Die beiden Mütter Mammitsch
Erzählung
In Friedrich Wolfs meisterhafter Erzählung treffen wir auf Cornelia Mammitsch, eine resolute und angsteinflößende Matriarchin, die ihren Lebensabend in einem kleinen Krankenhaus an der Elbe verbringt. Ihr Leben und Sterben werden auf den Kopf gestellt, als die fröhliche und kindliche Waldheuerin Christel Mammitsch ebenfalls wegen einer Krankheit eingeliefert wird. In dieser packenden Geschichte voller schwarzem Humor, skurrilen Charakteren und tiefgründigen philosophischen Überlegungen prallen Welten aufeinander. Werden die beiden Frauen zueinander finden oder ihre Unterschiede die endgültige Trennung bedeuten? Die Erzählung ist eine faszinierende Auseinandersetzung mit Leben, Tod und den Rätseln der menschlichen Existenz.
Eines Mittags konnte die Mutter Mammitsch ihr Bett nicht mehr verlassen. Ihr Atem ging hohl, sie rang nach Luft, die Stimme versagte. Als der Arzt erschien, war der erste Anfall bereits beendet; aber die Alte blieb seither an ihr Bett gefesselt. Die Kinder und Kindeskinder kamen und legten der Oberin verdoppelte Sorge mit verdoppelten Versprechungen ans Herz. Die Speisen wurden sorgfältig ausgewählt, mit Nähressenzen versetzt; der Sauerstoffapparat blieb in ihrem Zimmer. Bei Nacht hüteten Vollwachen ihren Schlaf. So konnte der Mutter Mammitsch eigentlich nichts fehlen; und dennoch nahm sie täglich ab – lag ein dumpfer Groll, ein dumpfes Verlangen in ihren Augen. Selbst die erbaulichen Gespräche der Frau Oberin konnten ihren Unmut, ja ihre Unruhe nicht besiegen. Etwas fehlte ihr. Etwas regte sie auf, wenn sie das Lachen und die Lieder der genesenden jungen Leute aus dem Garten hörte. „Ihre Lebensgewohnheit ist unterbrochen; es fehlt ihr an gleicher Geselligkeit!“, schloss die Oberin.
War es Zufall oder war es ein Sinn, dass um diese Zeit eine alte Waldheuerin, welche ebenfalls Mammitsch hieß, wegen „schlechter Beine“ sich in das Krankenhaus aufnehmen ließ! Die alte Christel Mammitsch litt schon seit Jahren an Krampfadern; diesen Winter aber wollten sie ihre Beine nicht mehr tragen.
„Nur nicht hinlegen“, sagte sie; „denn wenn ich liege, so kann ich nicht mehr aufstehen.“
Sie bot einen zu spaßigen Anblick, wie sie mit ihrem Stock, der früher ein Regenschirm war und noch vereinzelte Felgen aufwies, über die blank geputzten Fliesen heranklapperte. Sie hatte noch, trotz ihres unbestimmbaren hohen Alters, blondes Haar, ein rosenrotes Kindergesicht mit glashellen blauen Augen, dagegen den Rücken einer Greisin, ganz verhutzelte kleine Händchen, ein Gewand, welches an Johannes den Täufer erinnerte, und einen trippelnden unsicheren Gang. „Nur nicht hinlegen“, lächelte sie mit bangen Augen die Oberin an, und alle Umstehenden lachten.
Es war gegeben: Man beschloss, die alte Christel Mammitsch zur Erheiterung und Unterhaltung der sterbenden Cornelia Mammitsch in das Extrazimmer zu legen. Es wurde also mit Erlaubnis der Frau Cornelia, welche kaum die Kraft zum Ja- oder Neinsagen zu haben schien, der gute lederne Lehnsessel für die Christel Mammitsch, die „nur nicht liegen“ wollte, hergerichtet. Dann saß auf einmal die Christel strahlend, lächelnd, mit ihren rosenroten Kinderwangen in dem schönen Gestühl und verhielt sich, wohlbelehrt und lautlos, bis ihre Partnerin gegenüber aus ihrem Mittagsschlaf erwache. Inzwischen wurde das bisher unbelegte Bett mit dem Linnen und Deckzeug der dritten Klasse versehen. An das Kopfende kam die schwarze Stange mit dem Galgen, und daran hing die schwarze Tafel mit der Signatur in weißer Kreide: C. Mammitsch. Das Schild konnte wie ein Spiegelbild des gegenüberliegenden Bettes erscheinen; denn auch an diesem hing an dem Galgen die schwarze Tafel, auf der mit weißer Kreide stand: C. Mammitsch.
Später, als die Frau Cornelia erwachte, schien auch sie über den seltsamen Gast einigermaßen erstaunt zu sein. Doch versagte sie jener ihr Zimmer nicht, sondern gewann vielmehr einiges Interesse an ihrem Spiegelbild. Sie nahm der Waldheuerin gegenüber eine belehrende Rolle ein, sprach oft vom Tode und weidete sich, wenn sie dem einfachen Weiblein von den grausen Schrecken des Jüngsten Gerichtes mit beißender Stimme reden konnte. Oft musste die Christel bis spät in die Nacht hinein mit kalten und heißen Schauern und klappernden Zähnen diesen gespenstischen Fantasien von Hölle und Fegefeuer lauschen, während die schon sterbende Cornelia sich an dem schmerzhaften Entsetzen ihrer Vetterin zu verjüngen schien.
Friedrich Wolf
Friedrich Wolf (* 23. Dezember 1888 in Neuwied; † 5. Oktober 1953 in Lehnitz) war ein deutscher Arzt, Schriftsteller und Dramatiker, der sich besonders durch seine politische und literarische Arbeit einen Namen machte.
Friedrich Wolf wurde als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. Er studierte von 1907 bis 1912 Medizin, Philosophie und Kunstgeschichte in verschiedenen deutschen Städten und promovierte 1913 in Medizin. Während des Ersten Weltkriegs diente er als Truppenarzt und entwickelte sich zum entschiedenen Kriegsgegner. Nach dem Krieg engagierte er sich politisch und wurde Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats in Dresden.
Wolf war ab 1928 Mitglied der KPD und verfasste zahlreiche politisch engagierte Werke. Sein bekanntestes Drama, "Cyankali" (1929), prangerte das Abtreibungsverbot des § 218 an und löste eine breite gesellschaftliche Debatte aus. Neben seiner literarischen Tätigkeit arbeitete er als Arzt und engagierte sich für die Rechte der Arbeiterklasse.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte Wolf 1933 in die Sowjetunion, wo er weiterhin literarisch aktiv war und für Radio Moskau arbeitete. Während des Spanischen Bürgerkriegs versuchte er, als Arzt an den Internationalen Brigaden teilzunehmen, blieb aber in Frankreich. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er in Frankreich interniert, konnte jedoch 1941 mit sowjetischer Hilfe nach Moskau zurückkehren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Wolf nach Deutschland zurück und engagierte sich in der DDR kulturpolitisch. Er war Mitbegründer der DEFA und der Deutschen Akademie der Künste. Zudem diente er von 1949 bis 1951 als erster Botschafter der DDR in Polen. Friedrich Wolf starb 1953 an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin beigesetzt.
Wolf hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk, das durch seinen politischen und sozialen Einsatz geprägt ist. Seine Söhne Markus und Konrad Wolf setzten sein Erbe als bedeutende Persönlichkeiten der DDR fort.
Staatliche Auszeichnungen
1943: Orden Roter Stern
1949: Nationalpreis der DDR II. Klasse für das Theaterstück Professor Mamlock
1950: Nationalpreis der DDR I. Klasse für den Film Rat der Götter.
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- Artikel-Nr.: SW9783689120443458270
- Artikelnummer SW9783689120443458270
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Autor
Friedrich Wolf
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 16
- Veröffentlichung 01.08.2024
- ISBN 9783689120443
- Wasserzeichen ja