„Entweder die Tapete verschwindet oder ich!“. Kuriose und mysteriöse Todesfälle berühmter Dichter –
Schriftsteller leben gefährlich: Einige erliegen ihrer Alkoholsucht (Joseph Roth) oder richten sich mit Drogen zugrunde (Klaus Mann), andere ereilt ein Unglück in Form eines herabstürzenden Astes (Ödön von Horváth). Viele versterben an unheilbaren Krankheiten wie Krebs (Heiner Müller) oder Aids (Hervé Guibert) oder werden Opfer von Gewaltverbrechen (Frederico Lorca). Nicht wenige scheiden freiwillig aus dem Leben; geben sich die Kugel (Ernest Hemingway) oder drehen den Gashahn auf (Sylvia Plath). Doch am Ende bleiben Fragen offen: Wo sind Schillers Gebeine? Hat der KGB das Auto, in dem Camus saß, manipuliert? Und wurde Tucholsky womöglich von einer Nazifeme vergiftet? Martin Schnick spürt den seltsamen Todesumständen nach und rekonstruiert die letzten Lebensstunden berühmter Literaten.
Die Absurdität der Existenz, der Mensch in der Revolte, das mediterrane Lebensgefühl – das sind seine Themen. Albert Camus zählt zu den bedeutendsten Vertretern des französischen Existenzialismus und erhielt 1957 den Nobelpreis für sein publizistisches Gesamtwerk. Er veröffentlichte Romane („Der Fremde“), philosophische Schriften („Der Mythos des Sisyphos“) und Bühnenstücke („Caligula“).
EINFACH ABSURD – ODER DOCH KGB-WERK?
Montag, der 4. Januar, ist ein frostiger Wintertag. Eigentlich hat Albert Camus das Zugticket schon in der Tasche. Die Weihnachtsfeiertage hatte der Autor mit seiner Familie in der Provence verbracht. Frau und Kinder waren bereits einige Tage zuvor abgereist. Er selbst will nun folgen und von Lourmarin aus mit dem Zug nach Paris zurückkehren. Aber dann lässt er sich doch noch von seinem Freund Michel Gallimard, einem Enkel seines Verlegers Gaston Gallimard, überreden. Michel Gallimard ist stolzer Besitzer eines rasanten Sportwagens, eines 355 PS starken Facel Vega, von denen nur wenige Exemplare gebaut wurden. Camus ist eigentlich kein Freund schneller Autos. Er selbst fährt nur einen einfachen Citroën. Gemeinsam mit Gallimards Frau Janine und deren Tochter Anne macht man sich am frühen Nachmittag gegen 14:00 Uhr auf den Weg nach Paris. Camus nimmt auf dem Beifahrersitz Platz, zwischen seinen Beinen die Aktentasche aus Leder geklemmt, darin das Manuskript eines neuen Romans, an dem er gerade arbeitet. Kurz darauf, auf der Nationalstraße 6 in der Nähe des Örtchens Villeblevin, gerät der Sportwagen auf schnurgerader, aber eisiger Fahrbahn ins Schleudern und prallt zunächst mit voller Wucht gegen einen Baum, dann gegen einen zweiten. Albert Camus ist sofort tot, Gallimard erliegt einige Tage später seinen Verletzungen. Frau und Tochter, die hinten saßen, bleiben hingegen unverletzt. Gallimards Hündchen Floc nimmt Reißaus und wird nicht wieder gesehen.
Camus, der 1957 den Literatur-Nobelpreis zugesprochen bekam, ist zu jener Zeit weltberühmt. Daher findet sein Tod große Beachtung in den Medien. Zur Unglücksursache bieten die damaligen Zeitungen ein breites Spektrum an Hypothesen. Die einen halten eine überhöhte Geschwindigkeit für ursächlich (die Sprache ist von über 180 km/h), andere Blätter vermuten einen Fahrfehler, wieder andere spekulieren über einen epileptischen Anfall des Fahrers, der das Unglück ausgelöst haben könnte. Oder wollte Gallimard nur einem streunenden Hund ausweichen? Die Theorie, dass ein geplatzter Reifen zu dem tragischen Unfall führte, setzt sich durch und gilt lange Zeit als die wahrscheinlichste. Camus ist gerade einmal 46 Jahre alt geworden, und viele Fans sehen in diesem tragischen Ende eine Entsprechung zu seiner philosophischen Theorie vom Absurden der Existenz. Dieser Tod erscheint ihnen ebenso absurd wie die Kurzschlusshandlung seines Protagonisten aus „Der Fremde“ (1942), der offenbar völlig grundlos am Strand von Algier einen Araber niederschießt. Oder wie die mythische Gestalt des Sisyphos, die auf ewig einen Stein den Hügel hinaufschiebt, bevor dieser ihr kurz vor Erreichen des Gipfels abermals in die Tiefe entgleitet. So schreibt Camus in seinem Essay „Der Mythos des Sisyphos“ (1942):
„Das Gefühl der Absurdität kann einen beliebigen Menschen an einer beliebigen Straßenecke anspringen. Es ist in seiner trostlosen Nacktheit in seinem glanzlosen Licht nicht zu fassen.“
Dann das! Ein halbes Jahrhundert später spekuliert die italienische Tageszeitung Corriere della Serra im August 2011: Wurde Camus im Auftrag des KGB ermordet? Diese These vertritt zumindest der italienische Intellektuelle Giovanni Catelli. Jener will entsprechende Hinweise in den posthum erschienenen Tagebuchaufzeichnungen des tschechischen Dichters und Übersetzers Jan Zabrána gefunden haben, der bereits 1984 verstarb. Darin heißt es an einer Stelle:
„Ich hörte etwas sehr Seltsames aus dem Munde eines Mannes, der sehr gut informierte Quellen hatte. Ihm zufolge wurde der Unfall, der 1960 Albert Camus das Leben kostete, von sowjetischen Spionen organisiert. Sie beschädigten einen Reifen des Wagens, indem sie ein speziell angefertigtes Gerät benutzten, das bei hohem Tempo in den Reifen schnitt oder ihn durchlöcherte.“
Den Befehl zum Sabotageakt soll der damalige sowjetische Außenminister Dmitri Schepilow persönlich gegeben haben. Camus hatte diesen 1957 in einem Artikel für die Zeitschrift Franc-Tireur für die blutige Niederschlagung des Ungarnaufstandes verantwortlich gemacht und von einem „Schepilow-Massaker“ gesprochen. Überhaupt ging der Nobelpreisträger – anders als Jean-Paul Sartre – immer wieder auf kritische Distanz zu den kommunistischen Regimen und bezog klar Position für Dissidenten und Freiheitsrechtler. Es gibt also durchaus gute Gründe, die die KGB-These zu stützen scheinen. Dagegen spricht allerdings, dass sich Camus am 4. Januar 1960 kurzfristig für die Fahrt mit dem Auto entschieden hat, Agenten also kaum Zeit für Planung und Umsetzung gehabt hätten. Zudem handelte es sich bei dem FV um den Wagen von Gallimard, der nicht im Visier der Agenten stand. Wenn man Camus hätte liquidieren wollen, hätte der KGB sicher einen besseren Moment finden können. Dennoch bleiben die wahren Umstände des Todes bis heute ungeklärt. Immerhin wurde das unvollendete Manuskript, das sich in Camus̕ Aktentasche befand, 1994 dann doch noch posthum veröffentlicht: „Der erste Mensch“, sein wohl autobiographischster Roman über seine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen in Algerien, über den abwesenden Vater und die ungebildete Mutter. Erschienen ist das mediterrane Fragment natürlich bei Gallimard.
Als 2009 der damalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy eine Überführung der sterblichen Überreste des Schriftstellers ins Pantheon einleiten wollte, scheiterte das Vorhaben am Widerspruch des Sohnes Jean Camus. Dieser befürchtete eine politische Instrumentalisierung und winkte ab. Und so liegt Albert Camus bis heute in dem kleinen Provinzstädtchen Lourmarin begraben, unter einem schlichten Stein, auf dem lediglich sein Name und zwei Jahreszahlen eingraviert sind.
Martin Schnick, geboren 1966 in Andernach, studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie in Mainz, Bonn und Paris. Zurzeit lebt er in Köln und ist als Werbetexter, Übersetzer und Theaterregisseur tätig. Todesdatum und -ort sind noch nicht bekannt.
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- Artikel-Nr.: SW9783948486181458270
- Artikelnummer SW9783948486181458270
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Autor
Martin Schnick
- Verlag Bedey Media GmbH
- Seitenzahl 240
- Veröffentlichung 10.10.2020
- ISBN 9783948486181
- Verlag Bedey Media GmbH