Hinter dem Zifferblatt 2 - Teuflische Kinder

Horrorkabinett - Band 13

Die Erben des geheimnisvollen Uhrmachers Philip Seidelbast leben in dem von ihm geerbten Haus tief im Bayerischen Wald, zusammen mit unzähligen Uhren, Diese entwickeln wieder ein unheimliches Eigenleben und schicken die Bewohner auf gefährliche Zeitreisen. Ziel ist ein ehemaliges Kinderheim, dessen Ruinen irgendwo verschollen mitten im Wald liegen. Dort wurden einst Kinder von den grausamen Angestellten gequält und sannen auf Rache. Doch die Helfer, die ihnen Hilfe anboten, entpuppen sich als das leibhaftige Böse. Wird es Franz Seidelbast, seiner Mutter und seiner Lebensgefährtin gelingen, mithilfe der Uhren die Vergangenheit zu ändern und die... alles anzeigen expand_more

Die Erben des geheimnisvollen Uhrmachers Philip Seidelbast leben in dem von ihm geerbten Haus tief im Bayerischen Wald, zusammen mit unzähligen Uhren, Diese entwickeln wieder ein unheimliches Eigenleben und schicken die Bewohner auf gefährliche Zeitreisen.

Ziel ist ein ehemaliges Kinderheim, dessen Ruinen irgendwo verschollen mitten im Wald liegen.

Dort wurden einst Kinder von den grausamen Angestellten gequält und sannen auf Rache. Doch die Helfer, die ihnen Hilfe anboten, entpuppen sich als das leibhaftige Böse.

Wird es Franz Seidelbast, seiner Mutter und seiner Lebensgefährtin gelingen, mithilfe der Uhren die Vergangenheit zu ändern und die Zukunft zu retten?

„Teuflische Kinder“ ist das zweite Abenteuer der Familie Seidelbast und liegt hier als Erstveröffentlichung vor.



Erinnern Sie sich an mich? Mein Name ist Franz Seidelbast. Ich habe Ihnen zuletzt von den verrückten Erlebnissen erzählt, die sich nach dem Tod meines Vaters Max Seidelbast und dessen Bruder Philip ereigneten. Ich war, bis ich zum ersten Mal das gespenstische Haus mitten im Wald betrat, überzeugter Realist gewesen. Philips Bude, ein Gebäude mit winzigen Fensterchen und unzähligen alten klackenden Uhren in allen Räumen, gehört jetzt mir. Ich bewohne es, nachdem ich es letztes Jahr geerbt hatte, zusammen mit meiner Lebensgefährtin Kerstin, meiner Mutter Maria und seltsamen Geistern.

Geistern? Das fragen Sie sich? Ja, Sie haben richtig gehört. Wesen aus einer anderen Dimension gehören seit dem Umzug in den Bayerischen Wald zum Leben dazu.

Ich war IT Spezialist und unerklärliche Phänomene regten mich stets nur zu einem verächtlichen Schmunzeln an. Als mein Vater verstarb, säuselten ein paar Verwandte hinter vorgehaltener Hand von einem Fluch, den Onkel Philip gegen ihn ausgestoßen haben soll.

Selbst auf der Beerdigung sah man in deren Augen Verunsicherung glimmen. Sogar meine Mutter - Maria Seidelbast - war davon betroffen. Voller Angst wollte sie mich von dem bösartigen mysteriösen Onkel und dessen Erbe fernhalten. Gut, dass es ihr letztendlich nicht geglückt ist.

Philip, der einsam in einem winzigen Kaff am Rande des Nirgendwo hauste, hatte sein Leben den alten Minutensprunguhren gewidmet, die massenweise auf dem Schrott landeten.

Die betagten Zeitmesser, die jahrzehntelang in den Fluren von Ämtern, Schulen, Praxen und Krankenhäusern ihr durchdringendes Klack zu jeder vollen Minute in die Köpfe der Menschen gehämmert hatten, wurden nach und nach ersetzt durch Digitalzeitanzeiger.

Zifferblätter in allen Farben landeten scheppernd in Metallcontainern. Winzige Zahnräder und Uhrwerke, die jahrzehntelang ihren Dienst verrichteten, zerbarsten. Zeiger verbogen sich kurios. Aber Philip hatte zeitlebens viele von ihnen gerettet, sie liebevoll repariert und ihnen neues Leben eingehaucht. Denn er kannte die Geheimnisse, die hinter dem Zifferblatt lauerten.

Ich habe inzwischen seine Nachfolge angetreten, widme mich den Uhren, setze sie instand und arrangiere mich mit den mysteriösen, grausamen, gruseligen oder emotionalen Geschichten, die diese Zeitmesser im Lauf ihres rastlosen Lebens gespeichert haben.

Und Sie dürfen mir glauben, es sind Szenen, die unter die Haut gehen. Das habe ich am eigenen Leib gespürt, als ich meine erste Reisen in eine unbekannte Welt antrat und durch die Uhr in die Vergangenheit blickte, die manche Menschen lieber unter dem grauen Tuch des Vergessens versteckt hätten.

Denn ohne Onkel Philips alte Minutensprunguhren, die auch heute noch jeden Quadratzentimeter der Zimmerwände bedecken, hätte ich nie erfahren, dass wir uns alle in Vater Max getäuscht hatten. Die Uhr im Wohnzimmer meiner Eltern enthüllte letztendlich seinen wahren, bitterbösen Charakter. Es war kein Fluch, der ihm das Leben gekostet hat. Er hat seine Seele ganz allein dem Teufel geschenkt. Aber … das habe ich Ihnen ja alles schon erzählt in der vorangegangenen Geschichte.

Ich hoffte eigentlich, dass Kerstin, Mutter Maria und meine Wenigkeit ein ruhiges Leben im Waldhäuschen führen könnten, doch da habe ich mich leider getäuscht. Die menschliche Welt ist voll von bösen Einflüssen und Philips Zeitmesser haben noch viel zu erzählen.

Habe ich die erste Uhr, die ich nach dem Tod des Onkels selbst repariert habe, bereits erwähnt? Auch sie stammt aus einem Schrottcontainer. Ihr Zifferblatt war leuchtend rot, glänzende Messingkugeln markierten die Stunden darauf. Der Knopf auf der die Sechsuhrposition, fehlte ihr. Dafür wirkten die goldfarbenen Zeiger wie winzige Meisterwerke der Uhrmacherkunst und glichen den Makel wieder aus.

Als ich sie in einem Traum, den mir Philips Mutteruhr im Keller bescherte, aus dem Müll zog, tat sie mir leid. Sie ähnelte einem kranken Tier, das meine Hilfe benötigt. Ich weiß nicht, wie es genau geschah. Das Gefühl, in die Zukunft gereist zu sein, ließ mich nicht los. Doch plötzlich lag sie ganz real in einem unscheinbaren Karton auf den Stufen der Kellertreppe, als könne sie den Tag, an dem ich sie wirklich auf dem Müll finden würde, gar nicht mehr erwarten. Hatte ich sie übersehen? Hatte Onkel Philip sie extra für mich dorthin gestellt? Ich machte mich jedenfalls daran, sie in Gang zu setzen und erfreute mich an ihrem moderaten Klack, als ihre Zeiger sich wieder im unablässigen Strom der Zeit bewegten.



*



Die rote Uhr erhielt von diesem Tag an einen besonderen Platz. Noch heute hängt sie neben einer ihrer Schwestern über der blauen, abgewetzten Couch, die mich bei meinem ersten Besuch in diesem Haus beinahe aufgefressen hätte.

Sie haben richtig gehört. Um ein Haar wäre ich in ihren weichen, abgetragenen Polstern in eine üble Unterwelt entschwunden, da auch sie ein schreckliches Geheimnis barg. Übrigens, es war Mutter Maria, die darauf bestanden hatte, das seltsame Sofa nicht durch ein moderneres Sitzmöbel zu ersetzen. Oft beobachte ich sie dabei, wie sie sich verzückt und ohne Angst in die Polster sinken lässt. Inzwischen sieht sie in diesem Sofa keine Gefahr, ganz im Gegenteil. Wenn sie sich darauf niederlässt, formen ihre Lippen lautlose Worte und ihre Hände streicheln über unsichtbare Wesen. Ich hätte schwören können, schemenhaft eine weiße Maus und einen struppigen Hund darauf zu erkennen.

Ich weiß, das klingt ganz schön verrückt, denn die Tierkonturen verschwimmen mit den Farben der Kissen und nur Marias streichelnde Hand verrät mir ihre geisterhafte Existenz. Ihre Finger gleiten über Köpfchen, Rücken und Schwanz unsichtbarer Haustiere. Wir haben bis heute nie ausführlich darüber geredet. Aber meine Mutter scheint eine besonders starke Bindung zu Maus und Hund aus dem Jenseits zu besitzen. Doch … dann verflüchtigte sich der Hausfrieden.

Im Januar 2024, als kurzzeitig der Schnee den Wald in eine Märchenlandschaft verwandelte, begann die rote Uhr über der Couch ein gruseliges Eigenleben. Nie hätte ich gedacht, dass ihre Erinnerungen von einer derartigen Brisanz sein könnten. Ich warne Sie, für schlaflose Nächte übernehme ich keinerlei Verantwortung – okay? Sie sind hart im Nehmen? Dann hören Sie zu:

»Schatz, … Uhren … Wohnzimmer … abstauben?«, drang Kerstins Stimme bruchstückhaft aus unserer gemütlichen Stube. Ich befand mich gerade in der Küche, wo ich mir einen Humpen Kaffee von der neuen, sündhaft teuren Maschine brühen ließ. Meine Mutter hatte darauf bestanden, dass so ein Gerät hier ins Waldhaus einziehen musste. Durch das Kreischen des Mahlwerks hatte ich nicht alles verstanden. Es dauerte eine Schrecksekunde lang, bis ich begriff, was meine Lebensgefährtin vorhatte. Ich stellte die Tasse hastig auf die Arbeitsfläche und eilte ihr zur Hilfe. Kerstin kannte zwar zum Teil die Geheimnisse der alten Zeitmesser, aber im Wohnzimmer hing über dem Sofa eben auch die feuerrote Uhr mit dem fehlenden Messingknopf auf der Sechsuhrposition. Seit Wochen grübelte ich schon darüber nach, die Uhr umzuhängen, an einen Platz, an dem man sie nicht jeden Tag intensiv betrachten würde. Aber eine unbekannte Kraft hielt mich immer wieder davon ab. Kerstin zog sich gerade einen Stuhl heran, als ich durch die Tür stürmte. Oft benutzte sie die Sitzmöbel als Leiter, obwohl wir eine moderne Alusteighilfe im Haus hatten. Doch dieses Mal stieg sie nicht auf den Stuhl. Sie stand vor der Couch und starrte auf das Zifferblatt an der Wand dahinter.

»Liebes, geh da weg«, keuchte ich. Sie reagierte nicht. Ihre blauen Augen fixierten das winzige Loch neben der Zeigernabe. Entschlossen sparte ich mir jede weitere Warnung, hechtete auf sie zu und umklammerte ihren Oberkörper. Durch die Wucht meines Sprungs landeten wir beide auf dem blauen Sofa. Ich drehte Kerstins Gesicht entschlossen in Richtung eines der bunten Kissen, um ihren Blick vor der feuerroten Uhr zu schützen. Sie stöhnte auf.

In diesem Augenblick fing das Zifferblatt im gedämpften Schein des schneegeschwängerten Tageslichts an zu leuchten. Das Rot wurde zu einer blendenden Farbe, pulsierend, fast aufdringlich. Ich hätte schwören können, dass der alte Zeitmesser wütend war, weil er es nicht schaffte, Kerstin hinter sein Zifferblatt zu ziehen. Welch uralte Geheimnisse lauerten da? Es schien mir beinahe so, als zitterten die Zeiger der Uhr ungeduldig. Sie wollte nicht ignoriert werden. Ich hatte mich (aber das wissen Sie ja aus meinen Erzählungen um den Fluch des Uhrmachers) im letzten Jahr wahrlich auf genug mystische Reisen dieser Minutensprunguhren begeben. Noch immer schwirrten mir die gruseligen Szenen, die ich durch die Zifferblätter hindurch als stummer Betrachter mit angesehen hatte, wie Schmeißfliegen durch den Kopf.

So langsam kehrte Kerstin in die Realität zurück. »Was ist denn passiert?«, fragte sie verwirrt. »Warum liegen wir hier auf dem Sofa und wieso hältst du mich fest?«

Als würde die Rundumleuchte eines Feuerwehrfahrzeugs das Innere unserer Stube ausleuchten, zuckte das pulsierende, grelle Rotlicht durch den Raum. »Die Uhr wollte dich in ihren Bann ziehen. Betrachte nicht ihr Zifferblatt«, antwortete ich nervös. »Ich hätte sie längst umhängen sollen.«

»Aber … aber wieso sollte sie das? Es ist doch keine der Uhren, die wir beide aus unserer Vergangenheit kennen?«

»Vielleicht ist das, was sie uns mitteilen will, extrem wichtig? Vielleicht braucht jemand Hilfe?«, mutmaßte ich und wagte einen ganz kurzen Blick mit halbgeschlossenen Lidern hinauf zur Wand. Nicht nur das Zifferblatt leuchtete, sondern inzwischen glühten die feinen, goldfarbenen Zeiger wie Stricknadeln, die man ins offene Feuer gelegt hatte. Kerstin wand sich aus meinem Griff, vermied aber, die Uhr anzuschauen.

»Dann hänge einfach ein Tuch drüber, Philip. Das ist viel zu gefährlich, die Zeit von der roten Uhr abzulesen. Gott weiß, welch satanische Dinge uns dahinter erwarten. Stell dir nur mal vor …« Weiter kam sie nicht. In diesem Moment betrat meine Mutter ahnungslos den Wohnraum. Alles ging so schnell, dass weder ich noch Kerstin reagieren konnten.

Maria eilte lächelnd auf uns zu. Sie hielt einen Einkaufskorb in den Händen. »In Zwiesel gab es Bauernbrot mit Kümmel«, teilte sie uns mit. Plötzlich fiel der Korb zu Boden. Die Mutter starrte in das pulsierende rote Licht. Bis wir auf den Beinen waren, verflüssigte sich ihr Körper vor unseren Augen, wurde zu einer Statue aus gallertartigem Material. Rasend schnell verwandelte sie sich in einen dünnen, rotierenden Schlauch. Die feuerrote Uhr sog sie durch das winzige Loch im Zifferblatt wie ein überdimensionaler Staubsauger. Neben mir ertönte ein heiserer Schrei. Kerstin starrte entsetzt auf die gruseligen Vorgänge.

Hastig drehte ich ihr den Kopf ein zweites Mal weg. Die Uhr wirkte außer Rand und Band. Ich wusste zwar einiges über dieser Zeitreisen, hatte sie ja selbst mehrere Male erlebt. Aber bisher war ich davon ausgegangen, dass man sich nur in einer Art Trance befand, wenn man auf die mysteriösen Zifferblätter blickte, während man in längst vergangene Dramen eintauchte. Doch ich hätte nie damit gerechnet, dass die Zeitmesser in der Lage waren, einen Menschen aus Fleisch und Blut einzusaugen.

Ganz vorsichtig und mit halb geschlossenen Lidern wagte ich einen kurzen Blick auf das Zifferblatt. Die Zeiger liefen rückwärts, wie vermutet. Klack tönte es aufdringlich durch den Raum, dann verblassten die glühenden Farben im spärlichen Tageslicht und hinterließen ein beinahe friedliches Bild. Draußen schickte die schrägstehende Sonne einige Strahlen durch das Wohnzimmerfenster. Sie beleuchteten kurios den Einkaufskorb, der auf dem dunklen Holzboden stand. Das Brot darin duftete verführerisch. Meine Mutter blieb verschwunden.

Neben mir fing Kerstin an zu weinen. Ihr Verstand konnte noch immer nicht fassen, was da gerade passiert war. Ich nahm sie in den Arm, küsste sanft ihr blondes Haar, in das sich bereits einige graue Strähnen mogelten und schob sie hinaus in den Flur. Auch dort hingen unzählige Uhren, deren Zeiger jede Minute im Gleichtakt auf eine neue Position sprangen. Ich hatte all die Zeitanzeiger nie als gefährlich eingeschätzt, ganz im Gegenteil sogar. Ohne die tickenden Dinger an den Wänden hätte ich niemals erfahren, welch unfassbare Schandtaten von meinem Vater begangen worden waren. Die Uhren zeigten mir gegenüber stets ein freundliches Gesicht mit all ihren längst vergangenen Geschichten, die sie im Lauf der Zeit an den Wänden menschlicher Behausungen gespeichert hatten. Die feuerrote Uhr jedoch schien eine Ausnahme zu bilden. Ihre Bösartigkeit trieb mir Schauder über den Rücken. Mir blieb letztendlich nichts weiter übrig, als ihre Geheimnisse zu ergründen. Immerhin hielt sie Maria in ihren teuflischen Abgründen gefangen. Ich konnte nur hoffen, dass sie heil zurückkehren würde.

»Das tickende Monster hat … hat deine Mutter verschluckt, Philip«, stammelte Kerstin verzweifelt. »Wir müssen sofort etwas unternehmen.«

Ich nickte. »Du hast ja recht, mein Liebling. Aber wir sollten jetzt nicht unüberlegt handeln. Wenn ich nur wüsste, warum die rote Uhr sich so abartig verhält.«

»Vielleicht haben wir sie zu lange ignoriert?«, mutmaßte Kerstin schniefend. »Was ist, wenn ihre Geschichte so brisant ist, dass sie erzählt werden muss?«

»Das würde bedeuten, dass irgendetwas Böses aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart drängt und zur Gefahr wird?«, dachte ich laut nach.

»Erinnere dich an das letzte Jahr. Alte Schandtaten mussten aufgeklärt werden, sonst hätte die Seele deines verstorbenen Onkels niemals Ruhe gefunden.«

Ich strich mir gedankenverloren über mein schlampig rasiertes Kinn und spann den Gedanken weiter. »Das könnte tatsächlich sein. Erinnerst du dich an den Tag, als wir uns in dem Uhrentraum zum ersten Mal begegnet sind? Wir standen beide am Schrottcontainer, in dem viele Uhren lagen. Und das Teil mit dem roten Zifferblatt hat mich magisch angezogen. Ich konnte die Augen nicht mehr davon lassen. Die verbogenen Zeiger schrien um Hilfe.«

Kerstin antwortete sofort. »Wie hätte ich diesen Tag jemals vergessen können. Da sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Auch ich war auf der Suche nach einer ganz bestimmten Uhr.«

Spontan küsste ich Kerstin auf die Stirn. »Du warst auf der Suche nach der Uhr mit dem Strahlenkranz und hast sie in Onkel Philips Haus gefunden.«

Ihre Augen leuchteten bei diesen Erinnerungen. Doch gerade in dem Moment, als sie die Lippen erneut öffnen wollte, flog die Wohnzimmertür auf. Erschrocken sprangen wir beide zurück. Mein Arm berührte dabei eine elfenbeinfarbene, runde Uhr, die sich von ihrem Haken an der Wand löste. Sie fiel aber nicht zu Boden, sondern schwang an ihren dünnen Kabeln hin- und her. Sie erinnerte mich an einen Gehängten, dessen Körper vom Wind bewegt wird. Im Türrahmen stand meine Mutter. Sie wirkte ein bisschen blass aber unversehrt. Der Korb mit dem Bauernbrot hing an ihrem linken Arm.

»Ihr glaubt es nicht«, erklärte sie, als sie unsere verdutzten Gesichter erblickte. »Jetzt habe ich doch tatsächlich einen Augenblick lang geschlafen. Scheinbar werde ich alt.« Sie gähnte. »Und ich hatte einen komischen Traum.«

Zeitgleich umarmten Kerstin und ich die vierundsiebzigjährige Maria, deren Leben sich letztes Jahr durch die Wahrheiten hinter Onkel Philips Zifferblättern zum Besseren gewandelt hatte. Sie lachte auf. »Erdrückt mich nicht«, mahnte sie lachend. »Ich habe doch nur ein Nickerchen gemacht. Mir geht es gut.«

Zögernd löste ich mich von meiner Mutter. Es war offensichtlich, dass sie von den unheimlichen Vorgängen im Wohnzimmer gar nichts mitbekommen hatte. Rasch warf ich Kerstin einen mahnenden Blick zu, ihr nicht die Wahrheit zu verraten, dann räusperte ich mich und fragte sie unverblümt: »Was hast du denn geträumt, Mama? Willst du uns davon erzählen?«

Maria winkte mit einer barschen Geste ab. »Ach, das ist doch nicht so wichtig, Philip. Ich hab von einem Kinderkurheim geträumt. Da war ich mal als Mädel. Das sind alles staubige Erinnerungen, jetzt schneiden wir erst mal das Bauernbrot an. Es ist ja noch warm.» Gerade wollte sie mit dem Korb in die Küche laufen. Aber ich hielt sie am Arm fest.

»Erinnere dich an letztes Jahr, Mama«, mahnte ich leise. »Manchmal sind solche Träume verdammt wichtig und werden auch Wahrheit.«

Mutter seufzte. Nach kurzer Überlegung stellte sie den Korb ab und ließ sich auf der kleinen, knarrenden Holzbank nieder, die im Flur stand. Ich konnte in ihren Gesichtszügen lesen, dass sie sich genau an die gruseligen Szenen erinnerte, die wir letztes Jahr in diesem Haus erleben durften. Zuerst hatte sie auch nur an Albträume gedacht, aber die Uhren hatten nichts als die nackte, unbequeme Realität wiedergegeben. Eine Tatsache, an die sich meine Mutter noch gewöhnen musste. Sie blickte erst Kerstin, dann mir in die Augen und begann zu erzählen:

»Da gab es mal so ein Kurheim in einem gottverlassenen Dorf namens Gugelöde. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich mit acht Jahren dort hingeschickt wurde. Meine Eltern waren der Ansicht, ich sei für mein Alter schwach und kränklich. In der Schule fehlte ich häufig, weil mir immer schlecht wurde. Manchmal hatte ich sogar hohes Fieber und fantasierte, wenn die Temperatur über neununddreißig Grad stieg. Der Kinderarzt empfahl schließlich einen Erholungsaufenthalt im Waldklima, und ich landete in einer Kurklinik, die schon von außen wirkte wie eine Geisterbahn auf dem Münchner Oktoberfest.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Innen war es auch nicht besser. Es gab kahle Flure, in einem grässlichen Gelbton gestrichen und riesige Schlafsäle, in der fünfzehn oder mehr Kinder des Nachts schliefen. Knaben und Mädchen wurden strikt getrennt. Wer sich nicht an die Hausordnung hielt, dem drohten drakonische Strafen, wie kalte Wannenbäder oder Essensentzug.«

»Aber das kann doch nicht sein?«, platzte Kerstin in die Erinnerungen meiner Mutter. »So können die Betreiber einer Kurklinik doch nicht mit ihren kindlichen Bewohnern umgehen?«

Ein müdes Grinsen umspielte Marias Züge. Aber sie antwortete prompt. »Das waren ganz andere Zeiten. Damals war das eben so. Kinder wurden sogar von den Eltern geprügelt, wenn sie sich nicht brav verhielten.« Kurz huschte ihr Blick schuldbewusst zu mir. Vermutlich hatte sie sich an die schlimmen Taten ihres verstorbenen Mannes, also meines Vaters Max erinnert. Doch schnell fand sie wieder zurück zu ihrer Geschichte. »Da gab es zwei Krankenschwestern. Ich glaube, sie hießen Ilse und Inge. Sie trugen gestärkte Schürzen aus weißem Leinen, und ich erinnere mich noch an die Träger auf deren Rücken. Die sahen aus wie ein Andreaskreuz an einem Bahnübergang. Und genau die beiden Frauen mit ihren stets ernsten Gesichtern sind mir im Traum erschienen. Sie kamen in den Mädchenschlafsaal, kontrollierten die Betten und zogen einen mageren Jungen an den Ohren aus den warmen Federn. Der Kleine schlotterte vor Angst, trug einen viel zu weiten, blaugestreiften Schlafanzug und wimmerte furchterregend. Eine Schwester hatte sein linkes Ohr gepackt, die andere sein rechtes. Selbst, als er auf die Knie stürzte, haben sie ihn weiter geschleift. Es war ja den Buben strengstens verboten, den Mädchenschlafsaal zu betreten, geschweige denn, sich in ein freies Bett zulegen.«

Nun unterbrach ich meine Mutter. »Der Traum war ziemlich real nicht?«

Maria nickte.

»Und du hast die Szene nicht aus einem der Kinderbetten mit angesehen, sondern aus einer erhöhten Position …« Ich hob den rechten Arm empor und wies auf eine der Uhren, die über meinem Kopf hing. »In etwa so, als würdest du von oben herabschauen?«

Maria nickte. »Genau wie letztes Jahr, als ich die eigene Vergangenheit durch unsere schöne alte Wanduhr beobachtet habe. Aber dieses Mal war es doch nur ein dummer Traum, mein Sohn.«

Ich schüttelte den Kopf. Kurz fuhr mein Blick zu Kerstin, die sich angstvoll die Hand vor den Mund hielt. Sie ahnte, was ich jetzt sagen würde.

»Ich befürchte, du warst wirklich dort, Mum. Du hast für einen kurzen Moment auf das feuerrote Zifferblatt gestarrt, als du mit dem Einkaufskorb ins Wohnzimmer gegangen bist.«

Marias Augen nahmen einen zutiefst verunsicherten Ausdruck an. »Du … du meinst, dass ich wieder durch die Uhr in die Vergangenheit gereist bin?«, stammelte sie. »Das würde aber bedeuten, dass diese Uhr tatsächlich in dem alten Kinderkurheim in Gugelöde hing. Ich könnte aber schwören, dass es im ganzen Haus damals keine rote Uhr gegeben hat.«

»Das werden wir herausfinden. Die Uhr will uns dringend etwas mitteilen«, ergänzte ich. »Vermutlich braut sich da was Verruchtes zusammen, Mum. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen.«

Völlig in Gedanken versunken drehte ich mich weg, ergriff die runde, elfenbeinfarbene Uhr, die noch immer an ihrem Kabel hing wie ein zum Tode Verurteilter am Galgen, und hängte sie wieder an den Nagel. Mutter tippte mir auf die Schulter.

»Franz, hör mir noch einen Augenblick zu. Mir fällt da gerade noch was ein.« Kurz schwenkten ihre Augen zu Kerstin, die immer noch fassungslos unserem Gespräch folgte. Dann heftete sich ihr Blick ernst auf mein Gesicht. »Ich war damals erst acht Jahre alt. Aber jetzt kommen die Erinnerungen wie Puzzleteile im Kopf zusammen. Zur selben Zeit, als ich mich in Gugelöde aufhielt, kamen drei Kinder aus Köln an. Die Geschwister waren fünf, sechs und sieben Jahre alt. Ich höre noch das panische Geschrei des kleinen Buben, als man ihn in dem grässlichen, gelbgestrichenen Flur gewaltsam von seinen Schwestern trennte.

Selbst habe ich zwar nie mitbekommen, dass der Junge – ich glaub, er hieß Hans – heimlich im Mädchenschlafsaal übernachtete, um näher bei den Schwestern zu sein. ›Ich will zu MAGDA und zu ISOLDE‹, hatte er immerzu gejammert. Aber die Erwachsenen zeigten keinerlei Erbarmen. Im Gegenteil. Da gab es einen Arzt, ich glaub, der hieß Jakob mit Nachnamen. Der hat den Buben nachgeäfft und ihn einen Schwächling genannt.«

Mutter verstummte für einen Moment, vermutlich um ihre Gedanken zu sortieren. Das, was sie da von sich gab, klang für Kerstin und mich ohnehin nach einem schlechten Film, obwohl es grausame Wahrheit war. Nicht auszudenken, was man damals den Kindern seelisch und körperlich angetan hatte. Mitunter strahlten Fernsehsender Dokumentationen darüber aus. Kurz darauf setzte sie hinzu:

»Ich habe die Kinderschwestern mal belauscht, als sie im Garten unter einem Apfelbaum Zigaretten geraucht haben. Inge sagte zu ihrer Kollegin: ›Manchmal wünsche ich mir, die teuflischen Kinder würden in ihren Betten ganz einfach zu Staub zerfallen. Die Brut macht nur Arbeit, hat ein freches Maul, und ist doch eh zu nichts zu gebrauchen. Was soll aus denen mal werden, wenn sie jetzt schon zur Kur müssen?‹ Ilse hat daraufhin nur gelacht, und ich bin schnell davongelaufen. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie mich erwischt hätten. Das Gehörte habe ich jahrelang verdrängt. Jetzt erinnert sich mein Gehirn.« Ihr entfuhr ein Schluchzen. »Vielleicht war das auch der Grund, warum ich mich so lange nicht gegen die Brutalitäten deines Vaters gewehrt habe? Weil ich zu nichts zu gebrauchen war und auch zu den teuflischen Kindern gehörte?«

Wie auf ein Kommando hin schüttelten Kerstin und ich gemeinsam den Kopf. Wir nahmen die Mutter von beiden Seiten in den Arm. »Bitte sag doch so etwas nicht«, beschwichtigte ich sie. »Teuflische Kinder existieren nicht.«

Wie hätte ich da bereits ahnen sollen, an meiner Aussage jemals zu zweifeln?

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