Schneewittchen und Rapunzel
Geschichten aus der Kinder- und Jugendzeit
Auf den folgenden Seiten tauchen die Gestalten meiner Kindheit aus dem Nebel der Vergangenheit auf: der böse Kaufmann Sumpf, dessen Weib ich in ohnmächtiger Rachsucht beinahe umgebracht hätte, der furzende Lehrer Buchhorn, dem ich einen Spitznamen verpasste, der ihm bis zum Lebensende anhing, die Kinder des Reichspropagandaministers auf der Insel Schwanenwerder, der Feldmarschall von Mackensen in der Uniform der Totenkopfhusaren, welcher schmählich im Katzendreck erstickte, und viele andere.
Meine Heimatstadt nannte ich 1982 nicht beim Namen, aber sie ist unschwer als Brandenburg an der Havel zu erkennen. Auch die meisten Personen verschlüsselte ich, denn man weiß ja nie …Trotzdem wäre es einmal beinahe schiefgegangen. 1986 veranstaltete die größte Buchhandlung der Stadt eine Signierstunde. Mehr als zweihundert Leser standen Schlange, aber so was war im Leseland DeDeDingsda keineswegs ungewöhnlich. Bei der anschließenden Lesung saß in der ersten Reihe ein Mann, der mir durch seine Schnapsfahne und seinen finsteren Blick auffiel. Leicht verunsichert überlegte ich: Woher kennste denn den Kerl? Nachdem der Beifall verrauscht war, zischte mir der Mann zu: „Det is ne Schweinerei von dir, dette jeschrieben hast, wie dolle mein Vadder jeschielt hat. Komm du mir nachher hier raus, sag ick dir!“
Nun erst erkannte ich meinen ehemaligen Jungenschaftsführer Günter, der in dem Kapitel Als ich ein Großdeutscher Pimpf war zu Recht nicht sehr schmeichelhaft weggekommen ist. Ich verließ die Buchhandlung durch die Hintertür. Wie lange können Ressentiments noch weiterglimmen? Er war damals dreizehn, ich zwölf Jahre alt.
Eigentlich sollte der Schutzumschlag ein Mädchen und einen Jungen in der Kinderuniform des Tausendjährigen Reiches zeigen. Dies verhinderte der Leiter des Eulenspiegel Verlages: „Solange ich was zu sagen habe, kommen mir keine Nazisymbole auf die Umschläge!“
Die beiden Kindlein, die auf der damaligen Auflage zu sehen waren, trugen neckisches Zivil. So fragten auf den Buchbasaren viele Käufer: „Das ist doch wohl ein Kinderbuch?“ – Dann musste ich sie immer warnend darauf hinweisen, dass in dem Buch viele unanständiger Sprüche vorkämen.
Auch die Titelfigur, mit der ich ja aus reiner Pointensucht nicht durchweg liebevoll umgegangen bin, ist mir noch einmal leibhaftig begegnet. Nach einer Lesung 1989 in der Freien Universität Berlin stand eine ansehnliche Dame vor mir: „Kennst du mich nicht mehr? Ich bin doch dein Schneewittchen.“
C. U. W.
Wie ich beinahe TERRORIST wurde
Wie meine Laufbahn als KLAVIERVIRTUOSE scheiterte
Als ich ein großdeutscher PIMPF war
Was ich an HERRENFRISEUREN bemerkenswert finde
Weshalb ich Zweifel am Sieg der GERECHTIGKEIT hege
Als mich der LIEBE zarter Flügel striff
Wie ich ohne auszuziehen das GRUSELN lernte
Weshalb an mir ein ERFINDER verloren ging
IEZE
Warum ich nie ein ernsthafter MENSCH werden kann
Leb wohl, Rapunzel! (Eine Vorbemerkung)
Als die Familie noch Kreise zog
Wie wir unser Ende überlebten
Wie ich mühsam eine bestimmte Armbewegung verlernte
Wenn ich von meiner Fahrenszeit berichte
Ob ich ein braver Schüler war
Warum Luise fast eine Messe wert war
Warum ich Berlin zunächst gar nicht mochte
Als ich nicht einmal einen Mülleimer besaß
Wie ich allmählich zu einem Verlags-Wesen wurde
Wie ich zu meinem Burgentick kam
Warum alles seine Grenzen hat
Zu den Pflichten eines Konfirmanden zählte neben der wöchentlichen Teilnahme am Unterricht auch der allsonntägliche Besuch des Kindergottesdienstes. Da saßen wir denn ganz hinten auf der Empore der prächtigen gotischen Hallenkirche St. Katharinen und verhunzten aus voller Kehle den schönen alten Choral, zu dem Luise Henriette, die Gattin des Großen Kurfürsten, den ergreifenden Text „Jesus, meine Zuversicht“ geschrieben hatte. Wir Gassenjungen sangen indes:
„Jesus, meine Kuh frisst nicht.
Erhaltse mir am Leben!
Heu und Hafer willse nicht.
Was soll ich ihr bloß geben?“
Jeden Donnerstag zum Konfirmandenunterricht, den wir nur Konfa nannten, trat Pfarrer Ristock unter uns, um fürchterliche Musterung zu halten. Von einem Zettel las er einige Namen ab und fragte jeden einzelnen Säumigen, heftig durch die Zahnlücke zischend: „Affmuff (Asmus)! Warum warft du am Wonntag nicht fum Kindergotteffdienft?“ Die gängigen Antworten in jenem Hungerjahr 1947 lauteten: „Ick war mit meine Jeschwister uffn Acker, Ährenlesen.“ - „Ich musste mit meinem Vater in den Wald, Holz holen.“ - „Meene Eltern ham mir mit uffs Land jenommen. Ick sollt mir mal den Bauch vollhauen.“
Da Pfarrer Ristock sich offenbar von himmlischem Manna statt wie wir von irdischer Speise ernährte, packte ihn ob solcher Entschuldigungen jedes Mal ein heiliger Zorn. Jeweils drei der fast schon dem Heiland verlorenen Schäflein wies der gebeugte Hirte mit der weißen Stoppelfrisur auf eine unbequeme Sitzgelegenheit an der Seitenwand und sprach: „Schulfe, Schmitfdorf und Wujanf! Nehmt auf der Strafbank Platf, biff ihr euch wieder ehrlich gemacht habt!“
Ich erzählte meinem Vater von dieser Maßnahme. Der wollte mich stehenden Fußes vom Konfirmandenunterricht abmelden, scheiterte zwar an Mutters Widerstand, sagte mir aber unter vier Augen: „Wenn dich der Pastor dafür auf die Eselsbank jagt, darfst du von mir aus aufstehen und ganz laut die Tür hinter dir zuschlagen.“ Seitdem betete ich während des Unterrichts still vor mich hin, Pfarrer Ristock möge mich auf die Strafbank schicken, aber Gott hatte taube Ohren und ließ mich nicht zu den Auserwählten gehören.
Über den Einsegnungsakt in St. Katharinen will ich mich nicht näher auslassen. Opa Muschert saß in der ersten Reihe des Publikums, wohl um zu begutachten, wie sein von Schneidermeister Kuster zusammengestutzter Hochzeitsanzug um meine dürren Glieder schlotterte. Dabei spielte Opa nervös oder schon leicht angetrunken mit seinem Klappzylinder, und ausgerechnet beim Vaterunser machte es überlaut „klack!“
Der Hut hatte sich aus einer tellerförmigen Scheibe in eine überdimensionale Angströhre verwandelt und im Davonsausen Pfarrer Ristock mit Schwung am Hinterteil getroffen. Glucksen und Kichern unter den Konfirmanden, aber auch unter den Angehörigen.
Der Pastor fuhr herum. Vielleicht war ihm Conrad Ferdinand Meyers Novelle „Der Schuss von der Kanzel“ eingefallen. Er nahm einen Anlauf wie ein Elfmeterschütze und beförderte den vertrackten Hut mit einem kräftigen Fußstoß ins Publikum zurück. Das Geschoss traf genau den Mann, nämlich Opa Muschert, und der setzte sich in seiner Verlegenheit den Zylinder auf das kahle Haupt, worauf in unseren Reihen kein Halten mehr war.
Pfarrer Ristock aber sprach mit Donnerstimme: „Wahrlich, ich wage euch: Witwet nicht dort, wo die Fpötter witwen!“ Irgendwie brachte er seine Amtshandlung mit Anstand zu Ende. Ich wunderte mich nur, dass er diesmal die sowjetische Militäradministration in Karlshorst nicht als Buhmann bemühte. Das tat er sonst immer, wenn er glaubte, mit uns nicht fertig werden zu können. Ich konnte mir damals schon nicht gut vorstellen, dass uns auf Wunsch Pfarrer Ristocks ein schwer bewaffnetes Streifenkommando der Roten Armee zum Kindergottesdienst schleppen sollte, zumal der brave Gottesmann, wie er uns in düsteren Anspielungen oft genug wissen ließ, mit jenen ungläubigen Steppenbewohnern wenig im Sinn hatte. Solche Doppelzüngigkeit machte mich schon bald der Kirche abhold.
Die Familie war erstaunt, dass mir Pfarrer Ristock trotz alledem so einen segensreichen Konfirmationsspruch zugeeignet hatte: „Sei allzeit gesund, wie Jesus Christus war!“ Mir wurde zwar schon während der häuslichen Feier speiübel zumute, weil mir Onkel Waldemar als künftigem Mitmann eine bockwurstgroße Zigarre angebrannt hatte, aber ich überlegte noch lange, wie gesund der Herr Heiland denn gewesen sei. Ich hatte ja immerhin schon Masern, Ziegenpeter, Scharlach und Diphtherie hinter mir, und von derlei Leiden stand in der Bibel nichts zu lesen. Das Rätsel löste sich, als meine schriftgewandte Cousine Pfarrer Ristocks undeutliche Handschrift richtig entzifferte: „Sei allzeit gesinnt, wie Jesus Christus war!“
Geboren im letzten Monat der Weimarer Republik, am Neujahrstag 1933, in der einstigen märkischen Hauptstadt Brandenburg, entwich nach dem Abitur den heimatlichen Stadtmauerzwängen, gelangte in eine etwas größere Hauptstadt, ohne zu ahnen, daß man dort schon zehn Jahre später aus väterlicher Sorge bemüht sein würde, ihm den Horizont mit erheblicherem Bauaufwand zu verstellen.
Eines Tages mochte er fürder nicht mehr in der eingefriedeten Hauptstadt leben und zog es vor, in die vertrauten märkischen Wälder zurückzukehren.
Dank prophetischer Gaben bestellte er den Möbelwagen von Berlin-Pankow nach Klosterfelde für den 9. November 1989.
Während des achtunddreißigjährigen Berlin-Aufenthalts:
Studien als Dolmetscher für Englisch; Germanistik und Filmszenaristik (diese im Gegensatz zu jenen hin und wieder angewandt).
Tätig als Lektor, Redakteur, Reporter, Theaterkritiker, Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift Eulenspiegel, Entertainer in eigener Sache, Schauspieler (leider zu selten) und (vorwiegend) Schriftsteller.
Sein bekanntestes Geschöpf ist der Frisör Kleinekorte, den das Berlin-Brandenburgische Wörterbuch zu Recht an die Seite der Volksfiguren von Glaßbrenner und Tucholsky stellt.
C.U.W. schrieb u. a. Hörspiele, Kabarett-Texte, Fernsehfilme und Fernsehserien (u. a. Gespenstergeschichten wie Spuk unterm Riesenrad, Spuk im Hochhaus, Spuk aus der Gruft für Kinder von 8 bis 88 Jahren) sowie dreizehn Bücher, vom Kinderbuch über den Kriminalroman, die satirische Darstellung eigener Umwelt im weitesten Sinne bis zum bitteren erst um die Jahreswende 1989/90 nach einiger Verzögerung erschienenen Märchenroman für Erwachsene Die Geister von Thorland. Machs gut, Schneewittchen! und Lebwohl, Rapunzel! erzählen von den Kinder- und Jugendjahren in der Havelstadt Brandenburg.
C. U. Wiesner starb vermutlich am 24. Oktober 2016 in Klosterfelde.
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- Artikel-Nr.: SW9783965210691458270
- Artikelnummer SW9783965210691458270
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Autor
C. U. Wiesner
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 664
- Veröffentlichung 14.08.2020
- ISBN 9783965210691
- Wasserzeichen ja