Aufforderung zum Tanz
Bettina ist Schülerin an der Berliner Ballettschule. Die Ausbildung dort fällt ihr nicht leicht.
Zum Glück geht es nicht ihr allein so. Die anderen machen auch Fehler. Bettina vergleicht sich im Spiegel mit ihnen, und es tröstet sie zu sehen, wie schön ihre eigenen Beine auswärts gedreht sind und wie exakt geschlossen und gestreckt in der fünften Position. Es ist zwar nicht ihr Verdienst, ihre Beine können das von Natur aus, aber schließlich ist es auch kein Verdienst, von Natur aus musikalisch zu sein, so musikalisch zum Beispiel wie das Mädchen Nathalie.
Nathalie ist Bettinas Freundin. Im Unterschied zu ihr hat sie schon einen Freund, einen Slawistik-Studenten.
„Schläfst du mit ihm?“, fragt Bettina in geheimnisvollem Flüsterton.
„Natürlich. Das würdest du wohl nicht tun?“
Bettina beeilt sich zu beteuern, doch, das würde sie auch tun, wenn sie einen Freund hätte.
„Durch Chris hab ich einen Begriff gekriegt, was Sex eigentlich ist“, sagt Nathalie. Sie spricht keineswegs im Flüsterton, während sie neben Bettina durch den hellen verglasten Verbindungsgang zum Umziehen ins Hauptgebäude geht.
Bettina nickt und wünscht den Augenblick herbei, in dem sie ebenfalls erfahren könnte, was Sex ist. Zunächst aber muss sie die allereinfachsten Erfahrungen sammeln, zum Beispiel, wie man sich anzieht in einem Studentenklub.
Nathalie zuckt die Schultern. „Chris würde sagen: Jeder, wie er möchte.“
Dann aber findet auch Bettina einen Freund – oder besser gesagt, ein Freund findet Bettina und zwar auf dem Berliner Weihnachtsmarkt.
„Und wer bist du?“, fragt sie.
„Ich bin Arne Bornstedt, Bauarbeiter, Berliner von Geburt an, neunzehn Jahre alt, wohnhaft Greifswalder Straße, eins zweiundsiebzig groß, krummbeinig, ansonsten gesund bis vor Kurzem. Seit etwa einer Stunde psychisch erkrankt, mit rapider Verschlechterung.“
„Ist das ansteckend?“
„Hoffentlich.“
Bettina neigt den Kopf zurück. Sie möchte ebenfalls sein Gesicht genau betrachten, aber es liegt im Schatten seiner Mähne.
„Was hast du für Augen, blaue?“
„Ja. Sie sind funktionstüchtig und zuverlässig. Sie haben nur die Neigung, sich zu vergucken. Beinah wären sie mir sogar aus dem Kopf gefallen, vorhin, als zwei Mädchen über den Weihnachtsmarkt gingen, und die eine davon. Also da fing das an mit den Augen. Die eine von den beiden hatte nämlich bemerkenswerte Ohren, musst du wissen.“
Aber ist der junge Mann auch der Richtige für Bettina? Und was passiert, wenn Arne zur Armee muss?
„Sehr richtig. Wer ist heutzutage noch dermaßen abhängig? Wir gehen in den Studentenklub.“
„Da war ich schon mal.“
„Na und? Übrigens kann ich mich gar nicht besinnen. Wann denn?“
„Damals hattest du Chris.“
„Siehst du! Inzwischen ist Conny an der Reihe. Der wird dir gefallen, der ist amüsant. Du kommst mit, das steht fest.“
„Und wenn ich gar nicht in Stimmung bin?“
„Erst recht. Man geht gerade deshalb aus, um in Stimmung zu kommen."
So abgeneigt, wie Bettina tut, ist sie eigentlich nicht, jedenfalls nicht immer. Sie hat es manchmal satt, in den freien Stunden nur Briefe zu schreiben, Bücher zu lesen, für die Schule zu lernen. Sie wird unruhig, fährt am Wochenende nach Hause und weiß nicht, was beginnen. Dann kommt sie sich vor wie Janko, der rastlos umhertapst, sobald einer von der Familie weggefahren ist. Janko sucht und horcht und wartet, bis er schließlich, ergeben ins Unabänderliche, traurig vor sich hindöst. Bettina denkt, dass sie sich auch ins Unabänderliche ergeben muss, aber vielleicht muss sie nicht unbedingt traurig vor sich hindösen.
Nathalies Freund Conny kennt sie nur flüchtig. Zwei- oder dreimal ist sie ihm kurz begegnet, bei Nathalie zu Hause oder wenn er vor der Ballettschule aufkreuzte. Sie weiß weiter nichts von ihm, als dass er an der Schauspielschule studiert. Nathalies Auskünfte über ihre Freunde sind ja immer knapp.
Dieser Conny nun hat etwas Verwegenes an sich. Kaum erblickt er die beiden Mädchen, da stürzt er auf sie zu durch die Kellerräume des Studentenklubs. Er küsst Nathalie, und ehe Bettina seine Absicht ahnt, küsst er sie ebenfalls. Dann schleicht er vor ihnen her, rückwärts, mit tiefen Verbeugungen. Am Tisch richtet er sich auf und ruft seinen Freunden herrisch zu: „Platz da für meine Schönen!“
„Ja, ja“, sagt Nathalie, „das lass mal lieber. Du spielst wohl gerade die Rolle eines Schurken. Damit erschreckst du meine Freundin. Sie ist ein stilles, ernstes Mädchen.“
Sie setzen sich mit an den Tisch, bereitwillig haben die anderen Connys Befehl zum Platzmachen befolgt. Einer steht auf, um Gläser zu holen. Es wird Wein getrunken, mehrere Flaschen stehen schon da. Nathalie schiebt zehn Mark zu den Flaschen hinüber. Das ist hier üblich. Man legt Geld auf den Tisch, soviel man für nötig hält, dann trinkt man mit. Flüsternd klärt Nathalie die verwunderte Bettina darüber auf, dass sie den Schein wahren müsse. Zigaretten kann man ablehnen, Alkohol nicht, das sieht spießig aus. Wenn keiner hinguckt, gießt Nathalie Selterswasser in ihren Wein.
„Verzeih“, sagt Conny, indem er sich vertraulich zu Bettina neigt, „ich kann nicht große Worte machen, und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt. Mein Pathos brächte dich gewiss zum Lachen, hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt.“
Er bringt sie aber sehr wohl zum Lachen. Sie ist auf Langeweile gefasst gewesen, auf enttäuschtes Abseitsstehen, wie vor einem Jahr, als sie zum ersten Mal hier war. Diesmal ist es anders. Aus den Boxen erschallt Musik, da wollen gleich mehrere mit ihr tanzen. Die Mädchen sind offen und freundschaftlich, als wären sie schon lange miteinander bekannt. Ähnlich wie damals sind die Gespräche am Tisch sprunghaft und voller Anspielungen, aber sie fliegen nicht mehr als unverständliche Bruchstücke an Bettinas Ohren vorbei. Auf geheimnisvolle Weise hat sie die Fähigkeit erworben, gleichzeitig nach rechts und links zu hören, schnell umzuschalten und zu reagieren.
Conny ist ein hervorragender Tanzpartner. Bettinas Soloeinlagen beflügeln ihn, und seine deutlich bekundete Anerkennung wiederum spornt sie an.
„Wie kommt eigentlich Nathalie auf die Idee, dich als stilles, ernstes Mädchen vorzustellen?“, erkundigt er sich.
„Weil sie mich kennt. So wie heute bin ich selten. Vor Kurzem hab ich eine Krise gehabt. Ich hab sogar mein Studium abbrechen wollen. Keiner konnte das begreifen, aber ich habe eben nicht mehr an mich geglaubt. Da staunst du, was?"
„Nein“, sagt Conny. „Ich nehme an, dass du bei euch zu den Besten gehörst.“
Sie lacht geschmeichelt.
„Und Selbstzweifel“, fuhr er fort, „darunter leiden gerade die Besten. Das Mittelmaß ist von sich überzeugt.“
Bettina erglüht vor Stolz. Sie wünscht sich, Arne könnte zuhören.
Conny sagt: „Die wirklich bedeutenden Künstler sind in der Regel bescheiden. Allerdings“, schränkt er ein, „steht ihnen die Bescheidenheit gewissermaßen gut zu Gesicht. Es ist relativ leicht, bescheiden zu sein., wenn man weiß, dass man bedeutend ist. Dann kann man’s sich leisten, Angst und Zweifel zuzugeben.“
„Na ja", sagt Bettina, „zum Glück ist meine Krise jetzt vorbei.“
Conny hebt mit großer Geste die Hand. „Frohlocke nicht, denn eifersüchtig sind des Schicksals Mächte! Voreilig Jauchzen greift in ihre Rechte.“
„Du dichtest wohl gern?“
„Keine Spur. Ich zitiere doch aus ‚Faust' und ,Wallenstein', was jeder kennt.“
Bettina kennt es nicht. Ermahnungen der Lehrer kommen ihr in den Sinn. Demnach hapert es oft mit der Allgemeinbildung beim Ballett. Die Lehrer warnen vor der Peinlichkeit, wenn später in den Theatern die Kollegen vom Ballett einfältig und unwissend zwischen denen vom Schauspiel sitzen. Das, denkt Bettina, soll mir nicht passieren. Nathalie hat recht, man muss unter die Leute!
Christa Grasmeyer wurde 1935 in Schwerin geboren. Sie arbeitete zunächst in verschiedenen Berufen, war Journalistin, Arztsekretärin, im Buchhandel tätig und als Sekretärin in einem Sportclub.
1975 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, dann regelmäßig weitere Bücher, bis sich fünfzehn Jahre später ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen so grundlegend veränderten, dass sie das Schreiben aufgab und nur noch gelegentlich die eine oder andere Kurzgeschichte verfasste.
Christa Grasmeyers Bücher wenden sich vorwiegend an jugendliche Leser. Ihre Erzählungen handeln von der schwierigen Lebensphase der Jugendzeit, von Liebe und Freundschaft, von familiären Konflikten oder von Problemen bei der Berufsausbildung.
Christa Grasmeyer lebt in Schwerin, seit 1977 freischaffend.
Bibliografie:
Eva und der Tempelritter, Verlag Neues Leben, Berlin 1975 (Prag 1979, Warschau 1983, Budapest 1985)
Kapitän Corinna, Verlag Neues Leben, Berlin 1977
Der unerwünschte Dritte, Verlag Neues Leben, Berlin 1979 (Budapest 1988)
Ein Fingerhut voll Zuversicht, Verlag Neues Leben, Berlin 1980
Verliebt auf eigene Gefahr, Verlag Neues Leben, Berlin 1984
Aufforderung zum Tanz, Verlag Neues Leben, Berlin 1986
Friederike und ihr Kind, Verlag Neues Leben, Berlin 1988
Was hast du getan?, Kurzgeschichte in: "Wahnsinn", Verlag Otto Maier, Ravensburg 1990
Drei von draußen, Kurzgeschichte in: Hamburger Abendblatt 1996
Literarische Auslese "Weihnachtsveranstaltungen", Radius-Verlag, Stuttgart
May be - Kurzgeschichte, unveröffentlicht
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- Artikel-Nr.: SW9783956550263
- Artikelnummer SW9783956550263
-
Autor
Christa Grasmeyer
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 243
- Veröffentlichung 20.08.2014
- ISBN 9783956550263