Die Puppen der Madame Brouillard
John Amber - Schatten über New York - Band 6
Wer hat die schönste Tochter im ganzen Land? Madame Brouillard gedenkt nicht, diese Frage dem Zufall zu überlassen. Ihre Puppen sind tödlich. Als sie auch noch Kontrolle über John Amber erlangt, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.
Leise ratterte die Nähmaschine in dem kleinen Ankleidezimmer, in dem Madame Brouillard mit konzentriertem Blick Puppenkleider anfertigte. Neben ihr auf dem Tisch lag schon die fertige, erstaunlich lebensechte kleine Stofffigur. Die milchig-weiße Puppe starrte mit ihren großen, grünen Augen blicklos an die Decke des Raums. Nackt war sie und unschuldig, mit den Proportionen einer Fünfjährigen, nur grotesk verzerrt, mit weichem, fast konturlosem Stoff. Die Nähte waren so gut versteckt, dass man sie nicht sehen konnte. So wirkte es, als würde eine Miniaturausgabe eines kleinen Kindes, ohne Atem oder Herzschlag, ohne Kleidung und ohne Schutz, hilflos herumliegen.
Beinahe liebevoll schnitt die haitianische Schwarzmagierin Madame Brouillard das letzte Stück Faden von dem pinken, detailverliebten Kleidchen. Mit sorgsamen Bewegungen zog sie der Puppe das Kleidungsstück über, dann betrachtete sie das kleine Wesen einen Augenblick lang kritisch.
„Du wirst meiner Tochter zum Sieg verhelfen“, flüsterte sie dem Fluchidol zu. Dann senkte sie ihre Stimme, und gutturale, schnarrende Gurrlaute ertönten. Die Luft vibrierte von ihrem Zauber, der die kleine Puppe vollkommen einhüllte. Sie schien für einen Moment in dunklen, fast öligen Rauch eingehüllt zu sein. Dann verpuffte er, hinterließ nur den stechenden Geruch von Schwefel und metallischem Blut. Die Puppe blinzelte.
Die Schwarzmagierin lauschte. Von außerhalb ihres kleinen Nähzimmers konnte sie schon das Anschwellen der Musik hören. Es war an der Zeit.
Die Schwarzmagierin strich sich ihr buntes, mit traditionell geometrischen Mustern verziertes Gewand zurecht. Dann band sie ihr Kopftuch neu, sodass ihre schwarzen Haare komplett unter weiteren Farbtüchern verschwanden.
Sie hielt die Puppe an den dünnen, zerbrechlichen Ärmchen vor sich und wartete.
„Und nun, verehrte Juroren, die diesjährige Favoritin: Brittany Delaware!“
Die fröhlich-verspielte Kindermusik wurde wieder lauter, nachdem der Ansager seine kleine Vorstellung beendet hatte.
Madame Brouillards Gesicht verzerrte sich vor Ärger. Wie dieses unsägliche Balg jemals statt ihrer Tochter zur Titelkandidatin des Beauty Pageants hatte werden können, war ihr ein Rätsel. Bei diesen Schönheitswettbewerben nahmen nur die bestaussehenden Mädchen teil – und zu denen gehörte dieses Kind sicher nicht. Aber nun hatte die Stunde der kleinen Brittany geschlagen. Sie würde diesen Abend nicht überstehen. Und dann würde Madame Brouillards eigener Spross, Angelique, die Show gewinnen. Dann war Angelique die schönste Fünfjährige im Land.
Die finstere Magierin griff an den Kragen des Puppenkleids. Dort war ein Faden angebracht, mit dem sich der Kragen enger ziehen ließ. Madame Brouillard lauschte.
„Brittany Delaware zeigt sich heute im Püppchenkleid – diese rosafarbene, verspielte Variation des klassischen Prinzessinnenkleids besticht mit Rüschen in Türkis! Die Schleifchen an den Ärmeln sind in ihrer eleganten Hochsteckfrisur wieder aufgegriffen und verleihen dem Ensemble kindlichen Charme.“
Was für ein Dummschwätzer, dachte Madame Brouillard. Als ob der Ansager irgendeine Ahnung von wahrem Charme, von Eleganz oder Schönheit hatte.
Vor Abscheu verzogen sich ihre Mundwinkel, und ihre schwarzen Augen sprühten vor Hass. Die dicken, dunkel beschmierten Finger der Voodoo-Hexe schlossen sich um den dünnen weißen Faden.
Als sie ihn zuzog, ertönten von der Bühne her entsetzte Schreie.
*
Es war am achtundzwanzigsten Mai, genau acht Jahre nach Madame Brouillards Schreckenszauber, als die Reporterin Amy Thicket im strahlenden Sonnenschein hinter Philipsburg Manor in Sleepy Hollow ihren Bleistift zückte. Sie interviewte zwei Mädchen, Angelique und Chloe, die an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen würden.
Wenn es eine Sache gab, die die Leute liebten, dann waren es die sogenannten Beauty Pageants, Schönheitswettbewerbe, an denen auch Kinder teilnehmen können. Der Reporterin war diese Tatsache mehr als bewusst. Sie hatte schon bei unzähligen dieser Wettbewerbe Interviews geführt und Nachrichten für diverse Klatschmagazine verfasst. Sie kannte das Geschäft, das auf dem Rücken junger Mädchen ausgetragen wurde. Herausgeputzt wie kleine Püppchen, geschminkt, als wären sie bereits erwachsen, und ausstaffiert wie Models mussten die Kinder dann auch noch Fragen beantworten und ihre Talente zeigen. Nicht wenige der Teilnehmerinnen waren viel zu dünn. Viele Mütter, die ihre Töchterchen zu diesen Wettbewerben anmeldeten, wunderten sich später, warum der inzwischen erwachsene Spross nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte. Alles in allem war es ein dreckiges Geschäft. Das Problem war, dass es sich hervorragend bezahlte, weswegen ihr Chef auch darauf bestand, die Kinder, die Location und die einzelnen Schritte mit möglichst vielen Fotos, Skandalen und Nachrichtenbeiträgen noch weiter auszuschlachten.
Die Reporterin wusste auch, dass sie das Problem mit ihrem Beitrag nicht verkleinerte. Im Gegenteil. Reißerische Schlagzeilen um die diesjährige Miss Barbie, ihre Konkurrentinnen und die aufgetakelte, gackernde Elternschaft würden ihr täglich Brot bezahlen. Und in ihren Artikeln und Beiträgen für den Miss-Barbie-Wettbewerb durfte nicht ein einziges Wort der Kritik stehen. Ansonsten würde Amy Thicket nicht nur ihre Anstellung, sondern auch gleich die Wohnung verlieren.
Trotzdem kam ihr die Location für den Wettstreit mehr als geschmacklos vor. Zwar bot das Philipsburg Manor eine schöne Atmosphäre. Aber die Tatsache, dass in einem Mühlen- und Handelskomplex, der für die Sklavenhaltung berüchtigt war, Fotos von jungen Frauen in altmodischen Vintage-Dresses gemacht werden sollten…
Amy Thicket schüttelte den Kopf, konzentrierte sich wieder auf die beiden Teilnehmerinnen und setzte ihr patentiertes Lächeln auf.
„Und damit herzlich willkommen, Angelique und Chloe“, grüßte die Reporterin freundlich. Sie streckte den beiden Teenagerinnen die Hand hin. Das dunkelhäutige Mädchen erhob sich zuerst.
„Sehr erfreut“, sagte Angelique Brouillard und ergriff Amys Finger mit zartem Druck. Ihre Nägel waren perfekt manikürt, abgerundet und mit kleinen Blümchen, die sich verspielt an ihren Rändern rankten. Auch Angeliques Make-up war sehr erwachsen. Der silberne Lidschatten, die von schwarzem, fast katzenartig geschwungenem Kajalstrich ummalten Augen sowie die zart pink betonten Lippen wirkten, als wäre das Mädchen deutlich älter als ihre dreizehn Jahre.
Ihre ärgste Rivalin – Amy schauderte allein bei dem Gedanken daran, dass Dreizehnjährige Rivalinnen haben konnten – war Chloe Moore. Im Gegensatz zu Angelique, der man die haitianischen Wurzeln deutlich ansah, erkannte man bei Chloe nur noch anhand der leicht mandelförmigen Augen, dass ihre Vorfahren nicht aus Amerika stammten. Auch so war das andere Mädchen in fast allen Aspekten ein Kontrast zu Angelique: Ihr Gesicht war sehr blass geschminkt, der Lidschatten kaum golden von ihren schwarzen Augen abgehoben. Sie hatte knallig rote Lippen und trug die Haare in zwei Schlaufen – Affenschaukeln nannte man die Frisur, bei der zwei geflochtene Zöpfe seitlich am Kopf hochgesteckt wurden.
„Schön, Sie kennenzulernen“, meinte Chloe mit einem etwas aufgesetzten Lächeln.
„Ihr seid die beiden Favoritinnen des diesjährigen Miss-Barbie-Wettbewerbs“, fuhr Amy Thicket mit der Begrüßung für die Kamera fort. Sie schaute dabei nicht nur zu den beiden Mädchen, die man auf altmodische, klobige Stühle gesetzt hatte, deren Lehnen mit grünen Pflanzenkränzen geschmückt waren. Hauptsächlich ging ihr Blick in die Kamera, die ihr Kollege Keith mit professioneller Ruhe auf sie gerichtet hatte.
„Genau genommen seid ihr, genau wie die anderen Mädchen hier, speziell für die Jubiläumsausgabe dieses geschichtsträchtigen Beauty Pageants eingeladen worden. Wie fühlt man sich dabei?“
Wieder ergriff Angelique als Erste das Wort: „Wir sind natürlich sehr geehrt.“ Ihre Worte waren ruhig und bedacht. Man hörte nur an den sanft-weichen Konsonanten, dass Englisch nicht Angeliques Muttersprache war.
„Der letzte Miss-Barbie-Wettbewerb, an dem ich teilnehmen durfte, war ja schon sehr turbulent. Nach all den Jahren wieder hier zu sein, erfüllt mich mit Stolz. Und dann noch an einem so geschichtsträchtigen Ort!“
Amy hatte nicht den geringsten Zweifel, dass diese Worte in das Mädchen eingetrichtert worden waren. Kein Kind in der Klasse ihres Sohnes hätte sich so gewählt ausgedrückt. Aber von diesen kleinen Modepüppchen wurde absolute Professionalität erwartet.
„Da hat Angelique absolut recht“, stimmte Chloe ihr zu. „Immerhin wurden die Gewinnerinnen der letzten staatenübergreifenden Wettbewerbe und speziell die Teilnehmerinnen des letzten Miss-Barbie-Pageants vor acht Jahren ausgewählt.“
Staatenübergreifend – wirklich? Wer hatte Chloe diese Worte nur in den Mund gelegt? Die Reporterin wagte nicht, den Blick zu den anwesenden Müttern zu lenken, die wie übergroße Schatten hinter den Stühlen lauerten.
Samentha Brouillard, Angeliques Mutter, wirkte wie eine Matrone aus vergangenen Zeiten. Streng, mit durchdringendem Blick und scharfen Gesichtszügen, legte sie ihrer Tochter die Hand auf die Schulter.
„Unsere Engel werden ihr Bestes geben, um dem Wettbewerbsmotto „Fashion Dolls“ gerecht zu werden“, sagte die ältere Asiatin hinter Chloe, mit einem Raubtierlächeln, das Amy Thicket einen Schauder über den Rücken jagte.
„Und wie schätzt ihr eure Konkurrentinnen ein?“, fragte Amy, „irgendjemand, den wir auf jeden Fall im Auge behalten sollten?“
„Ich würde Savannah Teal als eine weitere Favoritin nennen“, sagte Chloe. Ihr Lächeln wurde noch eine Spur falscher, als sie über das Mädchen sprach. „Ihr Talent auf dem Klavier ist fast so beeindruckend wie mein eigener Überraschungsauftritt.“
Sie zwinkerte in die Kamera. Fast wie eine professionelle Schauspielerin.
„Aber was genau ich diesmal zeigen werde, will ich jetzt noch nicht verraten.“
„Savannah ist auf jeden Fall eine der Hübschesten dieses Jahr“, stimmte Angelique zu. „Außerdem denke ich, dass vielleicht noch Jade Byrne eine Chance hat.“ Auch ihr Gesichtsausdruck wirkte nicht mehr so natürlich wie gerade noch.
„Sie hatte schon in den vergangenen Jahren herausragende Outfits und konnte besonders bei Fotoshootings glänzen.“ Angelique zupfte an ihren schwarzen Cornrows-Zöpfchen.
„Ich denke aber, ihre Schwächen beim Kostümwechsel werden ihr zum Nachteil gereichen. Trotzdem wünschen wir selbstverständlich auch allen anderen Teilnehmerinnen viel Glück. Immerhin wollen wir einen fairen, freundschaftlichen Wettbewerb.“
„Dann wünschen wir den beiden Favoritinnen und auch allen anderen Teilnehmern viel Erfolg“, beendete Amy Thicket das kleine Interview. Es würde nur zu Werbezwecken ausgestrahlt werden, also musste es nicht mehr Fragen beinhalten. Sie wandte sich an die Kamera.
„Außer den beiden hübschen jungen Damen hier werden noch sechs weitere Mädchen in den nächsten vier Tagen ihr Bestes geben. Dann werden wir sehen, wer von unseren bildhübschen Teenagern es verdient, die Krone der Miss Barbie als ‚Fashion Doll‘ des Jahres tragen wird.“
Versandkostenfreie Lieferung! (eBook-Download)
Als Sofort-Download verfügbar
- Artikel-Nr.: SW9783961274369458270
- Artikelnummer SW9783961274369458270
-
Autor
John Amber
- Verlag Novo Books im vss-verlag
- Seitenzahl 102
- Veröffentlichung 29.03.2025
- ISBN 9783961274369
- Verlag Novo Books im vss-verlag