Hinter dem Zifferblatt 3 - Die Hexenbrücke
Horrorkabinett - Band 17
Kaum haben die Seidelbasts ihr Abenteuer mit den Teuflischen Kindern heil überstanden, geht das schaurige Treiben im Bayrischen Wald auch schon weiter.
Was geschieht nachts bei der Hexenbrücke und wer sind die dunklen Gestalten, die dort ihr Unwesen treiben? Sind es echte Hexen oder nur junge Frauen, sie sich einbilden Hexen zu sein.
Und welche Rolle spielt Lisbeth Kranz, die Wirtin der Kneipe im Zwiesler Waldhaus bei diesem Geschehen?
Und wieder sind es die Minutensprunguhren im Haus der Seidelbasts, welche die Initiative übernehmen und Licht in das geisterhafte Treiben bringen. Aber sind sie auch stark genug, die Höllenbrut, die da zum Geisterleben erwacht ist, zu besiegen?
„Die Hexenbrücke“ ist das dritte Abenteuer der Familie Seidelbast und liegt hier als Erstveröffentlichung vor.
Mir steckt noch immer der Schreck in den Knochen von meinen Erlebnissen im Kinderheim Gugelöde. Das ist gerade einmal fünf Monate her. Teuflische Kinder waren von der Vergangenheit in die Gegenwart gereist, und um ein Haar wäre ich Opfer für die Gestalten aus der Hölle geworden. Meine Liebsten und natürlich die Minutensprunguhren in Onkel Philips Haus hatten mich schließlich gerettet. Aber das haben Sie bestimmt schon alles gelesen.
Was? Sie kennen mich noch gar nicht? Ich bin der Franz Seidelbast, sechsunddreißig Jahre alt und lebe mit Kerstin und Maria in einem geerbten Häuschen voller Uhren mitten im Bayerischen Wald. Maria, das ist übrigens meine Mutter, die vor nicht allzu langer Zeit zusammen mit mir die Mysterien, die hinter den Zifferblättern lungern, kennenlernen durfte. Kerstin, meine Lebensgefährtin, lernte ich ebenfalls durch die geheimnisvollen Minutensprunguhren kennen. Dafür werde ich den Zeitmessern ewig dankbar sein. Denn sie teilt meine Liebe zu den Geheimnissen hinter den Zifferblättern.
Wie? Sie denken, dass Uhren nur die Zeit anzeigen? Das dachte ich auch einmal. Als ich noch in München lebte, war ich ein totaler Realist. Zeitreisen, Gespenster oder Unerklärliches gehörten für mich lange Zeit in den Bereich Humbug und Aberglaube. Doch dann zeigten mir die alten Zifferblätter, welch unfassbare Geheimnisse sie in all den Jahren an den Wänden menschlicher Behausungen gespeichert hatten. Das war auch der Grund, warum mein verstorbener Onkel Philip sie aus Schrottcontainern oder Privathaushalten gerettet, liebevoll repariert und wieder in Gang gebracht hatte. Nach seinem Tod habe ich die Nachfolge angetreten und das synchrone Klack, wenn Hunderte von Zeigern auf eine neue Position springen, gehört zu diesem Haus im Wald, wie Dach, Fenster und Türen. Gegen nichts auf der Welt würde ich das außergewöhnliche Gebäude noch eintauschen. Es prägt unser Zusammenleben mit schattenhaften Wesen aus anderen Dimensionen, mit unfassbaren Geschichten aus längst vergangenen Zeiten und natürlich den mysteriösen Uhren, die jeden Quadratzentimeter der Wände in den Räumen bedecken. Klack!
Wahrscheinlich ahnen Sie bereits, dass uns nur eine kurze Ruhezeit vergönnt war. Im Juli 2024 klingelte es an der Haustür. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, nicht zu öffnen. Aber ich tat es. Also hören Sie zu, welch unfassbare Dinge sich danach abspielten:
Der scheppernde Ton, den die alte Haustürglocke durch die Räume des Hauses jagte, schrillte in meinen Ohren. Schon im Januar wollte ich sie auswechseln, doch da war mir die Sache mit den weißhaarigen Teufelsbälgern dazwischengekommen. Ich saß gerade im Arbeitszimmer und las im Internet einen Artikel über Turmuhren, der mich rundherum fesselte. Diese überdimensionierten Riesen wurden allesamt auch von sogenannten Mutteruhren gesteuert. Meist handelte es sich um uralte, mechanische Gebilde, die einer Höllenmaschine glichen, mit ihren Hebeln und Zahnrädern. Sie benötigten viel Wissen, Pflege und Platz. Auch in unserem Keller befand sich ein derartiges Meisterwerk der Technik, natürlich sehr viel kleiner, dennoch präzise und randvoll mit Geheimnissen, die meine Familie und ich noch jahrelang enträtseln würden.
Uhren faszinierten mich von Tag zu Tag mehr. Immer, wenn Kerstin und Maria nicht zu Hause waren, widmete ich mich den speziellen Foren von Uhrmachern oder Sammlern. Obwohl es hier unter dem Dach im Sommer ziemlich warm wurde, liebte ich den Raum mit der Dachschräge sehr. Selbstredend hingen an der einzigen senkrechten Wand des Zimmers Dutzende von Minutensprunguhren, dazwischen gerahmte Bilder von Kerstin und Maria. Ein goldgerahmtes Foto allerdings stach zwischen all den anderen hervor. Es zeigte unser blaues Sofa im Wohnzimmer. Ein fremder Betrachter hätte es vermutlich minutenlang angestarrt und sich gefragt, warum man ein verschlissenes Polstermöbel fotografiert, das nichtssagende Bild ausdruckt, einrahmt und sogar an die Wand nagelt? Ich werde es Ihnen erklären: Meine geschulten Augen erkennen darauf den kaum wahrnehmbaren Schatten, der sich gerade bemüht, hinter einem der bunten Kissen zu verschwinden. Er trägt die Umrisse einer weißen Maus – schemenhaft natürlich, mit winzigen Knopfaugen, spinnwebenfeinen Schnurrhaaren und runden Öhrchen. Es handelt sich um die Geistermaus Micky, die vor langer Zeit einmal meinem Onkel Philip in dessen Kindertagen gehört hatte. Die Maus kam ziemlich grausam durch Menschenhand zu Tode. Umso verwunderlicher ist es, dass sie sich als Gespenst noch immer der Spezies Mensch nähert. Möglicherweise vertraut sie nur Maria, Kerstin und mir? Schade, dass Maria auf diesem Foto nicht auch den schwarzen Schemen eines kleinen, struppigen Hundes eingefangen hat. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Der längst verstorbene Köter trägt übrigens den Namen Bazi und war einmal der treue Begleiter meiner Mutter in ihren Jugendjahren. Er teilt sich das Schicksal eines gewaltsamen Todes mit der Maus. Auch wenn er nur noch als Geistertier schwanzwedelnd durch unser Haus fegt, ist Bazi der beste und aufmerksamste Wachhund, den man sich nur wünschen kann.
Es klingelte erneut, sogar dreimal hintereinander. Ich stand auf, wischte mir die Schweißperlen von der Stirn und eilte die schmale Stiege ins Erdgeschoss hinab. Onkel Philips Häuschen verfügte über fünf Räume, von denen man vier als winzig einstufen würde. Die einzigen Zimmer, die wirklich genügend Platz boten, waren die Stube und die große Wohnküche im Erdgeschoss.
Nochmals schrillte die alte Stahlglocke in einem mehrfachen Stakkato. Der Klöppel bereitete meinem Trommelfell extremen Stress.
»Ich komm ja schon«, rief ich gehetzt, eilte durch den Flur und riss die hölzerne Haustüre auf. Im gedämpften Licht der Sonne, die ihre Strahlen mühsam durch das dauergrüne Geäst hoher Fichten und Tannen quälen musste, erblickte ich das Gesicht einer Frau mit ungepflegtem, weißem Haar.
»Lisbeth Kranz?«, fragte ich verwundert, obwohl ich die Wirtin von der Kneipe im Zwiesler Waldhaus längst erkannt hatte. Die mürrische Frau, die im Dorf keinen hohen Beliebtheitsgrad einnahm, wirkte wie immer schlampig. Ihre abgetragenen Klamotten rochen nach Schnaps und Mottenpulver. An diesem Tag mischte sich zusätzlich der Geruch von fettigem Essen in ihr Odeur. Sie trug Winter wie Sommer schwarze Herrenschuhe, die viel zu groß wirkten, obwohl Lisbeth als Witwe des Gastwirts mit Sicherheit eine Menge Geld geerbt hatte. Der Gustl Kranz war bald nach der Hochzeit an einer unheilbaren Krankheit verstorben, so erzählten es sich zumindest die Einheimischen. Dem vollschlanken Wirt waren urplötzlich die Haare ausgefallen, er hatte keinen Appetit mehr und schließlich verstarb er viel zu jung. Die Ärzte diagnostizierten damals eine Magen-Darmerkrankung, bei der etliche Geschwüre bereits den Mageninhalt in die Bauchhöhle befördert hatten. Gustl Kranz hatte keinerlei Überlebenschancen gehabt.
Meines Wissens hielt sich Lisbeths Trauer nach dem Tod ihres Gatten in Grenzen. Deswegen mochte ich die Gastronomin nicht sonderlich. Ich wollte sie allerdings auch nicht. Gott weiß, ob sie nicht still trauerte. Man konnte in Menschen bekanntlich nicht hineinblicken. Außerdem hatte sie meiner Lebensgefährtin im Januar sogar ihr klappriges Auto geliehen, um mich aufzuspüren. An jenem Tag, als ich mich auf die Suche nach dem mysteriösen Kinderheim gemacht hatte, lag mein Handy zu Hause. Ich hatte es, genau wie meine Armbanduhr, vergessen. Wenn Kerstin mir nicht zu Hilfe geeilt wäre … puh … aber das haben Sie sicher schon gelesen.
»Lisbeth?«, wiederholte ich unnötigerweise. »Ist irgendetwas passiert? Du siehst ja völlig aufgelöst aus?«
Die Wirtin mit dem erbleichten Haar, in das sich vergilbte Strähnen mogelten, nickte. Ich konnte sehen, wie sich ihre schmalen, rissigen Lippen aufeinander pressten und das letzte bisschen Rot daraus verschwinden ließen. In ihren farblosen grauen Augen erkannte ich die Wirkung der Schnäpse, die sie sich bereits gegönnt hatte.
»Kann ich reinkommen?«, fragte sie unumwunden. »Denn zwischen Tür und Angel redet es sich so schlecht.«
Bevor ich auf die Frage reagieren konnte, schnellte ihre rechte Hand nach vorn, berührte meine Schulter und schob mich rückwärts in den Flur hinein. Entschlossen schlurfte sie an mir vorbei, öffnete die Tür zu unserem Wohnzimmer und betrat es, als kenne sie Onkel Philips Häuschen ziemlich gut. Perplex folgte ich ihr. Lisbeth steuerte sofort das alte, blaue Sofa an und ließ sich mit einem geräuschvollen Stöhnen darauf nieder. Aus dem Augenwinkel erkannte ich die Geistermaus, die über die Lehne flitzte, auf den Boden sprang und unter dem abgetretenen Perserteppich verschwand. Ein kleiner, runder Hügel wanderte im roten Muster umher. Um ein Haar hätte ich aufgelacht. Die Wirtin schien das Geistertier nicht bemerkt zu haben, obwohl sie irgendetwas zutiefst beunruhigte. Das las ich in ihren eisgrauen Augen. Sie suchte meinen Blick, während ich mir einen Stuhl heranzog und mich setzte. Einige Sekunden schwiegen wir uns an, dann schüttelte Lisbeth den Kopf und jammerte:
»Ich habe geahnt, dass es irgendwann wieder passiert. Ich brauch deine Hilfe, Franz Seidelbast. Du kennst dich mit Geisterkram aus.«
Verwirrt betrachtete ich Lisbeth, deren Alter man im Dorf heftig diskutierte, wie viele andere Dinge auch. Manche schätzten sie auf über siebzig Jahre. Ihr Aussehen trug natürlich erheblich dazu bei. Aber das konnte nicht stimmen. Lisbeths Gatte hatte gerade einmal seinen fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert, als er wenig später zu Grabe getragen wurde. Er hätte niemals eine derart alte Frau geheiratet. »Ich kenne mich in erster Linie mit den Uhren aus«, antwortete ich ihr, mühsam meine Gedanken verdrängend. »Gespenster und Wesen, die nicht in unsere Vorstellung passen, bedienen sich leider des Öfteren der Macht der Zeitmesser. Als Fachmann würde ich mich trotzdem nicht bezeichnen.«
Lisbeth wischte meine Erklärung mit einer abwertenden Bewegung zur Seite. Dabei präsentierte sie mir kurz ihre fleckigen, geröteten Hände mit den abgekauten Nägeln, an denen noch Reste von dunklem Nagellack klebten. »Du und deine beiden Frauen, ihr seid aber die Einzigen im Umkreis, mit denen ich über das Problem überhaupt reden kann. Und du darfst mir glauben, Franz, das ist ein heftiges Problem.«
»Das klingt dramatisch«, antwortete ich. In mir regte sich so etwas wie Neugierde. »Ich bin ganz Ohr.«
Klack, alle Uhren im Haus verkündeten die volle Stunde. Es war drei Uhr an einem heißen Nachmittag. Alarmiert huschten Lisbeths Augen über die vielen Zifferblätter an den Wänden, als habe sie Angst, ihre Sorgen vor ihnen zu erzählen. Und wer weiß, vielleicht speicherte eine der Zeitmesser sogar das, was sie mir in diesem Augenblick offenbarte.
»Ich habe es nicht leicht im Zwiesler Waldhaus«, seufzte sie. »Die Leute zerreißen sich die Mäuler über mich, seit mein Mann gestorben ist.«
»Inwiefern?«, wollte ich wissen.
Lisbeths Augen blickten resigniert zum Fenster. Ohne mich anzusehen, sagte sie leise: »Ich bin nicht hier geboren, sondern in einem einsamen Häuschen nahe Bayerisch Eisenstein. Und dem Gustl Kranz, meinem Ehemann, haben die Dörfler nie verziehen, dass er so eine wie mich geheiratet hat. Die sind noch altmodisch. Eine Frau, die keinen Wert auf ihre Frisur oder anständige Klamotten legt, macht sie misstrauisch. Das Getratsche im Wirtshaus, wenn ich den Zechern den Rücken zudrehe, ist manchmal nicht auszuhalten. Und jetzt auch noch die seltsamen Vorgänge nahe meines Elternhauses … wenn das die Runde macht, bin ich erledigt.«
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- Artikel-Nr.: SW9783961274260458270
- Artikelnummer SW9783961274260458270
-
Autor
Eve Grass
- Verlag vss-verlag
- Seitenzahl 87
- Veröffentlichung 23.12.2024
- ISBN 9783961274260
- Verlag vss-verlag