Das Gespenst in der Ingenieurburg
Drei mörderische Geschichten aus dem Zarenreich
Die in diesem Büchlein vereinten drei Erzählungen entstanden in den letzten Jahrzehnten der Zarenzeit und wurden von der bekannten Übersetzerin Aljonna Möckel aus dem Russischen ins Deutsche übertragen. Da die Sammlungen, in denen sie einst erschienen sind, nur noch in irgendwelchen Antiquariaten schlummern, feiern die Texte eine kleine Auferstehung. Sie sind spannend, spritzig-abenteuerlich, böse, voller Fantasie und Überraschungen. Sie verdienen es, wiedergelesen zu werden.
Eine der drei Geschichten, „Der Gedanke“ von Leonid Andrejew, handelt von einem Mord, dessen minutiöse Planung und mitleidlose Ausführung der Täter, ein Arzt, selbst beschreibt. Es ist das Psychogramm eines eiskalten Mörders. Die anderen sind fesselnde Gespenstergeschichten voller Grusel und unerwarteter Einfälle. Alle drei Autoren treiben auf ihre Weise mit dem Entsetzen Scherz. Bei Alexej Tolstoi ist es der berüchtigte „Graf Cagliostro“, ein italienischer Abenteurer und Hochstapler, der im 18. Jahrhundert die europäischen Königshöfe unsicher machte und hier einen russischen Gutsherrn heimsucht. Er nutzt den Liebeswahn seines Opfers aus, der sich in ein Frauenbildnis vergangener Zeit verliebt hat, und setzt dämonische, zerstörerische Kräfte frei. Nikolai Leskow schließlich, der älteste der drei Autoren, geht im „Gespenst in der Ingenieurburg“ den Gerüchten um überirdische Vorgänge in einer zaristischen Kadettenanstalt nach. Petersburger Kadetten, noch halbe Kinder, spotten über die gespenstischen Erscheinungen in ihrer Burg und geraten selbst in den wilden Strudel des scheinbar Unerklärlichen.
Ein ungewöhnliches Buch, packend und herausfordernd, versehen mit einem Vorwort der Übersetzerin.
Alexej Tolstoi: Graf Cagliostro
Nikolai Leskow: Das Gespenst in der Ingenieurburg
Leonid Andrejew: Der Gedanke
Fedossja Iwanowna kam, den Brief in der Hand, die Brille auf der Nase, wieder ins Zimmer, setzte sich Alexej Alexejewitsch gegenüber und sagte: „Pawel Petrowitsch hat mir geschrieben …“
„Was für ein Pawel Petrowitsch, Tantchen?“
„Aber Alexis, ich bitte dich – unser Pawel Petrowitsch Fedjaschew, der Hauptmann … Er schreibt über die verschiedensten Dinge, und hier ist vielleicht etwas für dich: ,Viel Aufsehen hat bei uns in Petersburg der bekannte Graf Phönix erregt, den man auch Cagliostro nennt. Er hat der Fürstin Wolkonskaja eine kranke Perle geheilt; den Rubin im Ring des Generals Bibikow auf elf Karat vergrößert und obendrein ein Luftbläschen im Innern beseitigt, er hat Kostitsch, einem Spieler, in einem Punschglas eine außergewöhnliche Kartenfolge erscheinen lassen, worauf der schon am nächsten Tag mehr als hunderttausend Rubel gewann, dann hat er aus dem Medaillon der Kammerfrau Golowina den Geist ihres verstorbenen Ehemannes erweckt, der sie bei der Hand nahm und mit ihr sprach – seither hat die arme alte Dame endgültig den Verstand verloren. Kurz, man kann gar nicht alle Wunder aufzählen … Die Zarin war schon geneigt, ihn an den Hof zu laden, doch da geschah etwas höchst Amüsantes: Fürst Potjomkin entflammte in wilder Leidenschaft für die Frau des Grafen Phönix, eine gebürtige Tschechin. Ich selbst habe sie nicht zu Gesicht bekommen, aber man erzählt sich, sie wäre eine Schönheit. Potjomkin überhäufte den Grafen mit Geld, Teppichen und anderen wertvollen Dingen; als er jedoch erkennen musste, dass damit nichts zu erreichen war, beschloss er, die Schöne auf einem Ball zu entführen, den er geben wollte. Aber gerade an diesem Tag verschwanden Graf Phönix und seine Frau mit unbekanntem Ziel aus Petersburg, und die Polizei sucht sie noch heute ohne jeden Erfolg …“
Alexej Alexejewitsch hörte sich den Brief mit großem Interesse an und las ihn dann selbst durch. Leichte Röte hatte seine Wangen überzogen.
„All diese Wunder“, sagte er, „sind auf eine unerklärliche magnetische Kraft zurückzuführen. Ach, wenn ich doch mit diesem Mann zusammentreffen, ihm begegnen könnte!“ Unter lauten Ausrufen begann er im Zimmer hin und her zu laufen. „Ich würde die nötigen Worte finden, ihn anflehen, dass er seine Kunst auch an mir versucht … Er soll meinem Traum Gestalt verleihen, meine nächtlichen Visionen zum Leben erwecken, auch wenn sich mein Dasein danach wie Nebel verflüchtigt. Ich werde ihm nicht nachtrauern.“
Fedossja Iwanowna sah den Neffen mit ihren runden, blässlichen Augen angsterfüllt an. Und man konnte in der Tat erschrecken. Alexej Alexejewitsch hatte sich in den Sessel fallen lassen – er schaute mit einem abwesenden Lächeln durchs Fenster nach draußen, wo zwei Mädchen mit einem Korb voller Pilze näher kamen, aber er nahm weder Pilze noch Mädchen noch etwa die Felder wahr, über denen sich jetzt eine hohe Staubwolke erhob. Sie wälzte sich auf dem Rain zwischen den Getreidepflanzungen voran und scheuchte dabei die Vögel auf einer am Wegrand stehenden Birke auf.
Geboren 1941 in Moskau /Russland. 1947 Rückkehr der Familie aus der Emigration nach Deutschland. Nach dem Abitur Studium der Slawistik/Romanistik in Jena, Lektorin für moderne sowjetische Literatur im Berliner Verlag Volk und Welt, seit 1969 als literarische Übersetzerin freiberuflich tätig.
Zahlreiche Romane und Erzählungen aus dem Russischen, darunter Autoren wie Below, Grekowa, Jewtuschenko, Krupin, Litschutin, Makanin, Nekrassow, Rasputin, Welembowskaja, aber auch Literatur für Kinder (Sutejew, Bachnow) sowie SF (Bulytschow, A.und B. Strugatzki). Herausgaben auf dem Gebiet der humoristischen Literatur.
Verheiratet mit dem Schriftsteller Klaus Möckel, ein Sohn, lebt in Berlin.
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- Artikel-Nr.: SW9783965214033458270.1