Chaska
Seit dem tödlichen Anschlag der Calix-Bande vor zwei Jahren ist die Stadt Chaska zerrüttet. Während in den Slums die Menschen ums Überleben kämpfen, schwelgt die reiche Bevölkerung in ihrem Überfluss. Tarja die aus der unteren Schicht kommt, hat für ihre Ausbildung zur Soldatin hart gekämpft und kann ihr Glück kaum fassen, als sie in den Dienst Lennon Adarlan`s treten darf, dem mächtigsten Mann der Stadt. Ihre Freude bekommt jedoch einen kräftigen Dämpfer, als Lennon sie, zusammen mit ihrem vorlauten Cousin Anteo, beauftragt, drei tote Personen zu finden. Nicht nur, muss sie sich nun mit ihrem nervigen Verwandten herumschlagen, sondern gerät auch zwischen die Fronten der Oberschicht. Denn Meister Adarlans Gegenspielerin ist nicht nur skrupellos, sondern setzt alles daran Lennons Pläne zu vereiteln. Aber welche Ziele verfolgt der geheimnisvolle Meister wirklich? Und was ist, wenn die gesuchten Personen doch nicht tot sind, wie alle glauben?
Er wusste, wie aussichtslos sein Vorhaben war.
Schließlich war er nicht der Erste.
Vor ihm hatten sein Vater, Jasiels Freunde und die komplette Besatzung nach seinem Bruder gesucht und keine Spur von ihm gefunden. Jasiel war und blieb verschwunden. Und dennoch wollte Amér Dúnam es nicht darauf beruhen lassen, dass sein Bruder für tot erklärt wurde. Dabei war es mit jeder Minute die verstrich wahrscheinlicher, dass dem so war.
Jetzt, wo Amér Feierabend hatte, wollte er sich selbst davon überzeugen, dass sein Bruder nicht irgendwo verletzt oder eingeklemmt zwischen den Felsen der Küste hing. Oder zumindest den Leichnam zu finden. Das würde seiner Mutter helfen über den Verlust ihres jüngsten Sohnes hinweg zu kommen und auch Amér würde sich nicht den Rest seines Lebens fragen, ob Jasiel vielleicht doch noch lebte.
Dabei war es schon ein Wunder, dass Jasiels gesamte Besatzung überlebt hatte. Nur ein paar kleine Schrammen hatten sie davon getragen. Jeder Matrose, der Kapitän, der Steuermann und sogar der Smutje waren unbeschadet an Land gespült worden, nachdem der Sturm sie vor der Steilküste überrascht und ihr Schiff in das felsige Riff getrieben hatte.
Das war heute Morgen kurz vor Sonnenaufgang gewesen und seitdem hatten alle, die Jasiel kannten und Zeit hatten, geholfen ihn entlang der Küste und zwischen den Felsen im Riff zu suchen. Doch es war erfolglos gewesen, und als Amér nach einem von Sorge geplagtem Arbeitstag zu seinen Eltern nach Hause geeilt war, hatte er dort seinen Vater müde und verzweifelt vorgefunden, während seine Mutter sich ihm an den Hals geworfen und bitterlich geweint hatte.
Doch Amér hatte es nicht einfach so hinnehmen wollen und so war er, trotz der hereinbrechenden Dunkelheit losgezogen, um noch einmal selbst nach seinem Bruder Ausschau zu halten. Er wollte es nicht wahrhaben. Er wollte sich mit eigenen Augen vergewissern ob er dem Gesagtem glauben schenken musste.
Das Meer rauschte laut gegen die Küste und brach sich an den scharfkantigen, spitzen Felsen, die aus dem Wasser ragten, wie die Gebeine eines Riesen. Die brechenden Wellen spritzten einen Sprühregen auf Amérs, vom schnellen Laufen, erhitztes Gesicht und ließen es abkühlen. Amér kniete sich in den Kies, der am abgeflachten Ufer, vor der hoch in den Himmel ragenden Steilküste lag. Er steckte die Fackel in den Boden und entzündete den Ölgetränkten Lumpen, geschickt mit den Feuersteinen. Dann zog er sich trotz der kalten Nachtluft das Hemd aus, band sich die Hose bis zu den Knien hoch und entledigte sich seiner Schuhe.
Er blickte sich im fahlen Licht der aufleuchtenden Sterne um und konnte tatsächlich das große Schiff sehen, das jetzt zertrümmert und wie aufgespießt, zwischen den Felsen hing und als unheimlicher Schatten in der Dämmerung zu sehen war.
Sein Schiffsbauer-Herz zog sich schmerzhaft zusammen. So viele Jahre Arbeit, die mit einem heftigen Windstoß zerstört worden war. All die Mühe, die investierte Zeit und der mühsam ersparte Tageslohn waren mit einem Mal bedeutungslos.
Amér hatte das Schiff sehr gut gekannt, auf dem sein kleiner Bruder als Matrose angeheuert hatte. Er hatte es zwar nicht selbst gebaut, aber es war von seinem Meister entworfen worden und Amér wusste mittlerweile sehr genau, wie sein Meister seine Schiffe konstruierte. Sie hatten alle den selben Aufbau und unterschieden sich meist nur im Detail. Amér selbst träumte davon irgendwann selbst ein Meister zu sein und Schiffe zu konstruieren und zu planen, weshalb er bereits in seiner Lehrzeit immer wieder die alten und neuen Pläne seines Meisters studiert hatte. Doch Amér wollte andere Schiffe bauen. Er träumte von größeren, schnelleren, schneidigeren Schiffen, die jedem Sturm trotzen könnten, dessen Segel jeden Wind perfekt ausnutzen würden und die sich schnell und wendig durch das Wasser bewegten.
„Wo bist du Jasiel?“, flüsterte Amér in die anbrechende Dunkelheit und begann in das kalte Wasser zu waten. Amér ignorierte die eisige Kälte, die von den Füßen aus, sich in seinem gesamten Körper ausbreitete und hielt auf den ersten Felsen zu, der vor ihm aus dem Wasser ragte. Schon nach wenigen Schritten, spürte er die spitzen Kieselsteine nicht mehr unter seinen Füßen und Amér begann zu schwimmen.
Mit kräftigen Zügen pflügte er durch das Wasser, das ruhig und gemütlich hin und her schwappte, als würde es niemand etwas böses wollen. Amér war dankbar, dass er bereits in frühen Jahren schwimmen gelernt hatte. Er und sein Bruder waren direkt an der Küste aufgewachsen. Ihr Vater hatte sich kein Haus im Hafenviertel leisten können, aber dafür war es ganz in der Nähe der Bucht, in der das einfache Volk im Sommer gern badete.
Amér erreichte den ersten Felsen, hielt sich einen Augenblick an dem rauen Gestein fest, um zu Atem zu kommen, umrundete ihn dann und setzte zum Nächsten über. Er umschwamm jeden Felsen, der aus dem Wasser ragte und hielt Ausschau nach einem Hinweis auf Jasiel. Seine Sorge um seinen kleinen Bruder ließ ihn nicht los und er bemerkte nicht einmal die Schnitte an seinen Händen und den Füßen, die ihm die scharfkantigen Steine zufügten, an denen er sich festhielt und abstieß.
Schließlich erreichte er das Schiffswrack, das nur an der Wasseroberfläche gehalten wurde, weil die Felsen es regelrecht aufgespießt hatten.
Der Bauch des Schiffes war an mehreren Stellen zersplittert und hing an den Felsen, die das Holz zerstört hatten. Es war schief, so dass die abgebrochenen Masten anklagend auf das Meer hinaus zeigten. Der Bug des Schiffes mit der geschnitzten Meerjungfrau war komplett abgebrochen.
Einen Moment hielt sich Amér an dem Felsen direkt neben dem Trümmerhaufen fest und starrte das Wrack an. Es war angsteinflößend und faszinierend zugleich, was das Meer und der Wind innerhalb von Sekunden anrichten konnte. Niemand von der Wassertänzerin, wie das Schiff hieß, hatte den Sturm vorausgeahnt. Er war von jetzt auf gleich heraufgezogen und so heftig gewesen, dass sie keine Chance mehr gehabt hatten.
Umso erstaunlicher war es, dass es keine Toten und nicht einmal Verletzte gegeben hatten. Nur Jasiel fehlte und niemand hatte ihn gesehen.
Amér stieß sich von dem Felsen ab und steuerte auf die Wassertänzerin zu. Er holte tief Luft, bevor er durch eines der Löcher in das Innere des Bauches tauchte. Es war dunkel im Bauch des Schiffes und obwohl Amér sonst recht gut unter Wasser sehen konnte, sah er hier rein gar nichts. Er drehte sich einmal um sich selbst, bevor seine Lungen nach Sauerstoff verlangten und er den Rückzug antrat.
Als er außerhalb des Schiffes die Wasseroberfläche durchbrach und tief einatmete, brannten seine Lungen bereits schmerzhaft. Amér klammerte sich an einen der Felsen und überlegte, was er nun tun könnte. Selbst wenn Jasiel im Inneren des Schiffes war, würde er ihn in dieser Finsternis nicht finden können. Und laut seinem Vater, hatten sie besonders das Schiff durchsucht. Sie hätten ihn sicher gefunden, wenn er dort gewesen wäre. Alles war vergebens.
Enttäuscht und wütend lehnte Amér für einen Moment den Kopf an den nassen, glitschigen Stein, an den er sich klammerte und überlegte, was er nun tun könnte. Langsam beschlich ihn die Aussichtslosigkeit über die absurde Hoffnung, dass er seinen Bruder in der Dunkelheit finden könnte, wo er nicht einmal am helllichten Tag gefunden worden war.
Amér schloss einen verzweifelten Moment die Augen und flüsterte in die Nacht: „Jasiel, das kannst du mir nicht antun!“
Ein Stöhnen ließ ihn die Augen aufreißen und Amérs Muskeln spannten sich an, als er die Ohren spitzte und in das rauschen der Flut lauschte, die an die Felsen brandete. Doch er hörte nichts. Anscheinend hatte er es sich nur eingebildet. Wahrscheinlich spielten ihm seine Sinne bereits etwas vor.
Er hatte den ganzen Tag geschuftet und er war müde. Wahrscheinlich sollte er zurück ans Ufer schwimmen und nach Hause gehen, bevor er hier draußen sich eine fette Erkältung oder gar den Tod durch erfrieren holen würde. Aber stattdessen begann Amér sich an dem Felsen aus dem Wasser zu ziehen.
Der kalte Wind, schmerzte auf der nassen Haut, aber Amér ignorierte es und kletterte den scharfkantigen Felsen Stück für Stück hinauf. Der Boden war schlüpfrig vom Wasser und als Amér mit dem Fuß abrutschte, so dass sein Schienbein über den scharfen Stein schnitt, fluchte er laut. Doch dann endlich, mit einem letzten Kraftaufwand, stemmte er sich nach oben und erklomm die Spitze. Hier oben wehte der Wind noch heftiger und Amér zog fröstelnd die Schultern hoch, wagte aber nicht, den Felsen loszulassen.
Einen Moment verharrte er regungslos auf der Spitze, blickte auf das Schiffswrack und die Felsen in der Nähe herab. Er entdeckte einen hellen Fleck auf dem Stein der dem Heck des Schiffes am nächsten war und sein Herz setzte einen Schlag aus. Jasiel!
So schnell es Amér mit dem verletzten Bein und auf dem schlüpfrigen Untergrund möglich war, kletterte er wieder hinab. Sein Herz raste in der Brust und die Hoffnung, dass er Jasiel vorhin stöhnen gehört hatte und dieser noch lebte, trieb ihn an schneller nach unten zu kommen, als es sicher gewesen wäre.
Amér ließ sich ins Wasser fallen und nach dem kalten Wind, fühlte es sich fast schon warm und einladend an. Mit schnellen, kräftigen Zügen schwamm Amér um das Wrack herum. Als der helle, unförmige Fleck, den er von der Felsspitze gesehen hatte, in sein Blick kam, hätte Amér fast vor Freude geweint. Es war tatsächlich Jasiel.
Amér hievte sich auf den Felsen, der an dieser Stelle recht flach war und wohl bei Flut gar nicht zu sehen gewesen wäre. Und dort lag Jasiel. Nur sein Oberkörper zu sehen und lag lang ausgestreckt auf dem Felsen, aber da Jasiel wohl nicht bei Bewusstsein war und sich nicht am Stein hielt, vermutete Amér, dass der Fels unter Wasser ebenfalls flach weiterging, so dass sein Bruder einfach darauf lag und deshalb nicht ertrank.
„Jasiel!“, Amér kniete sich neben den Kopf seines Bruder und ignorierte den brennenden Schmerz, der dadurch in seinem verletzten Schienbein ausgelöst wurde. Er beugte sich über seinen jüngeren Bruder und strich ihm die nassen, schwarzen Locken aus dem Gesicht. Jasiels Augen waren geschlossen, aber Amér sah am leichten Heben seiner Brust, dass er atmete. Unglaubliche Erleichterung durchflutete ihn.
„Jasiel, wach auf. Es ist alles gut. Ich hab dich gefunden. Ich bring dich nach Hause. Aber du musst mir helfen. Ich kann dich nicht tragen“, sagte Amér mit eindringlicher Stimme und klopfte mit der flachen Hand vorsichtig gegen Jasiels Wange. Jasiel stöhnte benommen, öffnete jedoch nicht die Augen.
Amér griff kurz entschlossen nach dem Arm seines Bruders und hievte ihn auf den Rücken. Er wollte gerade auch den anderen Arm unter dem Körper seines Bruders hervor ziehen, als er den Gegenstand erblickte, den dieser in der Hand hielt.
Amér runzelte verwirrt die Stirn und griff danach. Es sah aus wie eine weiße Perle, die im Sternenlicht matt glänzte. Sie passte perfekt auf seinen Handteller. Amér wusste, dass in manchen Muscheln kostbare Perlen wuchsen, doch eine so große, hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Ob Jasiel die gefunden hatte? Aber wo? Und warum hielt er sie in der Hand?
Amér steckte die hühnereigroße Perle in seine Hosentasche. Er würde Jasiel fragen, sobald dieser aufgewacht war. Aber dazu musste er ihn erst einmal aus dem Wasser bekommen. Amér ignorierte die Gänsehaut, die der Wind auf seiner erkalteten Haut entstehen ließ, richtete sich auf und ergriff seinen Bruder unter den Achseln, um ihn aus dem Wasser zu ziehen.
Doch Jasiel war erstaunlich schwer, obwohl Amér immer der Kräftigere und Stärkerer der beiden Brüder gewesen war und Jasiel auch um einen halben Kopf überragte. Doch wahrscheinlich waren Amérs Kräfte bereits von der Arbeit und dem Schwimmen geschwächt. Er schaffte es nur Jasiel mühevoll Stück für Stück aus dem Wasser zu ziehen.
Trotz der kalten Luft, schwitzte Amér nach kurzer Zeit und als er zum wiederholten mal auf dem glitschigen Boden ausrutschte, ließ er seinen Bruder los, dessen nackter Oberkörper nun bereits aus dem Wasser geschafft war.
Während Amér keuchend nach Luft schnappte, blickte er auf seinen Bruder hinab. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, als würde er schlafen, aber an den Hüften hatte er auf jeder Seite drei Schnitte, die sich dunkel von der hellen Haut abhoben.
Amér runzelte die Stirn. Wie konnte das sein? Dass sein Bruder nicht unverletzt geblieben war, hatte er sich gedacht, aber diese drei Schnitte auf jeder Seite waren zu gleichmäßig und symmetrisch. Amér kniete sich erneut auf den felsigen Boden, um sich die Verletzung seines Bruders genauer anzusehen.
Er beugte sich über dessen Seite. Dann runzelte er verwirrt die Stirn. Auf den Schnitten klebte etwas, dass er für die nässende, blutige Wunde gehalten hatte, aber es sah aus, wie Fischschuppen. Verwirrt streckte Amér die Hand aus und berührte die Risse und tatsächlich spürten seine Finger raue, gleichmäßige Maserungen darauf. Wie bei einem Fisch.
„Was in aller Welt ist das?“, murmelte Amér und blickte hoch in das blasse Gesicht seines Bruders, der dalag und aussah, als würde er nur schlafen. Sein Gesicht war unverändert. An einer Wange hatte er eine kleine Schramme, die wohl Amér zu verschulden war, der ihn über den Fels gezerrt hatte. Aber ansonsten sah er aus wie immer. Mit seinen dichten, schwarzen Locken, die ihm nass in der Stirn klebten. Dem säuberlich gestutzten Bart um den Mund herum und der unnötig langen Nase, die auch Amér von seiner Mutter geerbt hatte.
Dann wanderte sein Blick zurück zu den Fischschuppen an Jasiels Hüfte.
Amér wurde nicht schlau aus dem was er sah und so erhob er sich um ins Wasser zu waten. Wie er vermutet hatte, ging der Felsen abgeflacht im Wasser weiter. Amér stoppte an der Stelle, an der er Jasiels Füße vermutete und griff ins Wasser.
Erschrocken zog er die Hand zurück, als er statt der Schuhe oder den nackten Füßen seines Bruders, etwas glitschiges, raues berührte. Sein Herz beschleunigte sich und sein erster Gedanke war, sich zurück ans Ufer zu retten, denn welches Meeresungetüm auch immer dort lauerte, es war riesig. Doch er konnte Jasiel nicht einfach dort liegen lassen, wo ein riesiger Fisch wahrscheinlich schon an seinen Zehen knabberte.
Vielleicht war das Tier tot, denn es hatte sich nicht bewegt, als Amér es berührt hatte. Amér überwand seine aufkommende Angst und beugte sich hinab, um erneut nach Jasiels Füßen zu fühlen. Sofort stieß er wieder auf das riesige Schuppentier, aber als es sich unter seinen Händen nicht bewegte, ergriff Amér es feste mit beiden Händen. Und wuchtete es nach oben.
Eine gewaltige Fischflosse erhob sich aus dem Wasser und vor Schreck hätte Amér fast das Tier wieder fallen lassen, aber er beherrschte sich gerade noch einmal und hielt das Tier weiterhin umklammert, während er mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu die dünne, schuppige Schwanzflosse des Fisches betrachtete, die wohl so groß sein musste, wie die eines großen Haies. Das Wasser tropfte an ihr hinab und sie glänzte nass im Sternenlicht.
Die Flosse war unglaublich schwer und Amér ließ den Fischschwanz zurück in das Wasser fallen, so dass es in alle Richtungen spritzte. Dann wandte er sich zu seinem Bruder um, der noch immer reglos dalag und seine Gedanken überschlugen sich.
Er musste träumen. Vielleicht hatte er sich den Kopf gestoßen. So etwas konnte es nicht geben. So etwas war nicht möglich! Nicht in seiner Welt!
Amér beugte sich hinab und tastete unter Wasser nach den Schuppen des Fisches. Langsam arbeitete er sich daran entlang, in der Hoffnung, dass er auf den Kopf des Fisches stoßen würde. Wahrscheinlich lag es nur auf den Beinen seines Bruders. Anders konnte es gar nicht sein.
Aber das Tier hört einfach nicht auf. Er stieß auf zwei weitere Flosse, die seitlich aus ihm heraus ragten und dann hörten die rauen Schuppen mit einem mal auf und Amér fühlte kalte, nasse Haut unter seinen Fingern. Einen Moment erstarrte er, dann tastete er zurück. Befühlte den Übergang zwischen Haut und Schuppen, um sich auch ganz sicher zu sein, dass er nicht einer Täuschung auflag.
Dann sackte er in sich zusammen. Setzte sich einfach in das kalte Wasser und starrte seinen Bruder an. Wenn es überhaupt sein Bruder war?
Dieses Untier hatte das gleiche Gesicht wie sein Bruder. Den gleichen Oberkörper. Und doch … es war ein Ding der Unmöglichkeit. So etwas konnte es nicht geben. Es war einfach nicht möglich!
Amér rieb sich über das Gesicht und stieß langsam die Luft aus. Was sollte er denn tun? Er konnte doch seinen Bruder nicht einfach hier zurück lassen. Selbst, wenn er so aussah … Aber er konnte ihn auch nicht mit in die Stadt nehmen. Es würde einen riesigen Aufschrei geben. Die Menschen würden sich vor so etwas fürchten und Jasiel höchstwahrscheinlich umbringen oder schlimmeres.
Amér kniff die Lippen fest aufeinander und kratzte sich am Kinn.
Und was sollte er seinen Eltern sagen?
„Amér?“, flüsterte eine Stimme und Amér sprang sofort auf die Beine, um auf den Fels zu klettern. Er kniete sich erneut neben den Kopf seines Bruders, dessen Augenlider wild flatterten, während er versuchte zu Bewusstsein zu kommen.
„Jasiel! Ich bin hier. Mach dir keine Sorgen“, murmelte Amér und ergriff Jasiels Hand, die tastend über den Boden wanderte und ihn nicht zu finden schien. Jasiel zog ihn näher zu sich hinab und sein Augen öffneten sich schließlich ganz und fanden die von Amér.
„Amér“, flüsterte er erneut. Und die gebrochene Stimme seines kleinen Bruders ließ ihn erschauern. Er und Jasiel waren trotz der sechs Jahre, die zwischen ihnen lagen immer ein Herz und eine Seele gewesen und Amér hätte alles für seinen Bruder getan. Ihn nun so entkräftet zu sehen, schmerzte ihn mehr, als er vermutet hätte.
„Ich bin da, Jass“, wiederholte er.
„Hast du es gesehen?“, flüsterte Jasiel so leise, dass Amér es über das Rauschen des Meeres und des Surren des Windes fast nicht gehört hätte und er beugte sich dicht über das Gesicht seines Bruders.
„Was gesehen?“, fragte er leise, obwohl er sich denken konnte, dass Jasiel seine sonderbare Erscheinung meinte.
„Hast du es gesehen?“, flüsterte Jasiel erneut und seine braunen Augen füllten sich mit Tränen. „Hast du gesehen, was aus mir geworden ist?“
Amér legte beruhigend die andere Hand auf Jasiels Brust, die sich heftig hob und senkte.
„Ja“, sagte er leise, aber ohne den Blick von seinem Bruder zu nehmen. Er wollte, dass dieser wusste, dass er ihn nicht verachten würde, dass er ihn immer noch liebte und ihm helfen würde. Dass sie das zusammen durchstehen würden. Was auch immer es war.
Eine Träne kullerte aus dem Augenwinkel seines Bruders und versickerte ihn dessen Haar, als er die Augen schloss. Einen Moment blieben sie still beieinander und Amér versuchte seine eigene Verzweiflung zu unterdrücken und stark zu sein für seinen kleinen Bruder.
Schließlich öffnete dieser wieder die Augen und flüsterte leise: „Ich wollte dich noch einmal sehen, Amér. Ich hatte nur diesen einen Wunsch. Dich noch einmal sehen und dir sagen, dass ich stolz bin, einen Bruder wie dich gehabt zu haben. Danke, dass du immer für mich da warst.“
Nun war es Amér, dem die Tränen in die Augen stiegen, aber er blinzelte sie weg und sagte mit Nachdruck: „Ich weiß, Jass. Ich bin verdammt stolz auf dich und was für ein Mann aus dir geworden ist. Und deshalb werden wir eine Lösung finden. Gemeinsam! Ich überlege mir was. Du wirst wieder so wie früher, ja?“
Jasiel holte zitternd Luft und seine Hand drückte Amérs leicht: „Nein, Amér. Ich kann nicht bei dir bleiben. Ich gehöre nicht mehr in diese Welt. In diese Stadt. Wir wussten doch schon immer beide, dass ich ein halber Fisch bin und ins Meer gehöre.“
Er lachte leise, wenn auch etwas gequält, auf, und Amérs Herz zog sich zusammen. Sein Bruder war schon immer ein Optimist gewesen und hatte aus jeder Situation das Beste herausgeholt. Aber Amér wusste nicht, was Jasiel da redete und er wollte es auch nicht verstehen.
„Nein, Jasiel. Du redest wirres Zeug. Wenn du mir hilfst, schaffen wir es in die Bucht, ja? Und wenn wir erst einmal an Land sind, können wir uns etwas überlegen. Du kannst dich nicht einfach in einen Fisch verwandeln. Das ist unmöglich! So etwas gibt es nicht!“
Jasiel Mundwinkel zuckten leicht. „Doch, Amér, das gibt es. Und ich bin der lebende Beweis dafür. Du musst mich gehen lassen. An Land werde ich sterben.“
„Nein!“, fuhr Amér wütend auf, ließ Jasiel los und richtete sich auf, um fieberhaft nach einer Lösung zu suchen. Doch das hätte er nicht gemacht, wenn er gewusst hätte, was passieren würde.
Jasiel ließ sich mit einer schnellen Bewegung ins Wasser gleiten und schwamm ein Stück, so dass nur noch sein Kopf auf der sich hin und her bewegenden Wasseroberfläche zu sehen war.
„Jasiel!“, rief Amér auf und stürzte sich hinter seinem Bruder in das Wasser, bis er ihn erreichte. Verzweifelt strampelte er mit den Beinen, um sich an der Stelle zu halten, während Jasiel nur einen halben Meter entfernt, scheinbar mühelos im Wasser schwebte.
„Lebe wohl, Amér“, erklärte Jasiel ruhig. Dann tauchte er unter. Sein Rücken, aus dem eine lange, dünne Flosse wuchs, ragte für eine Sekunde aus dem Wasser, bevor sein schuppiger Rumpf und der riesige Fischschwanz folgten.
Das letzte, das Amér von seinem Bruder sah, war die große Flosse, die wie der Schwanz eines Buckelwals aus dem Wasser spritzte, bevor sie verschwand und vom schwarzen Meer verschluckt wurde.
„Jasiel!“, schrie Amér, so dass seine Stimme über das weite Wasser hallte und er sich beinahe verschluckt hätte, als das Meerwasser in seine Lunge schwappte. Er schwamm einige Meter von den Felsen weg, in die Richtung, in die Jasiel verschwunden war. Dann hielt er inne, strampelte mit Armen und Beinen, um sich auf der Stelle zu halten und schrie erneut: „Jasiel! Komm zurück!“
Doch er wusste, dass sein Bruder nicht zurück kommen würde.
Jasiel war weg und eine tiefe Gewissheit schlich sich in sein Herz, dass diese Begegnung die Letzte mit ihm gewesen war.
Amér kämpfte gegen die Tränen an, die ihm bei dieser Erkenntnis erneut in die Augen traten. Und seine Stimme zitterte, wie sein erkalteter Körper: „Jass.“
Hoffnungslosigkeit ergriff sein Herz und voller Gram drehte er sich um und schwamm mit schwachen Armbewegungen zurück zum Ufer.
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- Artikel-Nr.: SW9783961273720458270
- Artikelnummer SW9783961273720458270
-
Autor
Viola M. Meyer
- Verlag Chiara-Verlag im vss-verlag
- Seitenzahl 692
- Veröffentlichung 13.04.2024
- ISBN 9783961273720