Jonas wird misstrauisch

Kriminalerzählung

An einem Wintertag des Jahres 1967 verließ der Kollege P., leitender Mitarbeiter des Eulenspiegel Verlages, um die Mittagszeit sein Büro in der Kronenstraße 73/74., um sich, wie er sagte, kurz mit einem alten Kriegskameraden zu treffen. Als seine Kollegen Feierabend machten, war P. noch immer nicht zurückgekehrt. Am nächsten Tag erschien er, sonst ein Muster an Korrektheit, nicht zum Dienst. Die Kollegen begannen sich zu wundern, zumal er am Vortage nicht mal seinen Mantel mitgenommen hatte. Bald schwirrten die Gerüchte durch das Haus. Am Morgen darauf ging in einem Dorf bei Bernau eine junge Frau zur Arbeit. In einem Waldstück blieb ihr vor... alles anzeigen expand_more

An einem Wintertag des Jahres 1967 verließ der Kollege P., leitender Mitarbeiter des Eulenspiegel Verlages, um die Mittagszeit sein Büro in der Kronenstraße 73/74., um sich, wie er sagte, kurz mit einem alten Kriegskameraden zu treffen. Als seine Kollegen Feierabend machten, war P. noch immer nicht zurückgekehrt. Am nächsten Tag erschien er, sonst ein Muster an Korrektheit, nicht zum Dienst. Die Kollegen begannen sich zu wundern, zumal er am Vortage nicht mal seinen Mantel mitgenommen hatte. Bald schwirrten die Gerüchte durch das Haus.

Am Morgen darauf ging in einem Dorf bei Bernau eine junge Frau zur Arbeit. In einem Waldstück blieb ihr vor Schreck beinahe das Herz stehen. An dem Ast einer Eiche baumelte ein Mann mit heraushängender Zunge …

Der Fall P. konnte nie aufgeklärt werden. Als der Verlag Neues Berlin einen Wettbewerb um die beste Kriminalerzählung ausschrieb, beschloss ich, mich zu beteiligen. Da ich für längere Arbeiten gern den häuslichen vier Wänden entfleuchte, suchte ich mir ein ruhiges Quartier in der Uckermark. Als ich mit meinem Trabant gen Norden fuhr, hielt mich kurz hinter der Berliner Stadtgrenze ein junger Mann an. Ob ich bis Zerpenschleuse führe? Nachdem er eingestiegen war, erzählte er mir, er habe gerade seine Abiturprüfung bestanden. Ich gratulierte ihm und fragte ihn, warum er dann so ein trübseliges Gesicht mache. Da sagte er mir mit Tränen in den Augen, vor drei Tagen habe sich sein Lieblingslehrer erhängt.

Kurz vor Templin fand ich nach einigem Suchen mein Quartier. Es lag mitten im Walde, im Ortsteil Dreihäuser. In einem der drei kleinen Gehöfte bezog ich eine einfache Laube. Als es dunkel wurde schaute ich durch das Fenster auf den mondbeschienen alten Bauerngarten - und stutzte. Hinter den Beeten , dicht am Zaun lagen fünf flache Hügel. Sie sahen aus wie fünf Gräber.

Am nächsten Morgen erzählte mir meine Wirtin, die Bauersfrau Lemke: Jo, dat sind tatsächlich Gräber. Im April 1945 war hier ne Flüchtlingsfamilie einquartiert, und die ham sich, wie denn der Russe immer näher kam, vor lauter Angst inne Scheune uffjebammelt. Wat sollten wir damals machen - in dem Wirrwarr und die Kampfhandlungen? Da hat se unser Vadder eben mussten hier im Jarten bejraben.

Noch nie habe ich eine Geschichte so schnell zu Ende geschrieben wie in der Laube zu Dreihäuser. Später gewann ich dafür sogar den ersten Preis, und sie wurde 1967 in der Blaulicht-Reihe veröffentlicht.

C.U.W.



„Wer ist denn das, der alte Perner?“, erkundigte ich mich. Der Wirt kuckte mich erstaunt an. „Hat Ihnen Ihr Chef nicht von diesem Original erzählt?“ Er setzte sich wieder an meinen Tisch. „Tja, ein verrückter armer Teufel. Er ist nicht mehr ganz richtig im Kopfe, seit sie fünfundvierzig seinen Sohn erschossen haben.“

Ich musste mir Mühe geben, nicht sofort vom Tisch aufzuspringen. „Ach, die Amerikaner“, sagte ich so nebenher.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein, junger Mann. Die eigenen Landsleute, das ist ja das Traurige daran. Der Amerikaner muss schon im Oberharz gestanden haben. Wir hörten deutlich den Kanonendonner. Jeden Tag kamen versprengte Landser hier durch, einigen haben wir noch heimlich Zivilklamotten gegeben, obwohl das für uns verdammt gefährlich war. Aber seit Wochen lagen ja keine Truppen mehr im Dorf, und wir waren ganz froh, dass uns keiner verteidigen wollte. An einem Vormittag kam Perner aufgeregt zu mir und erzählte, dass sein Junge wieder da sei. Der muss damals so sechzehn gewesen sein. Die Nazis hatten ihn von der Oberschule weggeholt und mit seinen Kameraden noch in die graue Uniform gesteckt. Kurz darauf war er ausgerissen und hatte sich zu seinen Eltern durchgeschlagen. ,Was mach ich bloß mit ihm?‘, stammelte Perner, der völlig die Nerven verloren hatte. ,Erzählt es nicht im Dorf herum‘, riet ich ihm, ,vergrabt die Klamotten im Garten und lasst den Jungen im Schuppen.‘ Eine Viertelstunde später näherte sich eine kleine Kradabteilung dem Dorf. Wir wollten schon die weißen Lappen ’raushängen, weil wir dachten, nun ist es soweit. Aber es waren deutsche Soldaten in voller Kriegsbemalung, ein Feldwebel mit einem Panzerjagdkommando. Der Feldwebel quartierte sich mit drei Leuten bei mir ein, den Rest verteilte er auf ein paar andere Häuser. Am andern Morgen sollten wir alle mit ’raus vors Dorf, einen Panzergraben ausheben. Zunächst waren die Brüder so erschöpft, dass sie sich erst mal auspennen wollten. Tja, wie das nun eigentlich mit Perners Sohn war, weiß ich nicht mehr ganz genau. Ich glaube, die haben in der Eile die Grube mit den Sachen nicht mehr richtig zuschaufeln können, und als der Unteroffizier, der bei Perners lag, da was entdeckt hat, ließ er das ganze Gehöft durchsuchen. Und dann haben sie den armen Bengel gefunden. Ich war dabei, als der Unteroffizier hierherkam und dem Feldwebel die Meldung machte. Der fackelte nicht lange. ,Nimm dir zwei Mann mit, und wenn es dunkel ist, legt ihr ihn um, aber nicht im Dorf!‘ Und man stand dabei und konnte nichts machen, denn man hatte ja selber Angst um sein bisschen Leben. Bald darauf hörten wir flussaufwärts drei Schüsse. Tja ...“

„Hat der Amerikaner die Bande wenigstens noch erwischt?“, fragte ich endlich und merkte, wie mir eine Gänsehaut den Rücken hochkroch.

Der Wirt schüttelte den Kopf. „Noch im Morgengrauen sind sie abgerückt, und wir haben sie nicht mehr gesehen. Am nächsten Tag waren die Amis hier. Tja, eine traurige Geschichte. Dem alten Perner starb ein paar Jahre später die Frau, und er selber ist seit fünfundvierzig ein bisschen wunderlich. Bis zum Herbst hat er noch im Forst gearbeitet, aber seit er nun den ganzen Tag allein in seinem Haus sitzt, geht es abwärts mit ihm. Er redet fast nur noch von seinem Sohn und dass er mit dem Mörder noch abrechnen wird.“



C. U. Wiesner

Geboren im letzten Monat der Weimarer Republik, am Neujahrstag 1933, in der einstigen märkischen Hauptstadt Brandenburg, entwich nach dem Abitur den heimatlichen Stadtmauerzwängen, gelangte in eine etwas größere Hauptstadt, ohne zu ahnen, dass man dort schon zehn Jahre später aus väterlicher Sorge bemüht sein würde, ihm den Horizont mit erheblicherem Bauaufwand zu verstellen.

Eines Tages mochte er fürder nicht mehr in der eingefriedeten Hauptstadt leben und zog es vor, in die vertrauten märkischen Wälder zurückzukehren.

Dank prophetischer Gaben bestellte er den Möbelwagen von Berlin-Pankow nach Klosterfelde für den 9. November 1989.

Während des achtunddreißigjährigen Berlin-Aufenthalts:

Studien als Dolmetscher für Englisch; Germanistik und Filmszenaristik (diese im Gegensatz zu jenen hin und wieder angewandt).

Tätig als Lektor, Redakteur, Reporter, Theaterkritiker, Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift Eulenspiegel, Entertainer in eigener Sache, Schauspieler (leider zu selten) und (vorwiegend) Schriftsteller.

Sein bekanntestes Geschöpf ist der Frisör Kleinekorte, den das Berlin-Brandenburgische Wörterbuch zu Recht an die Seite der Volksfiguren von Glaßbrenner und Tucholsky stellt.

C.U.W. schrieb u. a. Hörspiele, Kabarett-Texte, Fernsehfilme und Fernsehserien (u. a. Gespenstergeschichten wie Spuk unterm Riesenrad, Spuk im Hochhaus, Spuk aus der Gruft für Kinder von 8 bis 88 Jahren) sowie dreizehn Bücher, vom Kinderbuch über den Kriminalroman, die satirische Darstellung eigener Umwelt im weitesten Sinne bis zum bitteren erst um die Jahreswende 1989/90 nach einiger Verzögerung erschienenen Märchenroman für Erwachsene Die Geister von Thorland, Machs gut, Schneewittchen! und Lebwohl, Rapunzel! erzählen von den Kinder- und Jugendjahren in der Havelstadt Brandenburg.

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