Die singende Lokomotive
25 Kurzgeschichten
Ein unglücklich verliebter junger Mann verabredet sich mit der Dame seines Herzens zum Schlittschuhlaufen, obwohl er noch nie solche Eisen unter den Sohlen gehabt hat … Ein paar neunmalkluge Männer machen eine bahnbrechende Erfindung, mit der man sich das Rauchen abgewöhnen könnte … In Leipzig, vor der Thomaskirche, steigt Johann Sebastian Bach von seinem Sockel, um mit ein paar Musikstudenten nächtlicherweile zu jazzen …
In 25 Kurzgeschichten, zuvor schon in der Zeitschrift Eulenspiegel veröffentlicht, geschehen komische, skurrile, alberne und abgründige Dinge.
Die Erstausgabe erschien 1974 im Eulenspiegel Verlag. Noch heute wundert sich der Autor, dass solche Texte wie Zitronen aus Kummersbach oder Spuk auf der Lichtung dem Zensor durch die Lappen gingen.
Die verschwundene Partitur wurde übrigens zum Grundstoff für ein gleichnamiges Musical, das 1976 in Halle seine Uraufführung erlebte.
Die singende Lokomotive
Hoffnung in Hoppenstedt
Der motorisierte Neandertaler
Die weiße Frau zu Ladenthin
Vom Eisen befreit
Das Damals-Spiel
Das Haus in der Seitenstraße
Die Stimme des Blutes
Der Racheakt zu Quarmbrück
In einer lauen Sommernacht
Zitronen aus Kummersbach
Der schwarze Hund
Tirschtiegel sprüht Ideen
Eine Erfindung wird geboren
Spuk auf der Lichtung
Kleines Haus im Wald
Premierenfeier in K.
Die verschwundene Partitur
Der Schrei um Mitternacht
Die Geisterbahn
Erinnerungen an Otto Trappschuh
Tötung eines Ofens
Die Perücke
Die Ferien des Dr. Schnapka
Das Jazzophon und die Folgen
Wir nannten ihn Nansen
Nachdem die armselige Zivilistengarde, wie Graf Wutzow den Volkssturm verächtlich nannte, bereits am Vortage aus dem Dorf desertiert war, hatte er selbst die Befehlsgewalt übernommen. Dabei kam ihm die preußische Anekdote um General Coubiere, den mannhaften Verteidiger der Festung Graudenz, in den Sinn, der im Jahre 1807 dem französischen Parlamentär Savary zugerufen hatte: „Wenn es keinen König von Preußen mehr gibt, so bin ich König von Graudenz.“ Ein spitzbübisches Lächeln verirrte sich auf die welken Lippen des Obersten. „Warum nicht?“, murmelte er. „König von Ladenthin.“
Schon am frühen Morgen hatte er seine Gutsleute zusammengerufen und die Wehrfähigen unter ihnen ausgesucht. Es waren dies drei Kriegskrüppel, neun Männer über siebzig, sechs Pimpfe und der Dorftrottel. Sie alle wurden nun aus den Beständen des von Wutzowschen Jagdwaffenarsenals armiert, wobei jedoch die unsicheren Kantonisten, die vor 1933 rot gewählt hatten, statt eines Schießgewehrs nur eines Hirschfängers für würdig befunden wurden.
Im Laufe des Nachmittags hatte der Oberst seine Streitmacht rings um Schloss Ladenthin postiert, an der Kuhbrücke, am Ententeich und hinter der Deckstation. Die Schlüsselstellung zwischen dem Venuspavillon und den Rübenmieten hielten zwei Eliteschützen, bewaffnet mit der Bockbüchsflinte und dem guten Drilling des Grafen. Der alte Wutzow war auf seiner Runde noch einmal von einem zum andern gegangen, hatte den Männern auf die Schulter geklopft und ihnen ein paar Zigaretten zugesteckt. Für die Nichtraucher hatte er ein launiges Wort gehabt.
Als er nun wieder allein auf dem Schlosshof stand, befiel ihn jählings eine quälende Unruhe. Hinter dem Bergfried klomm der Mond über die Zinnen. Das Grollen jenseits des Waldes war stärker geworden. Aber nicht das war es, was ihn beunruhigte, glaubte er doch zu wissen, dass Schloss Ladenthin gegen die nur dürftig ausgerüsteten Russen, die ohnehin auf dem letzten Loch pfiffen, zu halten sei, bis die Entsatzarmee anrückte. Und wenn nicht - ein ehrenvoller Soldatentod war ihm stets gewiss.
In diesem Augenblick schrak er heftig zusammen. Aus dem Rittersaal drang ein leises Poltern, und hinter den hohen Fenstern schien eine schemenhafte Gestalt durch den finsteren Raum zu wandeln. Der Oberst konnte sich eines schaudernden Befremdens nicht erwehren, denn er war sicher, dass sich um diese Stunde keines Menschenseele im Renaissanceflügel des Schlosses aufhielt.
Friedrich von Wutzow fürchtete die Gespenster seines Herrensitzes nicht, von Kindheit auf war er mit ihnen vertraut. Er kannte das nächtliche Kichern im Blauen Salon, das Kettenrasseln im Westkamin, hatte auch schon in hellen Mondnächten den silberbeschlagenen Sarg seines Vorfahren Johann Georg aus dem Brunnen auftauchen sehen. Dies hier aber musste etwas anderes sein, und da durchzuckte es wie eine Erleuchtung das matte Hirn des Grafen: die weiße Frau! Noch vor Wochen hatte er in den vergilbten Pergamenten seines Archivs gelesen und war dabei auf die jahrhundertealte Sage von der verwunschenen Gräfin Amalie gestoßen. Und nun erinnerte er sich auch an die Tage seiner Kindheit, wenn er sich an den Winterabenden heimlich in die Leutestube gestohlen hatte, um den gruseligen Erzählungen der alten Berta zu lauschen. Wenn einst, so hieß es da, die letzte Stunde derer von Wutzow zu Ladenthin geschlagen habe, so werde sich die geisterhafte Amalie in ihren weißen Leichengewändern auf der Zinne des Bergfrieds zeigen.
Angestrengt äugte der Oberst zum Turm. Wieder deuchte es ihm, als wäre ein Schatten an den Stiegenfenstern vorübergeglitten. Ein Windstoß fuhr in die noch kahlen Zweige der hohen Schlosseiche, drehte quietschend die Wetterfahne des Bergfrieds herum. Dann war es wieder totenstill auf dem Schlosshof. Nur von draußen, vom Park her, tönte ein immer lauter werdendes tiefes Brummen herüber. Ein knackendes Geräusch auf dem Turm ließ den alten Wutzow auffahren. Er hob den Kopf und erstarrte. Hoch droben hinter den Zinnen tanzte das Gespenst, auf und nieder gleitend, seinen schauerlichen Geistertanz, grässlich anzusehen in seinem weißen Leichentuch. Nun war es so weit: Die hagere, gebeugte Gestalt des Obersten straffte sich noch einmal. Er zog seinen schlachtenerprobten Husarensäbel und humpelte festen Schrittes, ein knarrendes Hurra auf den Lippen, zur Zugbrücke.
Als der erste russische Panzer zwischen Venuspavillon und Rübenmieten hindurchfuhr, ohne zu explodieren, ereilte den letzten Grafen von Ladenthin ein Schlaganfall.
Der mildherzige Tod ersparte ihm die grause Kunde, dass auf dem Bergfried nicht die weiße Frau, sondern die weiße Fahne erschienen war, die der Gutsarbeiter Lammert gerade noch im rechten Augenblick gehisst hatte.
C. U. Wiesner
Geboren im letzten Monat der Weimarer Republik, am Neujahrstag 1933, in der einstigen märkischen Hauptstadt Brandenburg, entwich nach dem Abitur den heimatlichen Stadtmauerzwängen, gelangte in eine etwas größere Hauptstadt, ohne zu ahnen, dass man dort schon zehn Jahre später aus väterlicher Sorge bemüht sein würde, ihm den Horizont mit erheblicherem Bauaufwand zu verstellen.
Eines Tages mochte er fürder nicht mehr in der eingefriedeten Hauptstadt leben und zog es vor, in die vertrauten märkischen Wälder zurückzukehren.
Dank prophetischer Gaben bestellte er den Möbelwagen von Berlin-Pankow nach Klosterfelde für den 9. November 1989.
Während des achtunddreißigjährigen Berlin-Aufenthalts:
Studien als Dolmetscher für Englisch; Germanistik und Filmszenaristik (diese im Gegensatz zu jenen hin und wieder angewandt).
Tätig als Lektor, Redakteur, Reporter, Theaterkritiker, Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift Eulenspiegel, Entertainer in eigener Sache, Schauspieler (leider zu selten) und (vorwiegend) Schriftsteller.
Sein bekanntestes Geschöpf ist der Frisör Kleinekorte, den das Berlin-Brandenburgische Wörterbuch zu Recht an die Seite der Volksfiguren von Glaßbrenner und Tucholsky stellt.
C.U.W. schrieb u. a. Hörspiele, Kabarett-Texte, Fernsehfilme und Fernsehserien (u. a. Gespenstergeschichten wie Spuk unterm Riesenrad, Spuk im Hochhaus, Spuk aus der Gruft für Kinder von 8 bis 88 Jahren) sowie dreizehn Bücher, vom Kinderbuch über den Kriminalroman, die satirische Darstellung eigener Umwelt im weitesten Sinne bis zum bitteren erst um die Jahreswende 1989/90 nach einiger Verzögerung erschienenen Märchenroman für Erwachsene Die Geister von Thorland, Machs gut, Schneewittchen! und Lebwohl, Rapunzel! erzählen von den Kinder- und Jugendjahren in der Havelstadt Brandenburg.
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- Artikel-Nr.: SW9783863943967