Verdämmerung
In dieser essayistischen Erzählung geht es um Verluste, die Neutsch selbst durchlitten hat, und obwohl er im Text manches in der dritten Person verfremdet, so erkennt man ihn dennoch hinter jeder Zeile. Voller Betroffenheit und tiefer Trauer begleitet er seine Frau, mit der er fast fünfzig Jahre seines Lebens teilte, während der letzten fünf Tage bis zu ihrem Tod. Dabei werden Erinnerungen wach, an die Ungebrochenheit ihrer Liebe, aber auch an Verletzungen. Ihre Gemeinsamkeit war erfüllt von Visionen, die sie beide mit ihrem Land verbanden, in dem sie aufwuchsen. Um so stärker trifft es sie, als sie von ihrer Republik Abschied nehmen müssen.
Schonungslos, nahezu philosophisch, versuchen sie, sowohl die Ursachen als auch die längst erkennbaren Folgen des Scheiterns ihrer Ideale zu ergründen.
Und was wird davon nicht verdämmern?
Der Autor bleibt zurück - allein mit seinen bohrenden Fragen ...
LESEPROBE:
Inzwischen jedoch hatten sich beide bei uns zu Hause einquartiert und warteten ungeduldig auf meine Antwort. Jedesmal sprach ich mit ihnen über ein Telefon außerhalb des Zimmers, weil ich mir unsicher war; ob Ulrike womöglich nicht doch, trotz ihres Zustands, einen Fetzen von unserer heimlichen Verabredung hätte mithören können.
Dann aber war es endlich soweit. Sie nickte schwach, als ich ihr nun schon zum wiederholten Male den Wunsch unserer Töchter übermittelte, hauchte ein leises Ja.
Sie kamen sofort. Schon meine Zusage am Telefon, die ja nichts anderes war als nur die Wiedergabe ihrer Zustimmung, mußte für sie die Befreiung aus einer bis dahin irrationalen Angst sein. Sie wollten sofort mit dem Auto losfahren, und so würde es höchstens zwanzig Minuten dauern, bis sie einträfen. Ich empfing sie auf dem Korridor, bat sie noch, beim Anblick ihrer Mutter nicht zu erschrecken, und täten sie es doch, sich nichts anmerken zu lassen, und blieb zurück, damit sie mit ihr allein im Zimmer sein konnten.
Nicht einmal eine Viertelstunde mochte vergangen sein, da öffneten sie wieder die Tür und traten heraus. Ich sah ihnen an, sie waren zutiefst erschüttert. Offenbar hatten sie schon am Krankenbett ihre Tränen nicht unterdrückt, denn ihre Augen waren gerötet und verweint, sie schluchzten noch immer. Minutenlang standen wir im Schweigen. Sie sei zwar ansprechbar gewesen, sagten sie nach einer Pause, aber bei jedem Wort habe sie sich gequält. Schließlich sei sie in Apathie versunken, nachdem sie ihrem Geflüster nur noch hätten entnehmen können, daß sie sehr müde sei.
Inzwischen jedoch hatten sich beide bei uns zu Hause einquartiert und warteten ungeduldig auf meine Antwort. Jedesmal sprach ich mit ihnen über ein Telefon außerhalb des Zimmers, weil ich mir unsicher war; ob Ulrike womöglich nicht doch, trotz ihres Zustands, einen Fetzen von unserer heimlichen Verabredung hätte mithören können.
Dann aber war es endlich soweit. Sie nickte schwach, als ich ihr nun schon zum wiederholten Male den Wunsch unserer Töchter übermittelte, hauchte ein leises Ja.
Sie kamen sofort. Schon meine Zusage am Telefon, die ja nichts anderes war als nur die Wiedergabe ihrer Zustimmung, mußte für sie die Befreiung aus einer bis dahin irrationalen Angst sein. Sie wollten sofort mit dem Auto losfahren, und so würde es höchstens zwanzig Minuten dauern, bis sie einträfen. Ich empfing sie auf dem Korridor, bat sie noch, beim Anblick ihrer Mutter nicht zu erschrecken, und täten sie es doch, sich nichts anmerken zu lassen, und blieb zurück, damit sie mit ihr allein im Zimmer sein konnten.
Nicht einmal eine Viertelstunde mochte vergangen sein, da öffneten sie wieder die Tür und traten heraus. Ich sah ihnen an, sie waren zutiefst erschüttert. Offenbar hatten sie schon am Krankenbett ihre Tränen nicht unterdrückt, denn ihre Augen waren gerötet und verweint, sie schluchzten noch immer. Minutenlang standen wir im Schweigen. Sie sei zwar ansprechbar gewesen, sagten sie nach einer Pause, aber bei jedem Wort habe sie sich gequält. Schließlich sei sie in Apathie versunken, nachdem sie ihrem Geflüster nur noch hätten entnehmen können, daß sie sehr müde sei.
Wir verabschiedeten uns, stumm, jeder wohl allein mit sich in Gedanken an das Furchtbare. Ich schaute ihnen nach, bis sie schleppenden Schrittes, wie mir schien, hinter einer Krümmung des Korridors zum Treppenhaus meinen Blicken entschwanden. Ich ging zurück ins Zimmer. Sie schlief.
Obwohl ich noch immer keine Erklärung dafür fand, warum sie solange gezögert hatte, Julia und Soja bei sich zu sehen, verbot ich es mir, sie zu fragen, jetzt und auch später, denn selbst wenn sie noch zu einer Antwort fähig gewesen wäre, vermutete ich, würde ich sie nur in Aufregung versetzen.
So blieb es allein meiner Grübelei überlassen, wieder die Erinnerungen wachzurufen. Was wirklich trug sich in ihrem Unterbewußtsein zu? Was in ihr löste ein solch starkes Echo aus, daß es vielleicht - vielleicht - sogar noch nachhallte bis in ihr Sterben?
Das Testament, von Ricke fortwährend angemahnt, beschäftigt Achim noch lange, und obzwar es ihm widerstrebt, er sich zwingen muß, macht er sich mit dem Inhalt vertraut, und nachdem er erst seine Scheu abgelegt, sich durchs Juristendeutsch studiert hat, gelingt es ihm schließlich, dieses vorausfixierte verdammte Abschiednehmen vom Leben mit größerer Gelassenheit zu betrachten. Indem sie sich gegenseitig zu Vollerben erklären, hätten sie laut Gesetzestext keine Komplikationen zu erwarten. Ihr Eigentum ist ihr gemeinsam erarbeitetes Gut, verbliebe somit in einer Hand, und als spätere Erben kämen für sie oder ihn nur ihre beiden Kinder in Frage.
Anders jedoch empfindet es Ricke. Sie drängt auf eine Verfügung letzten Willens, die den Pflichtteil betrifft. Würde im Falle ihres oder seines Verscheidens eine der Töchter diesen einfordern, sollte sie auch nach dem Tod des Überlebenden nur auf ihn beschränkt sein, während der anderen die gesamte Hinterlassenschaft zufiele. Ulrike hat dafür ihre Gründe, und er, da er um ihre bitteren Erfahrungen weiß, die Bestürzung jeweils, in die sie geriet und die ihm ebenfalls zu schaffen machte, stimmt ihr zu.
Mit dieser Klausel will sie vor allem Sojas Rechte schützen, weniger Julias wegen, sondern weil sie Sigmund mißtraut, ihrem Mann. Schon oft, aus gegebenem Anlaß zumeist, haben sich Ricke und Achim gefragt, wieso es dazu kommen konnte, daß ihr Schwiegersohn offenbar eine hämische Freude damit verbindet, ihnen von Zeit zu Zeit einen Schabernack zu spielen, einen Dummenjungenstreich.
Seit sie beide, an ihrem Hochzeitstag übrigens, den handschriftlich selbstverfaßten Text mit ihrem Namen unterzeichnet haben, damit alles seine Gültigkeit hat, sprechen sie nicht mehr von Tod und Überleben, nicht einmal noch vom Testament, sondern nennen es, um die Härte dessen zu mildern, was jedem dieser Wörter anhaftet, schlichthin den Fall.
Geboren 21. Juni 1931 in Schönebeck/Elbe, Studium der Philosophie und Publizistik an der Universität Leipzig, Diplom 1953, bis 1960 Kultur- und Wirtschaftsredakteur in Halle, Reporter.
Seit 1962 freischaffender Schriftsteller, Mitglied der Akademie der Künste der DDR 1974-1991, Mitglied des Schriftsteller-Verbandes Deutschlands.
Erik Neutsch ist am 20. August 2013 in Halle verstorben.
Veröffentlichungen
Romane:
Spur der Steine, Halle 1964, Bergisch-Gladbach 1991, München 1994, Leipzig 1996 (35 Aufl.)
Auf der Suche nach Gatt, Halle 1973, Benshausen 2009 (15 Aufl.)
Der Friede im Osten, bisher 4 Bände, Halle 1974-1987 (29 Aufl.)
Totschlag, Querfurt 1994 (2 Aufl.)
Nach dem großen Aufstand - Ein Grünewald-Roman, Leipzig 2003, Dößel 2010 (2 Aufl.)
Erzählungen:
Die Regengeschichte, Halle 1960 (3 Aufl.)
Die zweite Begegnung, Halle 1961
Bitterfelder Geschichten, Sammelband, Halle 1961 (3 Aufl.)
Die anderen und ich, Sammelband, Halle 1970 (5 Aufl.)
Tage unseres Lebens, Leipzig 1973
Heldenberichte, Sammelband, Berlin 1976
Akte Nora S., Berlin 1976
Der Hirt, Halle 1978, Berlin 1998
Zwei leere Stühle, Halle 1979 (10 Aufl.)
Forster in Paris, Halle 1981, Querfurt 1994 (3 Aufl.)
Claus und Claudia, Halle 1989 (3 Aufl.)
Stockheim kommt, Berlin 1998
Verdämmerung, Kückenshagen März 2003 (2 Auflagen)
Kinderbücher:
Olaf und der gelbe Vogel, Berlin 1972 (5 Aufl.)
Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte, Leipzig 1995.
Bühnenwerke:
Haut oder Hemd, Schauspiel, Urauff. Halle 1971
Karin Lenz, Opernlibretto zur Musik von Günter Kochan, Urauff. Deutsche Staatsoper Berlin 1971
Haut oder Hemd, Text und Dokumentation, Halle 1972
Da sah ich den Menschen, Dramatik und Gedichte, Berlin 1983
Die Liebe und der Tod, Gedichtband, Halle 1999
Mitautor in ca. 70 Anthologien und Sammelbänden.
Filme (nach seinen Texten):
Spur der Steine, DEFA 1966
Die Prüfung, DEFA 1967
Akte Nora S., Deutscher Fernsehfunk 1975
Auf der Suche nach Gatt, DFF 1976
Zwei leere Stühle, DFF 1982
Übersetzungen seiner Texte in über 20 Sprachen.
Verkaufte Bücher (ohne Anthologien): ca. 2,2 Millionen in Deutschland.
Auszeichnungen u.a.:
Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur 1964 und 1981
Heimich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR 1971
Kunstpreis der Stadt Halle 1971
Händelpreis der Stadt Halle 1973
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- Artikel-Nr.: SW9783863947200
- Artikelnummer SW9783863947200
-
Autor
Erik Neutsch
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 146
- Veröffentlichung 09.08.2014
- ISBN 9783863947200