Die Nachtschicht
Für Artur Milan, Meister in einem Metallwerk, wird die Nachtschicht zur Qual. Seine Frau ist nach mehr als dreißig Ehejahren von einem Besuch bei ihrem Bruder in der Bundesrepublik nicht zurückgekommen und hat ihn in einem Brief zum Nachkommen aufgefordert.
Soll er alles aufgeben und seine Kollegen einfach im Stich lassen?
Da ist seine Erinnerung an die schweren Jahre nach dem Kriege, als er trotz dauerndem Hunger ein anständiger Mensch blieb und seine Frau diese Entscheidung schweren Herzens billigte. Oder der Schweißer Krauß, der als Schieber im Gefängnis saß. Ruth Wächter gehört nach der Entlassung aus der Haft wegen Diebstahls am Volkseigentum zu seinen besten Drehern. Egon Felsner erhielt im 2. Weltkrieg für die Rettung von 18 Kameraden das Eiserne Kreuz und hat nichts dagegen, dass sein Sohn es im Bach versenkt hat. Der lebenserfahrene Meister Minde spricht von Liebe und Vertrauen.
Milan macht sich seine Entscheidung nicht leicht, aber am Morgen steht sie für ihn fest.
Die 1959 beim Volksverlag Weimar veröffentlichte Erzählung ist das erste Buch von Wolfgang Held, der über 30 Bücher und 15 Drehbücher geschrieben hat. Es stellt ein interessantes Stück Zeitgeschichte dar, spannend geschrieben ist es durchaus auch nach über fünfzig Jahren noch lesenswert.
„May? Wo steckt denn der nun schon wieder?"
Keine Antwort. Nur das Grinsen verstärkte sich.
„Soll ich ihn holen?", bequemte sich schließlich das Schwarzkäppchen zu einer Gegenfrage, doch diese Bereitwilligkeit machte den Meister noch misstrauischer. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, löste Ruth Wächter mit ihrer Bemerkung ein kleines Gelächter aus. „Vor mir ist der May jedenfalls in seinem Schlupfwinkel sicher!"
Meister Milan kniff die Lippen zusammen und fixierte der Reihe nach die Kollegen.
„Nun?", sagte er dann. Nichts weiter. Ein kleines Wort. Es wischte das Grinsen aus den Gesichtern. Die Dreher blickten sich unschlüssig an. Meister Milan wartete. Endlich kam einer damit heraus, dass May vor etwa einer Stunde in der Toilette verschwunden sei. Vor einer Stunde!
„Holen!", befahl Milan kurz, und das Schwarzkäppchen verließ den Raum. An der Tür drehte sich der junge Kollege noch einmal zu den anderen um und blinzelte mit dem rechten Auge. Meister Milan tat, als bemerke er es nicht. Er wollte die Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen.
„Also herhören!", sagte er und begann, die Arbeitsschutzbestimmungen vorzulesen. Sie waren ihm so geläufig, dass er dabei seine Gedanken unbesorgt auf einen anderen Weg schicken konnte. Er dachte an den Kollegen May.
Ob der sich wohl noch ändern wird? ging es ihm durch den Kopf. Schlechte Arbeit, schlechte Disziplin und einen großen Rand, so ist das immer. Kaum sechs Wochen ist der May jetzt bei uns und quatscht schon wieder davon, dass er sich nach einer anderen Arbeit umsieht. Na, so einem weint keiner eine Träne nach. Im Westen drüben soll er ja auch schon gewesen sein ... Warum ist er denn überhaupt zurückgekommen? Werde ihn nachher mal fragen!
„... müssen die Ärmelenden am Handgelenk eng anliegen. Weiter ist bei Dreharbeiten unbedingt die Schutzbrille ..."
Da wurde die Tür aufgerissen!
Meister Milan schaute unwillig vom Blatt hoch. Der Kollege mit dem schwarzen Käppchen war hereingestürmt und verkroch sich in die entlegenste Ecke. Mit scheinheiliger Unschuldsmiene sah er zur Tür, wo nun der Kollege May erschien. Schallendes Gelächter empfing ihn. Selbst Meister Milan konnte beim Anblick der wassertriefenden Gestalt ein Lächeln nicht unterdrücken. Weder für ihn noch für einen der Dreher war hier noch eine Erklärung nötig. Offenbar hatte sich May an dem „stillen Ort" für ein kleines Mitternachtsschläfchen eingerichtet und war erst durch eine über die Trennwand gesandte Wasserdusche aufgescheucht worden.
Wolfgang Held
Geboren 1930 in Weimar, aufgewachsen und erzogen in einem konsequent sozialdemokratischen Elternhaus, stark geprägt vom Erlebnis KZ Buchenwald im April 1945 auf der Suche nach einem von der Gestapo verhafteten Onkel.
Volksschule und Handelsaufbauschule in Weimar, 1948/49 als Volkspolizist freiwilliger Aufbauhelfer (Enttrümmerung, Wasserleitung Maxhütte, u.a.).
Erkrankung an Tuiberkulose. Im Sanatorium für den weiteren Lebensweg entscheidende Begegnung und monatelanges, gemeinsames Zusammenleben in einem Zimmer mit gleichaltrigem Vikar.
Journalistische Ausbildung. Tätigkeit als Redaktionsassistent. Erste Buchveröffentlichung 1959.
Ab 1964 freischaffender Schriftsteller. Im literarischen Schaffen beeinflusst von Louis Fürnberg, Hans-Joachim Malberg, Bruno Apitz und Walter Janka. Zahlreiche Romane, Kinder- und Jugendbücher (u.a. Autor des Weimarer Knabe-Verlages), Drehbücher für Film und Fernsehen.
Literarische Auszeichnungen: Literatur-und Kunstpreis der Stadt Weimar, Nationalpreis der DDR, Preis der Filmkritiker, u.a. als erster deutscher Drehbuchautor für den Europäischen Filmpreis Felix nominiert, Goldene Ehrennadel der Stadt Weimar 2005.
Bibliografie:
Romane und Erzählungen
Die Nachtschicht. Erzählung, Volksverlag Weimar, 1959
Manche nennen es Seele. Roman, Volksverlag Weimar, 1962
Der Tod zahlt mit Dukaten. Kriminalroman, Verlag Das Neue Berlin, 1964
Der letzte Gast. Kriminalroman, Verlag Das Neue Berlin, 1968
Das Licht der schwarzen Kerze. Roman, Verlag Das Neue Berlin, 1973 (Neuauflagen 1996, 2010)
Schild überm Regenbogen. Roman, Militärverlag der DDR, Berlin 1973
Visa für Ocantros. Roman, Verlag Das Neue Berlin, 1976
Härtetest. Roman, Militärverlag der DDR, Berlin 1978
Al-taghalub - Gesetz der Bärtigen. Roman, Verlag Neues Leben, Berlin 1981 (Neuauflage 2004)
Eilfracht via Chittagong. Roman, Militärverlag der DDR, Berlin 1982
Lasst mich doch eine Taube sein. Roman, Militärverlag der DDR, Berlin 1986 (Neuauflage 2007)
Wie eine Schwalbe im Schnee. Roman, Verlag Das Neue Berlin, 1988 (Neuauflage 2004)
Die gläserne Fackel. Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 1990
Einer trage des anderen Last. Roman, Das Neue Berlin, 1995 (Neuauflage 2002)
Uns hat Gott vergessen. Roman, Quartus-Verlag, Bucha 2000
Last und liebes Kummerfeld, BS-Verlag Rostock, 2010
Kinder- und Jugendbücher:
Mücke und sein großes Rennen, Gebr. Knabe Verlag, Weimar 1960
Du sollst leben, Mustapha, Gebr. Knabe Verlag, Weimar 1962
Quirl hält durch, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1964
Hilfe, ein Wildschwein kommt, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1964 (Neuauflage 2008)
Der Teufel heißt Jim Turner, Gebr. Knabe Verlag, Weimar 1964
Das Steingesicht von Oedeleck, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1966
Petrus und die drei PS, Gebr. Knabe Verlag, Weimar 1966
Feuervögel über Gui, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1969
Blaulicht und schwarzer Adler, Gebr. Knabe Verlag, Weimar 1969
Zwirni träumt vom Weltrekord, Gebr. Knabe Verlag, Weimar 1971
Im Netz der weißen Spinne, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1973
Aras und die Kaktusbande, Gebr. Knabe Verlag, Weimar 1982 (Neuauflage 2008)
...auch ohne Gold und Lorbeerkranz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1983 (Neuauflage 2003)
Wiesenpieper, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1988
Spiel- und Fernsehfilme:
Schüsse unterm Galgen, DEFA 1968
12 Uhr mittags kommt der Boss, DEFA 1968
Zeit zu leben, DEFA 1969
Anflug Alpha eins, , DEFA 1971
Gefährliche Reise (Mehrteiler), DFF 1972
Das Licht der schwarzen Kerze" (3-Teiler), DFF 1973
Visa für Ocantros" (2-Teiler), DFF 1974
Zweite Liebe – ehrenamtlich, DFF 1977
Härtetest, DFF 1978
Wiesenpieper, DFF 1983
Die Spur des 13. Apostel (83. Folge aus der Kriminalserie "Polizeiruf 110"), DFF 1983
Einer trage des anderen Last, DEFA 1988
Die gläserne Fackel (7-Teiler), DFF 1989
Silberdistel, DFF 1990
Laßt mich doch eine Taube sein, DDR/Jugoslawien 1990
Sachbücher:
Das Thüringer Rostbratwurstbüchlein, Verlag Kleine Arche, Erfurt 1994
Versandkostenfreie Lieferung! (eBook-Download)
Als Sofort-Download verfügbar
- Artikel-Nr.: SW9783863949396