Eine livländische Weihnachtsgeschichte
Zwei historische Erzählungen
Riga im 16. Jahrhundert. Reformation, Gegenreformation. Die Auseinandersetzungen sind in vollem Gange. Da zieht am Weihnachtsabend ein Bauer aus seinem Dorf aus, um seine Tochter zurückzuholen. Er geht in die Stadt. Der Herr, sein Herr, hat es ihm geraten. Und er findet seine Tochter, aber anders als er es sich vorgestellt hat. Und er kann sie mitnehmen — unter einer Bedingung. Er geht darauf ein, und die Ereignisse schlagen wie die Wellen des Ozeans über seinem Kopf zusammen. Mühsam versucht er zu begreifen. Aber er bleibt Spielball der für ihn undurchschaubaren Kräfte.
Auch Jürgen Wullenwever, gewählter Bürgermeister der Hansestadt Lübeck, ist nicht mehr freier Herr seiner Entscheidungen, jetzt, da er auf der Asseburg bei Wolfenbüttel als Gefangener seines Todfeindes einsitzt. Der Versuch, Verbindung zu Freunden aufzunehmen, scheitert. Die Begegnung mit seinem jungen Kerkermeister aber lässt ihn hoffen. Für sich, vor allem aber für seine Ideen.
Eine livländische Weihnachtsgeschichte
Jürgen Wullenwever
„Wir zahlen’s ihm heim. Alles soll er büßen, alles! Eine lange Rechnung legen wir ihm vor.“
Zwei Mann schleppten einen Pfahl an. Mochte der Himmel wissen, wo sie ihn fanden, Janis hatte in der Stadt keine Zäune bemerkt. Zwei andere packten mit zu, bildeten einen Rammbock!
„Aufmachen, oder wir brechen die Tür auf und schlagen dir alles kurz und klein!“ Sie stießen den Pfahl gegen die Türfüllung, aber die war aus festem Eichenholz gefügt. Nur die Farbe blätterte ab. Wegen der glatten Treppenstufen konnten die Männer nicht genügend ausholen, um ihrer Ramme die rechte Wucht zu geben.
„Laima!“, rief Janis, „Laima!“
„Komm heraus, oder wir räuchern dich aus! Stahl, Stein und Lunte her! Schlagt Feuer!“
„Nicht Feuer, nicht Feuer! Meine Tochter!“
Da kam auch schon einer angesprungen mit einem brennenden Scheit, das er aus irgendeinem Herd in der Nachbarschaft gerissen hatte.
„Nicht, nicht!“, wimmerte Janis.
„Stoßt die Luken ein! Werft den Brand durchs Fenster!“
Wild sprang er gegen den zum Wurf erhobenen Arm. Der Mann glitt aus, Janis stürzte über ihn, krallte sich in seinen Rock, bereit, ihm wie ein Wolf die Zähne in den Hals zu schlagen, sah nicht, dass das brennende Scheit in den Schnee gefallen war, die Flammen verzischten und ein anderer sich danach bückte, um es aufzuheben, bevor es ganz verlosch.
Jemand riss ihn an den Schultern hoch, er musste ablassen von dem unter ihm, der stöhnend in den Schnee spuckte. Der Große, Starke packte Janis, wirbelte ihn herum, zog ihn zu sich heran. „Bauer, du ...“
„Schlagt ihn tot, den Herrenknecht.“
Die kräftigen Arme hoben ihn an, als wollten sie ihn statt des Feuerbrandes durch das Fenster werfen. „Meine Laima, mein Töchterchen!“
„Halt, Leute, was soll das? Lasst ab von dem Mann!“ Die Stimme des freundlichen jungen Mannes, seines Helfers, seines Retters.
Der Griff um Janis lockerte sich nicht.
„Er hat sich ...“
„Lass ihn los!“
Janis kam wieder mit den Füßen auf die Erde, aber noch hielt ihn der Große an der Schulter fest. Wenn ihn wieder die Wut packte, schleuderte er ihn vielleicht gegen die Hauswand.
„Da sieh, wie er sich aufführt, der Mistbauer!“
Der, den Janis umgeworfen hatte, rappelte sich auf und suchte seine Mütze, die ihm entfallen war. Vom Hinterkopf rann ihm ein dunkler Blutfaden in den Kragen.
Der andere, der gegen das nur noch glimmende Stück Holz blies, damit die Flammen wieder aufflackern sollten, trat näher an das Fenster. Er brauchte den Arm nur auszustrecken.
„Seid ihr des Teufels! Wollt ihr die ganze Stadt abbrennen?“
„Nur Bergens Schinken räuchern.“
„Wozu hast du den Kopf auf den Schultern, Grapengießer? Oder bist du ein Hexenmeister, der den Flammen befehlen kann, wenn sie an den Dachsparren des Nachbarhauses lecken: gebt Frieden!“
Betreten senkten die Männer die Köpfe. Der Starke ließ Janis los. „Na, nichts für ungut, Bauer“, brummte er und fragte den Freundlichen, der anscheinend in Ansehen bei diesen Leuten stand, wobei er mit dem Daumen über die Schulter auf das Bürgermeisterhaus wies: „Willst du den ungeschoren lassen, Hans?“
„Solltest deine Kräfte an der Türfüllung üben, anstatt an unserm Freund.“
„Rennt mich aber auch an wie der Ochse das Kirchentor!“, murrte der Blutende. „Hätt’ doch sein Maul aufmachen können.“
Sein Nebenmann wand ihm ein blauleinenes Tuch um den Kopf und raunte ihm zu: „Den Undeutschen traue ich trotzdem nicht.“
„Grad du, wo deine Mutter ...“
„Deswegen ja, ich kenne sie, strecken sich immer nach der Decke.“
Geboren 8.7.1926 in Marienthal, Kreis Greifenhagen (Pommern), aufgewachsen und Volksschule in Wildenbruch/Pommern.
Lehrerbildungsanstalt in Neisse und Patschkau (Oberschlesien), Arbeitsdienst, Wehrmacht, Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion.
Vorstudienschule Greifswald, Studium der Germanistik (abgebrochen), Dramaturg an den Theatern Greifswald und Stralsund, Arbeit in verschiedenen Kulturverwaltungen, Chefdramaturg des Staatlichen Folkloreensembles der DDR.
Seit 1967 freischaffender Schriftsteller.
Heinz-Jürgen Zierke lebt seit 1969 in Stralsund.
Bibliografie
Das Gottesurteil, Roman, 1965
Sieben Rebellen, 1957
Sie nannten mich Nettelbeck, Roman, 1969
Eine Chance für Biggers, Roman, 1970
Nowgorodfahrer, Roman, 1973
Von einem, der auszog, Napoleon zu schlagen, 1975
Gänge durch eine alte Stadt, Riga, 1977
Karl XII. ,Roman, 1978
Eine livländische Weihnachtsgeschichte, Erzählungen, 1981
Ich war Ferdinand von Schill, Roman, 1983
Der Dänenschatz, 1988
Wibald der Mönch, Roman, 1987
Odins Schwert, 1990
Pommern grient,1997
Spuk auf Spyker, Erzählungen, 1998
Ana Regina vaziuoja i miesta, Novelle, 1998
Das Mädchen aus Vineta, Erzählung, 2000
Kinderhörspiele (vor 1990)
Hensken
Jana
Der schwarze Stein
Der Rebellenmajor u. a.
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- Artikel-Nr.: SW9783956553288
- Artikelnummer SW9783956553288
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Autor
Heinz-Jürgen Zierke
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 325
- Veröffentlichung 02.04.2015
- ISBN 9783956553288