Die Dunkelmagierchroniken
Die Erben der Flamme
Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, nachdem der Gottkönig der Welt Kyranis ihrer Magie beraubte und sich zum alleinigen Herrscher erkor. Seit jeher führen seine Anhänger, die Dunkelmagier, ein harsches Regiment über die vereiste Welt, in der nur unterirdisches Leben möglich ist. Unter ihrer Tyrannei fristen die überlebenden Rassen ein Dasein als Sklaven, geboren um dem Gottkönig bis in den Tod zu dienen. Im Rausch ihrer Macht verkennen sie jedoch, dass sich Widerstand regt – und das mitten unter ihnen.
Band 1: Die Erben der Flamme
In den Ruinen der Zwergenstadt Belerock zählt für die letzten Menschen der Welt nur eines: Überleben. Erbarmungslos bestimmen die Dunkelmagier das Leben von jedem von der Wiege bis zur Bahre. Lee ist ihr vorbestimmtes Schicksal als Untergebene zuwider, doch hätte sie nie zu träumen gewagt, dass ihr Protest am Großen Platz in eine gefährliche Reise mit dem jungen Aufwiegler Akio und dem archaischen Feuerwesen Cherome mündet, welche das Schicksal von ganz Kyranis verändern wird.
Prolog
Das Geheime Lager
Brega hielt den Atem an.
Eine Feuerwoge rollte über die Decke hinweg und fraß sich in
Schichten aus Eis und Zeit. Sie prallte gegen einen mannshohen
Eiszapfen, dessen Spitze sich löste und auf dem Boden zerschellte.
Splitter bohrten sich in die Leiber von Bregas Feinden.
'Für die Freien Magier!', rief eine junge Frau triumphierend.
Sie ging am Rand der Holzbrücke in Kampfposition und ihre
zerstörerische Energie loderte ein weiteres Mal um ihre Hände
auf. Von der Gegenseite schwappte eine grüne Rauchwolke über
den Abgrund auf die Magierin zu. Ihr letzter Schrei verhallte in
den undurchdringlichen Schwaden des Giftnebels. Als der Rauch
wich, lag die Novizin reglos am Boden.
Brega wandte seinen Blick ab und rutschte zur anderen Seite
des Felsens, der den Eingang ins Geheime Lager flankierte. Seine
Finger spannten sich um den Griff seiner Axt, als suche er vergebens
Halt in einer Welt aus chaotischen Mächten, denen Stahl
nicht gewachsen war. Ein Kind lag in einen Korb aus Wurzelfasern
zu seinen Füßen. Eingehüllt in einer Lakami-Decke war lediglich
sein rosa Gesichtchen zu sehen. Sein Plärren verband
sich mit dem Missklang aus gemurmelter Magie und rezitierten
Gesängen, die von den Eiswänden widerhallten.
'Schh, Oralee, dein Vater und deine Mutter kommen gleich.'
Mit der freien Hand strich Brega über den Kopf des Mädchens,
doch wollte es sich nicht beruhigen.
Der Boden unter seinen Füßen bebte, als die Magie erneut aufprallte.
Oralee machte einen überraschten Gluckser. Brega wagte
einen Blick über den Felsen und erspähte Männer und Frauen
in ausgeblichenen Roben, die am Rand des Abgrundes ausharr-
ten, und um ihre Heimat kämpften. Magie umspielte ihre gespreizten
Finger. Sie zeigte sich in einem Schauspiel der Elemente,
deren Wirken an den Eiswänden reflektiert wurde. Unablässig
flogen ihre Geschosse auf die Gegenseite der Brücke.
Brega hielt weiterhin Ausschau nach Oralees Eltern. Beim
Schallen des Alarms waren sie sofort aufgebrochen, um ihren
Brüdern und Schwestern beizustehen. Iltharis und Loranu hatten
ihm den Schutz ihres Kindes anvertraut. Er fuhr sich mit der
Hand über das Gesicht. Der Schweiß auf seiner Haut vermischte
sich mit den herabregnenden Tropfen der Eisdecke, die sich
durch die zunehmende Hitze des Magiewirkens auflöste. Jahr
um Jahr war die Kälte der Oberfläche tiefer in die Erde eingedrungen
und hatte die Zuflucht mehr und mehr zu Eis erstarren
lassen. Nun zerging es durch jene arkanen Kräfte, welche sich
die Freien Magier selbst verboten hatten, um ihre Spuren zu verwischen.
Bis heute. Die Dunkelmagier hatten den Unterschlupf
der letzten Freien Magier von Kyranis gefunden und waren gekommen,
sie zu vernichten.
Angespannt verfolgte Brega das Geschehen. Die Schlacht
tobte weiterhin, die magischen Angriffe seiner Verbündeten konzentrierten
sich inzwischen auf den neu entstandenen Schatten
auf der gegenüberliegenden Seite der Grotte. Die Dunkelmagier
hatten sich mit einem Netz ihrer finsteren Magie umgeben. Brega
versuchte, die Gestalten vor dem Höhlenaufgang zu erkennen,
das Gegenlicht der Oberwelt konnte das magische Netz der
Dunkelmagier jedoch nicht durchdringen. Ebenso verhielt es
sich mit den Magieschlägen der Freien, die von dem dunklen
Magiekokon einfach verschluckt wurden.
Eine Stimme wie tausend Messerstiche erklang aus dem Inneren
des Schutzschildes. Ihr Krächzen übertönte den Lärm des
Kampfes: 'Ihr Narren! Die Macht des Einen durchfließt uns.
Mit eurer kümmerlichen Restmagie könnt ihr nicht bestehen.
Zeigt Reue und ergebt euch, so sollt ihr Gnade des Gottkönigs
erfahren.'
'Für die Freien!', schallte es als Antwort aus allen Kehlen.
Der Aufschrei der letzten freien Magier von Kyranis beantwortete
der dunkle Sprecher mit Gelächter. 'So denn, sterbt
durch die Faust der Eisorks. Angriff!'
Nicht der eindringende Wind ließ Brega frösteln, es war die
Präsenz der Kälte selbst, die sich nun zu rühren begann. Hinter
der Magiehülle der Dunkelmagier traten saphirblaue Ungetüme
hervor, die sogleich auf die Brücke zumarschierten. Ihre Schritte
waren träge und schlurfend, sie wirkten wie wandernde Schneehügel,
welche die Holzbrücke überrollten.
Vor einem Jahr war Brega im Geheimen Lager erwacht, ohne
sich an sein vergangenes Leben erinnern zu können. Stets empfand
er es wie eine Wiedergeburt, doch während er die Eisorks
jetzt betrachtete, wurde ihm klar, dass diese nicht die ersten
waren, denen er begegnet. Tief in seinem Innern wusste er, dass
sie einer gut geführten Axt nicht standhalten würden.
'Ich muss ihnen beistehen, Kleines.' Vorsichtig zog Brega die
Kapuze tiefer über Oralees Gesicht und schob den Korb in eine
Mulde unter dem Felsen hinein. Dies würde vorerst als Versteck
genügen. Er musste sich dennoch zwingen, von dem Mädchen
abzulassen.
Rasch überwand Brega den Abstand zur Front. Mit der Axt in
der Hand stürmte er an der Spitze der Freien Magier über die
Brücke. Weiße, pupillenlose Augen der Eisorks blickten stoisch
durch ihn hindurch. Ihre Hauer ragten wie Dolche aus den Fratzen
hervor und ihre Hornhaut erinnerte Brega an ein zerklüftetes
Eisfeld. Darunter befanden sich jedoch dumpfe Wesen,
deren Lebenssinn es war, ihren Erschaffern, den Dunkelmagiern,
zu gehorchen und für sie zu kämpfen. Bis zu ihrem Ende.
Das Aufstampfen der Eisorks ließ die Brücke erzittern. Ihre
breiten Körper behinderten sie selbst, nur drei fanden zugleich
auf dem Überweg Platz.
Noch ehe Brega den ersten Eisork erreichte, umschlang diesen
ein blitzartiges Netz. Das Ungetüm wurde zu Seite gerissen und
stürzte in die Tiefe. Nur noch ein Krachen verkündete seinem
Aufprall auf den Eisspitzen, die sich wie Raubtierzähne vom
weit entfernten Abgrund abhoben.
'Guter Schuss!', rief Brega dem Magiernovizen zu, der an seiner
Seite erschienen war.
Der Junge erwiderte es mit einem Lächeln, das jedoch einen
Moment später in seinem Gesicht erstarb. Brega folgte seinem
Blick. Kalte Angst umschlich sein Herz, aber waren es nicht die
Eisorks, die sie auslöste. Pechschwarze Tentakel flogen aus dem
Kokon der Magier über die Brücke hinweg und griffen nach der
Eisork-Gruppe. Bald waren die Wächter vollkommen von rauchenden
Magiesträngen umschlossen; ein Schutzschild. Brega
fluchte über die Hinterlist der Dunkelmagier, doch würde er sich
davon nicht beeindrucken lassen.
Er überwand die wenigen Meter zum nächsten Eisork und
drosch auf ihn ein. Schwerlich durchschnitt das Axtblatt die magischen
Schlingen, die sofort wieder zusammenwuchsen. Der
Eisork schwang seinen steinernen Knüppel, doch Brega duckte
sich mühelos unter dem Schlag hinweg. Die Axt abwehrend vor
dem Körper setzte er zurück. Wie Salz in einer Wunde brannte
in Brega der unüberhörbare Hohn der Dunkelmagier. Er hob
die Waffe über den Kopf, machte eine Halbkreisbewegung und
ließ sie auf die Brust eines Orks niederfahren. Knirschend
durchbrach die Axt die harte Eishaut. Ohne jegliche Regung im
Gesicht sackte der Koloss zu Boden, woraufhin sein Nebenmann
den Platz einnahm. Sofort ging dessen Knüppelschlag auf
Brega nieder, er konnte jedoch zur Seite ausweichen. Ein Blitzstrahl
fuhr einen Augenblick später an ihm vorüber und prallte
Funken sprühend auf die Brust des Eisorks.
'Brenne!' Erneut erschien der Novize neben Brega.
Das angeschlagene Monster taumelte, wurde aber von zwei
dahinter stehenden Waffenbrüdern weiter vorgeschoben. Zu
dritt schlurften sie auf Brega und den jungen Blitzmagier zu.
'Kommt doch her!' Der Novize holte provozierend mit seinem
Stab aus und wollte den übergroßen Feinden entgegenlaufen.
Brega schnappte sich den kampfwütigen Jüngling und zog ihn
zurück. Gerade noch rechtzeitig. Die Wucht des mehrmaligen
Aufpralls riss sie beide zu Boden. In Bregas Ohren dröhnte es.
Durch tränenverschleierte Augen sah er die drei Eisorks vor ihm
wie weiße Fackeln aufleuchten, ehe sie zu Asche zerfielen. Aus
der Ferne rauschten Magiekugeln und Blitze an Brega und den
Novizen vorüber in den Pulk von Eisorks auf der Brücke hinein.
Die Freien Magier hatten ihren Angriff fortgesetzt. Doch schritten
die Eisorks weiterhin über die Brücke.
'Rückzug!' Eine befehlsgewohnte Stimme drang zu Brega
durch und sofort wandte er sich um. Sein Blick fand einen Mann
in sackähnlicher Robe und Haaren wie Stroh. Der Anführer der
Freien Magier blickte über den Abgrund auf die andere Seite.
Iltharis’ Haltung wirkte entschlossen. 'Beeilt euch!'
Brega zerrte den widerspenstigen Novizen mit sich und folgte
den anderen Magiern hintendrein. Einen Herzschlag später lag
er erneut auf den Holzbohlen der Brücke. Klauen aus Schwärze
umschlossen Bregas Beine, ehe er reagieren konnte, und brachten
ihn sofort zu Fall. Neben sich sah er den Novizen liegen,
ebenfalls von schwarzer Magie umschlungen. Seine Augen waren
geschlossen und eine Platzwunde prangte ihm auf der Stirn. Wie
Fesseln schnürte der Tentakelzauber der Dunkelmagier sich
enger um Bregas Körper. Er stemmte sich gegen das magische
Gefängnis, doch alsbald war er zur Bewegungslosigkeit verdammt.
'Brega!'
Er vernahm Iltharis‘ Stimme. Der oberste Magier des Geheimen
Lagers streckte in jenem Moment seine Hände aus und ein
flimmerndes Grün spross aus ihnen hervor. Eine Frau in dunkelroter
Robe gesellte sich an Iltharis' Seite. Ihr Körper begann
orangegelb aufzuleuchten, als Flammen nach ihr leckten. Loranu
legte eine Hand auf Iltharis’ Schulter. Ihr Feuerzauber tastete
sich vor und vermischte sich mit dem Grün in den Händen ihres
Mannes. Die Holzbohlen unter Brega vibrierten. Doch er schaffte
es, den Kopf soweit zu drehen, um in ein ausdrucksloses, bleiches
Gesicht zu blicken. Ein Eisork näherte sich mit gleichmäßigen
Schritten.
'Rührt euch nicht!', rief Iltharis.
Braune Ranken wuchsen aus den Händen des Naturmagiers
und Loranus Feuer umspielte das Geflecht, sodass es aufflammte.
Gleich einem Peitschenschlag schnellten die brennenden
Ranken auf die Tentakel um Bregas Körper nieder. Kräfte
wallten um ihn, als wollten sie die Luft aus ihm herauspressen.
Die Pflanzen zerlegten die schwarzen Fangarme, bis schließlich
die Tentakel mitsamt Iltharis’ Naturzauber verpufften. Übrig
blieb lediglich Staub.
Brega setzte sich auf und amtete durch. Ein klobiger Schatten
erschien über ihm - er agierte reflexartig. Der Sprung nach hinten
bewahrte ihm das Leben, denn eine Sekunde später zertrümmerte
der Steinknüppel des Eisorks das Holz der Brücke, wo er
gerade noch gelegen war. Mühevoll kroch Brega zu dem reglosen
Jungen, packte ihn an den Unterarmen und zog ihn mit sich.
Der von schwarzen Fäden eingehüllte Eisork holte erneut aus.
Ebenso taten es die beiden Mitstreiter, die in diesem Moment
an seiner Seite erschienen waren.
Brega bemerkte, wie sich etwas über ihm bewegte. Aus dem
Nichts war ein glühender Film an der Decke erschienen. Lava
prasselte wie Regen auf die drei Eisorks nieder. Sie verschwanden
in einem Schwall aus Dampf, fielen um und rührten sich
nicht mehr. Brega wandte sich ab, wuchtete sich den Novizen
auf die Schulter und rannte zum Ende der Brücke.
Sofort schlossen ihn dutzende Freie Magier ein und verstärkten
den Angriff gegen die nahenden Eisorks. Brega entfernte
sich ein gutes Stück vom Kampfgeschehen und suchte Deckung
hinter einer Ansammlung von Felsen. Eine greise Heilerin nahm
sich sogleich des jungen Blitzmagiers in seinen Armen an.
'Wo ist sie?' Zwei Hände rissen ihn unwirsch herum. Loranus
Augen glühten wie Stichflammen. Ein Kranz aus Feuer hatte sich
um ihre Handgelenke gebildet. 'Sag mir, wo meine Tochter ist!'
Ein mehrfacher Aufschrei lenkte Loranu und Brega ab. Die
Eisorks hatten die Brücke soeben hinter sich gelassen und gingen
in den Nahkampf über. Dumpf gingen die Keulenschläge auf
die Körper der Magier nieder, Brega hörte, wie Loranu die Luft
einsog. Er fühlte sich, als ob jeder Hieb ihn selbst treffen würde.
Iltharis erschien an Loranus Seite. 'Wo ist Oralee, Brega?'
'In Sicherheit', erwiderte dieser schnaufend und deutete auf
den Felsen am Eingangstunnel. 'Sie ist in der Mulde. Dort, wo
du deine Sachen für die Jagd bereitlegst.'
Iltharis‘ Blick wurde hart. 'Nimm sie und geh.'
Brega brauchte einige Sekunden, um zu begreifen. Er wollte
etwas erwidern, doch Loranu kam ihm zuvor. 'Nein! Nicht so!'
Iltharis umschloss die schlagenden Hände seiner Frau, die sofort
unter seinem Griff erlahmten. 'Es ist Oralees einzige
Chance.'
Brega hörte nicht, was Loranu sagte. Der Druide berührte das
Gesicht seiner Frau und auch seine Lippen formten lautlose
Worte. Brega erkannte, dass sie sich mittels Gedanken unterhielten.
Loranu riss sich von ihrem Mann los und trat Brega entgegen.
Die Qual in ihren Augen verwandelte sich in ein Inferno,
als sie sich vor ihm aufbaute.
'Beschütz sie.' Es war keine Drohung, die aus Loranus Stimme
sprach. Es war die Bitte einer Mutter, die bereit war, ihr einziges
Kind wegzugeben.
'Ich werde sie beschützen', sagte Brega. Er wusste, dass er
niemals anders entschieden hätte.
Loranu nickte kaum merklich. Abrupt wandte die Feuermagierin
sich ab und eilte zurück zum Kampfgeschehen.
Iltharis senkte eine Hand auf seine Schulter. 'Vor einem Jahr
habe ich dich im Schneesturm gefunden und dich vor dem Tod
bewahrt. Ich habe dich im Geheimen Lager aufgenommen und
wie einen Bruder behandelt. Nun begleiche es.'
Bregas Lippen zitterten. Er war unfähig, etwas zu erwidern.
'Nimm den Fluchttunnel, bevor es zu spät ist', fügte der Naturmagier
hinzu. Wie zu Bestätigung von Iltharis’ Worten durchbrachen
sechs Eisorks gerade die Verteidigungslinie der Freien
Magier. Weitere setzten ihnen nach.
Brega duckte sich instinktiv, als plötzlich eine Wand aus Feuer
über die ausfallenden Eisorks hinweg flog und explodierte. Die
Höhle bebte. Iltharis und Brega hielten einander fest. Ein Blick
genügte und sie beide wussten, dass dies Loranus Werk gewesen
war. Unbeeindruckt preschten die Eisorks in den neu entstandenen
Aufschlagskrater hinein und stiegen über ihre toten Kameraden.
Iltharis schrie gegen den tobenden Kampflärm an. 'Fliehe,
mein Freund, und schau nicht zurück. Geh nach Süden, zur
Zwergenstadt im Berg!'
'Ich soll nach Belerock aufbrechen, zum Herzen des Feindes?'
Brega starrte Iltharis mit offenem Mund an.
'Der beste Schutz vor dem Feind ist unerkannt in seiner Mitte
zu sein', spottete Iltharis mit zerknirschtem Gesicht. 'Auf Kyranis
gibt es keinen sicheren Ort mehr. Der letzte wird gerade
eingenommen. Ich vertraue dir, Brega. Hier, nimm das. Schnell!'
Iltharis ließ einen goldenen Gegenstand in Bregas Hände fallen.
Es war ein Ring. Der eingefasste Opal glühte, als würde er
aus sich selbst heraus leuchten.
'Bewahre ihn gut.' Iltharis lächelte. 'Wir halten sie so lange
wie möglich auf. Los jetzt!'
Brega schaute seinem Freund in die Augen, dann wandte er sich
ohne Worte der Verabschiedung ab und lief zum Eingang des
Lagers. Mit einem Sprung überwand er den Felsen. Er kniete
nieder und zog den Korb zu sich heran. Es fuhr ihm wie ein eiskalter
Dolch durchs Herz, als Oralee sich nicht rührte. Rasch
beugte er sich fingerbreit vor ihrem Gesicht hinab und lauschte.
Der Atem war leise, aber er war da. Brega unterdrückte die Tränen,
die ihm bereits kommen wollten. Das Mädchen schlief. All
der Lärm und das Weinen hatten es wohl erschöpft.
Brega nahm den Korb an sich und eilte ins Innere des Geheimen
Lagers. Ein letztes Mal drehte er sich um. Inmitten der
Freien Magier machte er ein grüngelbes Licht aus. Loranus Feuer
hüllte sie gänzlich ein, während Iltharis von Gewächsen umwuchert
war. Einen Augenblick später verlor Brega Oralees Eltern
aus den Augen, als die Eisorks sie erreichten.
Die Geräusche der Schlacht echoten durch den Tunnel, als ob
auch hier gekämpft wurde. Das Grunzen der Eisorks, die Schreie
der Magier, das Dröhnen der arkanen Mächte; alles verklang, je
weiter er sich entfernte. Die Fackeln waren wie einzelne Inseln,
die Bregas Weg mehr verdunkelten denn beleuchteten. Das zerklüftete
Eis warf groteske Schattenspiele an die Wände.
Endlich erreichte er den Raum mit dem Felsvorsprung. Direkt
dahinter befand sich unsichtbar für den außenstehenden Betrachter
ein Spalt. Mit Oralee in den Armen kroch Brega den
Fluchttunnel hinauf. Er erreichte den Aufgang zur Falltür, die
zu Kyranis’ Oberwelt führte. Brega keuchte. Er hörte, wie sein
Atem rasselte. Fern von der Schlacht wirkte die plötzlich einbrechende
Stille trügerisch.
Erneut musste er seine Vergangenheit hinter sich lassen, so wie
damals, als er hier im Geheimen Lager ohne Gedächtnis aufgewacht
war. Die Erinnerung an das Leben im Lager würde jedoch
diesmal nicht aus seinem Kopf verschwinden. Diese kostbaren
Bilder und das kleine Bündel in seinen Armen waren alles, was
ihm verblieben war. Brega weinte, als er die Falltür öffnete. Er
wusste nicht, ob von blendenden Strahlen oder dem Schmerz in
seiner Seele. Die Welt empfing ihn mit Licht und Kälte.
Kapitel 1.
Brega holte den Rohling mit der Zange aus dem Schmiedefeuer
der Esse, legte ihn auf den Amboss und fing an, ihm mit
dem Hammer eine neue Gestalt zu verleihen.
Er erinnerte sich an die Worte des Dunkelmagiers, der vor einiger
Zeit bei ihm eine Metallverkleidung für seine Edelsteintruhe
bestellt hatte. 'Du schlägst mit dem Hammer auf ein Stück
Metall - sonst nichts. Also stimmt es doch. Ihr Ruinenbewohner
seid nur für stupide Arbeit zu gebrauchen!'
Brega hatte so getan, als würde er nichts verstehen, bis der Magier
und sein Diener samt Truhe wieder seine Schmiede verlassen
hatten. Im Stillen hatte er den hochnäsigen Kerl jedoch
verwünscht. Nur Unwissende meinten, dass er einfache Arbeit
verrichtete. Dabei war jeder Hammerschlag anders; mal stärker,
mal sanfter. Auf den Rhythmus kam es an. Nur so wurde das
glühende Eisen flacher und bekam eine Krümmung. Brega hatte
es im Blut, wie er schlagen musste, um am Ende die Form zu
erhalten, die er bereits vor Augen sah. Schmieden war eine
Kunst.
Brega seufzte. Was würde er dafür geben, wenn er aus diesem
wunderbaren Stück Metall ein Schwert machen dürfte! Seit dreizehn
Jahren war er nun Schmied in Ab’Nahrim, den Tempelruinen
von Belerock, und bis jetzt hatte er nur Messer und Werkzeuge,
aber nicht eine einzige Waffe erschaffen. Die Dunkelmagier hatten
den Ruinenbewohnern das Herstellen und Tragen von solchen
verboten. Brega verspürte dennoch stets Freude an seiner
Tätigkeit. Sogar mehr als das. Im Scherbenhaufen seiner verlorenen
Erinnerungen hatte er ein Bild bewahrt. Umgeben von
Wasserdampf, spritzenden Funken und der Musik von klirrendem
Metall sah er sich selbst vor Esse und Amboss stehen. Er
wusste einfach, dass er bereits vor seinem Leben im Geheimen
Lager Schmied gewesen war.
Die Schmiede, in der er arbeitete, war vor langer Zeit von seinem
Vorgänger in einer Onyxhalle erbaut worden. Brega empfand es
nicht allzu gemütlich in den Tempelruinen von Ab’Nahrim, in
welchen er arbeitete und lebte. Doch die Schmiede wärmte bei
Nacht und das Zusammensein mit Lee und Vran hatte ihn jegliches
Bedürfnis nach Komfort vergessen lassen.
'Das Essen ist fertig.'
Brega schaute auf. Vran stand im Säulentor der Onyxhalle und
lächelte. Wie immer fühlte er sich, als würde etwas in ihm in
Schwingung geraten. Das Lächeln war all die Jahre unverändert
geblieben. Es war genauso wie in seiner Erinnerung, als Vran
ihn damals gefunden und gerettet hatte.
Ewigkeiten schien es Brega her zu sein, als er völlig entkräftet
mit Lee die Zwergenstadt Belerock erreicht hatte. In den Slums
von Ab’Nahrim suchte er im Unrat nach Essen und bettelte um
Unterkunft. Überall jagten sie ihn fort, beschimpften und bespuckten
ihn.
'Wie heißt dein Kind?'
Das Lächeln und die Worte waren es, die Brega zurückholten.
Vran war ihm in der schäbigen Gasse wie ein Geist vorgekommen,
als sie sich zu ihm hinab beugte und das Kind in die Arme
nahm.
'Keine Sorge, ich bin Hebamme. Dann kommt mal beide mit.'
Sie hatte Brega und Lee zu ihrer Tempelbehausung geführt, in
der bereits zwei andere Familien lebten.
Während er jetzt das Gesicht seiner Ehefrau betrachtete, das
von einem entbehrungsreichen Leben gezeichnet war, aber dennoch
Schönheit und Güte bewahrt hatte, wusste Brega, dass er
nicht nur vor dreizehn Jahren Glück besessen hatte.
'Ich bin gleich fertig', sagte er und lächelte.
'Mach nicht zu lange.' Vran entfernte sich aus der Onyxhalle.
Brega trocknete sich das schweißnasse Gesicht ab und begutachtete
seine Arbeit. Es fehlten noch einige Schläge, bis er zufrieden
sein konnte. Er tauchte das Eisen in den Wasserbottich.
Das Zischen des Dampfes ging durch den Raum und das Stück
knackte.
Er musste schmunzeln, als er an seinen Meister dachte. Bis zu
seinem Tod vor wenigen Jahren hatte Otras jedem Kunden
gerne die Geschichte von seinem sonderbaren Lehrling erzählt:
'Der Kerl kam in meine Schmiede, ich wollte ihn testen. Brega
nahm den Hammer und legte los. Ich schaute zu. In wenigen
Stunden war der Dolch für meinen guten Alchemisten fertig!
Eine Arbeit, für die selbst ich einen Tag gebraucht hätte!'
Otras hatte damals in der Goldenen Pyramide um Aufnahme
von Brega als seinen Gehilfen gebeten. Nur die wohlwollenden
Worte jenes guten Alchemisten, eines angesehenen Dunkelmagiers
in Belerock, hatte eine Überprüfung von Brega verhindert
und für seine Einstellung bei Otras gesorgt. Dadurch war er der
Verpflichtung eines jeden Ruinenbewohners entgangen, in den
Minen von Ab’Nahrim nach Erz und Edelstein schürfen zu
müssen. Dies entsprach der allgemeinen Arbeit in den Tempelruinen,
falls man scheiterte, die Dunkelmagier von seinen Fähigkeiten
zu überzeugen und damit einen besseren Beruf zu
erlangen. Bis heute lag Brega manchmal wach in seinem Bett,
seine Dummheit verfluchend. Was wäre damals ohne die Befürwortung
jenes Alchemisten geschehen?
Sie hätten einen Wahrheitszauber auf mich anwenden können. Sie hätten
herausgefunden, wie ich mit Lee in Belerock eingedrungen bin und sie hätten
Lees wahre Herkunft erkannt.
Kurz vor seinem Tod hatte Otras die Schmiede an Brega vermacht.
Es erwies sich als günstige Wendung. Denn Vran verlor
zur selben Zeit ihre Behausung und auch ihre Arbeit als Hebamme.
Ohne Vorwarnung tauchte ein Dunkelmagier vor ihrer
Haustür auf und beschlagnahmte den Tempel als sein Eigentum.
Die Szene erschien Brega noch heute leibhaftig vor Augen.
Vrans Tränen in den Augenwinkeln, als der Magier hämisch grinsend
seine neue Behausung bezogen hatte und seine Gedanken,
ihn dafür zu erwürgen. Doch geschahen jene Hausbesetzungen
nicht selten in Ab’Nahrim.
Vran, Brega und Lee waren samt der anderen Familien hinausgeworfen
worden. Daraufhin hatten sie sich von den Familien
getrennt und waren in das Obergeschoss von Otras Schmiede
gezogen.
Brega zog das Eisen aus dem Bottich und legte es weg. Er verschaffte
sich einen Überblick, was heute noch zu tun war.
'Brega!'
Der Schmied fuhr herum. Lee eilte am Tisch vorbei auf ihn
zu. Wie immer schaute Brega zweimal hin, um sicherzustellen,
dass diese junge Frau einmal das Mädchen gewesen war, welches
hier vor ihm gesessen und mit Eisenfigürchen gespielt hatte. Wo
war das unbezähmbare Haar geblieben, wo die Schnute, die er
so geliebt hatte? Lee wirkte inzwischen unglaublich ernst. Bei
ihrem Anblick flüsterte manch Zwergenhändler Dschungelelf,
da seine Tochter angeblich die Anmut und die Grazie des legendären
Volkes von Duskan besitzen sollte. Doch Brega hielt nicht
viel vom Gerede der Zwerge - so wie von Zwergen allgemein.
Lee war vierzehn geworden und Brega schmerzte es, da sich
der Zeitpunkt näherte, an dem sie ihn verlassen und ihr eigenes
Leben mit einem Mann beginnen würde. Ihm graute allein die
Vorstellung, dass irgendein Jüngling bei ihm aufkreuzen und um
Lees Hand bitten würde. Doch der Tag rückte näher und Brega
wusste, dass er sich innerlich darauf vorbereiten musste. Vor einigen
Tagen hatte ihm bereits Vran gesagt, dass er akzeptieren
müsse, dass Lee erwachsen wurde.
Die Flammen der Esse beschienen Lees Gesicht. Die leicht
schräg stehenden Mandelaugen funkelten.
'Oralee, wie siehst du wieder aus?', fragte er. 'Dein Gesicht ist
so schwarz wie dein Haar.'
'Oh, Brega. Nenn mich doch endlich so wie alle anderen auch',
sagte Lee eingeschnappt.
Brega lachte in sich hinein. Außer ihm nannte sie keiner bei vollem
Namen. Er machte es auch nur, wenn er streng sein wollte.
So wie jetzt. 'Die Kapuzen an den Schutzmänteln sind nicht zur
Zierde da.'
Brega betonte 'Schutz' mit einer Anspielung auf Lees geöffneten
Mantel und den vor Ruß starrenden Gewändern darunter.
Lee betastete ihr Gesicht und den Hals. Brega entging nicht, wie
sie überaus rasch den Kragen hochzog.
So leicht kriegst du den Schmutz nicht los, dachte er belustigt, doch
zugleich fand er es befremdlich, dass ihm seine Tochter dabei
nicht in die Augen sehen konnte.
Vran nannte es nutzlos, wenn man seinen Kindern in einer unterirdischen
Zwergenstadt, umgeben von Lavaflüssen, rauchenden
Maschinen, Fabriken und Werkstätten, beibringen wollte, mehr
auf ihr Äußeres zu achten. Brega hatte noch nicht aufgegeben. Es
ging ihm auch um etwas anderes. Ab’Nahrim blieb gefährlich,
egal wie sehr Vran oder Lee ihm von Gegenteil überzeugen wollten.
Dabei dachte Brega weniger an die Lava, die sich durch
Ab’Nahrim zog, sondern vielmehr an das, was in der Luft lag
und aus Belerock zu ihnen in die Tempelruinen hinüber wehte.
Der Ruß der Schmieden, die Asche auf den Straßen, der Qualm
der Öfen; all dies konnte eingeatmet werden und war nicht harmlos.
Jeder, der außerhalb von Tempeln verkehrte, war dazu verpflichtet,
zu seinem eigenen Schutz ein Gesichtstuch und Kapuze
als auch einen Stoffmantel aus Lakami-Fasern zu tragen.
Die hellbraunen Lakami-Sträucher wuchsen in der Nähe von
Lavaströmen. Ihre Feuer- und Hitzeresistenz suchte Ihresgleichen,
sodass der Mantel aus Lakami den besten Schutz für ein
Leben in den Tempelruinen bildete. Auch Brega hatte sich daran
gewöhnt, Lakami wie eine zweite Haut zu tragen. Bei seiner Ankunft
in Ab’Nahrim hatte er nicht an die wundervolle Wirkung
glauben wollen, doch hatte er erlebt, was mit Ruinenbewohnern
geschah, die sich gegen Lakami sträubten. Sie wurden mit der
Zeit krank und gingen langsam zur Grunde. Lakami entfaltete
seine Wirkung jedoch nur, wenn er dicht am Körper getragen
wurde - und nicht lose hinab hing.
Brega senkte die Stimme. 'Ich werde dir nicht jeden Tag sagen,
wozu der Mantel gut ist und …'
'Ist doch egal wie ich aussehe!', warf Lee dazwischen. 'Sie
haben ihn mitgenommen.'
Brega hielt verdutzt inne. Lee fluchte, wie es ein Zwerg nicht
besser gekonnt hätte, und sprach weiter. 'Ein Spürhund tauchte
mit seinem Eisork im Unterricht auf. Sie haben Nandir einfach
mitgenommen.'
Brega versuchte, sich seine Bestürzung nicht anmerken zu lassen,
obwohl sein Innerstes bebte. Von Vran wusste er, dass Nandir
einer von Lees Mitschüler war. Angst regte sich in ihm. Das
Gefühl, verfolgt zu werden, war all die Jahre nicht von ihm gewichen.
Spürhund war die verächtliche Bezeichnung für die Sucher der
Dunkelmagier, deren Aufgabe es war, jegliche Magie aufzuspüren,
die Bewohner in Ab’Nahrim in sich trugen. Angeblich sollte es
einstmals Wesen auf vier Beinen gegeben haben, von dem der
Name abstammte. Vor der Eiszeit. Sie sollten wilde Jäger gewesen
sein, die ihre Beute im Rudel verfolgten und erlegten. Manche
Leute behaupteten gar, sie würden noch in der Oberwelt existieren.
Brega tat diese Schankmärchen der Zwerge gerne mit einem
Lächeln ab. Doch Ruinenbewohner liebten solche Geschichten.
'Das ist nicht alles', fuhr Lee fort. Sie zog ihre Nase kraus, als
hätte sie etwas Ekliges gerochen. 'Nach der Schule prahlte Kala
damit, dass es ihr Vater gewesen war, der Nandirs Familie in der
Goldenen Pyramide gemeldet hat: 'Mein Vater, der Vorsitzende der
Schattenhand, hat die Verbrecher erwischt, die Nandir seinen Platz als
Gesegneten wegnehmen wollten!’'
Lee ahmte das Mädchen aus ihrer Klasse auf beeindruckende
Weise nach, doch Bregas Sorgen nahmen dadurch nicht ab. Er
kannte die Schattenhand nur zu gut. Oft kam ein Schattenprediger
in seine Schmiede und begann seine Kundschaft einzulullen.
Zu gerne wollte er diesen scheinheiligen Spinnern jedes Mal den
Hammer über den Kopf ziehen, wenn er sie sah. Aber hielt er
sich stets zurück und wartete, bis sie von selbst gegangen waren.
Die Gefahr, sich zu verraten, war zu groß. Unter den Bewohnern
von Ab'Nahrim war die Schattenhand ein Kult von Fanatikern,
welche die Dunkelmagier anbeteten und sich bei ihnen anbiederten.
Ihre Besessenheit ging sogar so weit, dass sie den Irrglauben um
den dubiosen Gottkönig von den Dunkelmagiern übergenommen
hatten und ihn mit Gebetsorgien in versteckten Grotten in Ab’-
Nahrim auslebten. Ebenso wie die Spürhunde der Dunkelmagier
hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, Magiekundige unter den
Bewohnern Ab’Nahrims aufzudecken. Anhänger der Schattenhand
nutzten jedoch List als Waffe gegen ihre Mitmenschen. Sie
beschatteten ihre eigenen Nachbarn, suchten nach verräterischen
Anzeichen oder setzten gar Gerüchte in die Welt. Brega wusste,
was Familien drohte, die magiefähige Kinder, auch Gesegnete genannt,
versteckt hielten. Eine Gefangenschaft in den Katakomben
der Zwergenminen. Dies würde nun den Eltern dieses Nandirs
bevorstehen.
'Kala sagte, sie hofft, dass Nandirs Eltern verrotten', sagte
Lee. 'Da habe ich sie gestoßen und sie ist hingefallen.'
'Du hast was?' Brega trat Lee entgegen. Seine Tochter war
groß geworden, sie überragte bereits Vran. In diesem Augenblick
wirkte sie jedoch wie ein trotziges, kleines Mädchen.
'Du verstehst es nicht.' Lee hielt seinem Blick stand und machte
eine sachte Handbewegung. Sie ahmte wohl den Schlag nach. 'Ich
habe Kala kaum berührt, sie ist mit Absicht hingefallen.'
'Habe ich dir so ein Benehmen beigebracht?' Brega konnte
seine Wut kaum zügeln. Röte stieg ihm ins Gesicht.
'Jemand musste etwas tun!', protestierte Lee. 'Das Biest kommandiert
alle in der Klasse herum, denkt sie wäre etwas Besseres
wegen ihrem großkotzigen Vater!'
Auf einmal beschlich Brega eine unsagbare Kälte, die vom Nacken
her den Rücken hinab wanderte. Wenn Kalas Vater wirklich
einen hohen Posten in der Schattenhand besaß - die Folgen
waren unabsehbar. Brega riss der Geduldsfaden.
'Wie konntest du nur so dumm sein?' Er ließ seine Faust scheppernd
auf den Tisch niedergehen. 'Du bist alt genug, um zu wissen,
dass man sich nicht mit der Schattenhand anlegt!'
'Du behandelst mich wie ein Kleinkind', erwiderte Lee. Ihre
Stimme färbte sich dunkel. 'Von deiner Angst wird mir schlecht.'
'So sprichst du mit mir?', gab Brega schwach zurück.
Aber Lee lag goldrichtig. Er fürchtete sich um sie. Wie gerne
würde er Lee sagen, warum er sich so verhielt, woher seine Vorsicht
rührte. Er konnte es nicht - so wie die letzten dreizehn
Jahre nicht.
'Ich hab keine Angst.' Lee presste ein flaches Lachen hervor.
'Soll Kala zu ihrem Vater gehen und petzen, dann holen sie mich
wie Nandir. Aber ist es nicht egal? Alle sind falsch in Ab'Nahrim,
die Lehrer, die Schüler, die Leute. Alle sprechen hinter vorgehaltener
Hand und belügen sich. Auch du bist verlogen.'
Brega fuhr es wie ein Hieb in die Magengrube. Ungläubig musterte
er seine Tochter. Was hatte er bloß falsch gemacht? Ehe er
sich seiner Worte klar werden konnte, war Brega an Lee heran
und legte ihr beide Hände auf die Schultern. 'Irgendwann werde
ich es dir erklären.'
Brega schluckte. Was er auch Weiteres sagen wollte, es blieb ihm
im Hals stecken. Erst jetzt erkannte er, dass etwas fehlte - etwas
Bestimmtes, für das er vor vielen Jahren sein Wertvollstes opfern
musste, um es zu erlangen. Brega wurde sich jetzt bewusst, warum
Lee vorhin den Kragen so auffällig hochgezogen hatte.
'Wo ist dein Shako?', flüsterte er. Sein Griff spannte sich an.
'Ich habe ihn versehentlich abgelegt', erwiderte sie kleinlaut.
Der gehetzte Blick in Lees Augen ging Brega zu Herzen. Aber
was sie getan hatte, war unentschuldbar. Es war ihm, als würden
die quälenden Gedanken von Jahren zugleich auf ihn einprügeln.
'Lüg mich nicht an!' Brega schüttelte sie. 'Wie konntest du ihn
nur abnehmen? Was, wenn die Spürhunde dich bemerkt hätten?
Sie hätten dich mitnehmen können!'
Zeit ihres Lebens hatte er Lee beschützt sowie ihre Tarnung
aufrechterhalten. Nun konnte alles vergebens sein - wegen eines
verdammten Halsrings.
'Brega, lass sie los.'
Schwer atmend blinzelte er, suchte nach der ruhigen Stimme,
als ob er sich im Nebel seiner Angst vortasten musste. Vran
stand an seiner Seite. Ihr Blick war auf seine Hände gerichtet,
die immer noch auf Lees schmalen Schultern lagen.
Als hätte er sich verbrannt, ließ Brega Lee frei. 'Es tut mir leid.'
'Ich hasse dich.' Unter Tränen wich seine Tochter zurück.
'Er hat es nicht so gemeint, Lee', beschwichtigte Vran.
Lee riss ungestüm an ihrem Kragen und holte mit der anderen
Hand den glanzlosen Eisenring aus ihrer Manteltasche hervor,
wegen dem der ganze Ärger entstanden war.
'Da.' Sie legte sich sogleich den Shako an ihren Hals. Es klickte,
als das Schloss des Rings einrastete. 'Bist du nun zufrieden, ja?
Jetzt gehöre ich wieder dazu. Jetzt bin ich wieder ein Sklave, genauso
wie du mich haben willst!'
'Lee, bitte.' Brega streckte eine Hand nach seiner Tochter aus.
Sie kam ihm zuvor, indem sie sich an den Tisch vorbeipresste
und wegrannte.
Brega lief ihr hinterher. 'Wo willst du hin?'
'Dorthin, wo du nicht bist!' Lee verschwand aus der Onyx-
Halle.
'Warte …'
Eine Hand hielt Brega zurück. 'Lass sie', sagte Vran. 'Sie beruhigt
sich wieder.'
Widerwillig verharrte er auf der Stelle. 'Ich weiß nicht, was sie
vorhat.'
'Nein. Das weißt du nicht und du musst dich daran gewöhnen,
es nicht zu wissen. Wie oft noch, Brega … Lee ist kein Kind
mehr', sagte Vran.
Er schwieg und senkte den Blick.
Sie legte eine Hand an seine Wange. 'Lee hat sehr viel von dei-
nem aufbrausenden Charakter. Und dass, obwohl sie nicht dein
Kind ist.'
Bregas Augen weiteten sich. Er wich einen Schritt zurück.
'Wie kannst du das wissen?', keuchte er. 'Nie habe ich all die
Jahre … warum?'
Die Erkenntnis, dass seine Frau über all die Jahre Bescheid
wusste, überforderte ihn.
'Denkst du, ich bin blind, alter Brummer? Ich habe euch damals
in der Gasse nahe der Taverne aufgefunden. Bereits da
wusste ich, dass du nicht ihr Vater bist - und dass nicht wegen
dem Äußeren.' Vran schmunzelte, wurde jedoch gleich wieder
ernst. 'Ich spürte es. Nenn es die Intuition einer Hebamme.'
Vran gab Brega wieder das Lächeln, das er liebte, das er jetzt
so sehr brauchte. Ihm fehlten die Worte.
'Ich wollte nie deine Vergangenheit wissen', fuhr Vran fort.
'Aber Lee verändert sich und ich sehe nun, ich muss alles erfahren,
um ihr helfen zu können. Nach der ganzen Zeit könntest
du mir endlich verraten, vor was ihr damals geflohen seid.'
Vran wartete. Brega seufzte ergeben und setzte sich zu seiner
Frau. Dann fing er an zu erzählen.
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