der am 4. August 1934 im sächsischen Kirchberg geboren wurde, erlernte zunächst den Beruf eines Werkzeugschlossers, studierte später in Leipzig Romanistik und arbeitete anschließend als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Jena. Danach war er als Lektor für romanische Literatur in Berlin tätig. Beim Verlag Volk und Welt machte er sich bald einen Namen als Herausgeber, Übersetzer und Nachdichter vor allem moderner französischer Dichter. Seine 1963 veröffentlichte Dissertation hatte Möckel über den Autor des Kleinen Prinzen geschrieben: „Die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft bei der Herausbildung von Antoine de Saint-Exupérys Weltanschauung“. Seit 1969 arbeitet der Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer als freier Autor. Seither veröffentlichte er fast 50 Bücher: Spannende Krimis, anspruchsvolle Science-Fiction-Bücher, sehr gut recherchierte historische Romane, einfühlsame Lebensberichte und wunderschöne Kinderbücher, darunter Erfolgstitel wie „Hoffnung für Dan“ und „Die Gespielinnen des Königs“ sowie die literarischen Vorlagen für die Polizeiruf-110-Folgen „Drei Flaschen Tokaier“ und „Variante Tramper“. Hinzu kommen 14 Herausgaben und 19 Übersetzungen aus dem Französischen, Spanischen und Russischen. Möckel arbeitete häufig, vor allem bei Übersetzungen, mit seiner Frau Aljonna Möckel zusammen und verfasste gemeinsam mit ihr unter dem Pseudonym Nikolai Bachnow mehrere Fortsetzungsbände zu den Märchenromanen Alexander Wolkows wie „Die unsichtbaren Fürsten“ und „Der Hexer aus dem Kupferwald“.
Versandkostenfreie Lieferung! (eBook-Download)
Als Sofort-Download verfügbar
- Artikel-Nr.: SW9783863941628.1