Vom Himmel hoch
Utopische Lügengeschichten
Vier Weltraumveteranen vom Schlage Münchhausens erzählen utopische Lügengeschichten. Ihrer Erinnerungen überdrüssig, entdecken sie Wert und Vergnügen des Lügens. Das macht ihnen den Aufenthalt in einer ausgedienten Orbitalstation zur wirklichen Freude und ergibt an drei langen Abenden im Wirtshaus „Zum Müden Gaul“ zwölf Geschichten. Wirsing, Stroganoff, Fontanelli und Kraftschyk - so heißen die vier - erfinden Geschichten, die nicht stimmen, jeder, wie es Kopf, Erfahrung und Fantasie - die vor allem - ermöglichen. Das Lügnerische meint hier nicht die Verdrehung des Wirklichen, sondern Erprobung des Möglichen, und möglich scheint ihnen vieles.
Zum Beispiel künstliche Zweitmenschen, die Unannehmlichkeiten des Alltags abfangen und Ruhe vor jedem Übel gönnen.
Denn besagter Nothelfer geht dazwischen, wenn etwa eine Karambolage im Straßenverkehr nicht zu verhindern war, wenn es folgerichtig Protokollarisches zu verrichten gibt.
Der Roboter, nach wie vor das beliebteste Requisit in der utopischen Literatur, hat es auch in manch anderer Geschichte zu fleißiger und nicht immer leicht durchschaubarer Mithilfe gebracht. Verliebt gar - und das sowohl auf dem Mond als auch auf der Erde - vermag er sich zu stellen, nein: zu verstellen. Weil Verstellung, im Lügen fantasievoll probiert und anmaßlich gegen Selbstverständliches gesetzt, das Thema dieses Buches ist. Eine Verstellung freilich, die nicht in betrügerischer Absicht, sondern im bewussten Abwägen menschlicher Möglichkeiten, wünschenswerter wie auch verlachenswerter, ihren Anlass sieht.
Der erste Abend
Die haarsträubende Rettung aus tödlicher Gefahr
Die Sonne im Schlepptau
Der Narr im Waisenhaus
Die Begegnung mit dem wahren Irrtum
Der zweite Abend
Der eiserne Schildknappe
Kumpelfings im Weltenraum
Die Kometenpost
Der durchgebrannte Nothelfer
Der dritte Abend
Der verliebte Roboter
Das entlaufene Perpetuum mobile
Das Königsspiel
Vom Himmel hoch
Die Geschichte ging vor sich, als sich auf unserer alten Dame, der guten Mutter Erde, noch einige fragwürdige Existenzen herumtrieben, weshalb es auch noch so etwas wie Polizei gab. Bei dieser nun erschien an einem frühen Vormittag ein ungeheuer aufgeregter Mann und erklärte, eine äußerst eilige Suchanzeige aufgeben zu müssen.
‚Ihnen ist demnach etwas abhandengekommen‘, sagte der zuständige Beamte. ,Handelt es sich um einen Menschen, ein Tier oder einen Gegenstand?‘
,Um einen Menschen‘, sagte der Mann, ‚gewissermaßen.‘
,Aha‘, sagte der Beamte. ‚Geschlecht?‘ ‚Männlich, sagte der Mann, ‚gewissermaßen.‘ Der Beamte rieb sich die Nase und beäugte den Mann.
‚Es ist eilig', sagte der Mann, ‚es geht um Leben und Tod.‘
,Alter?', fragte der Beamte.
‚Sechsundvierzig‘, sagte der Mann.
,Größe, Haarfarbe, Kleidung?', fragte der Beamte.
,Mittelgroß, blond, grauer Anzug.'
‚Besondere Kennzeichen?', fragte der Beamte. Der Mann dachte nach.
‚Vielleicht ein erbsengroßer Leberfleck auf der Nase?', fragte der Beamte.
,Natürlich?‘, rief der Mann. ‚Aber woher wissen Sie das?'
Der Beamte erhob sich auffallend langsam, und die übrigen im Zimmer befindlichen Polizisten stellten sich hinter den Mann.
,Das ist unerhört', rief der Beamte, ,da kommt einer am frühen Morgen daher und gibt eine Suchanzeige auf sich selber auf. Oder wollen Sie leugnen, dass die von Ihnen gegebene Beschreibung haargenau auf Sie zutrifft?'
‚Keineswegs', sagte der Mann.
‚Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten‘, erklärte der Beamte. ‚Entweder haben Sie eine Irreführung der Polizei vor. In dem Falle sind Sie hier richtig. Oder Sie sind geisteskrank. In dem Falle haben Sie sich in der Tür geirrt. Wofür entscheiden Sie sich?'
,Es ist zum Verrücktwerden', sagte der Mann, .aber ich bin ganz normal.'
,Das kennen wir', sagte der Beamte. ‚Also der zweite Fall, schafft ihn zum Arzt.'
Die Polizisten packten den Mann an den Handgelenken.
Der Mann überlegte kurz, dann sagte er: ,Der Arzt wird Sie schön auslachen. Ich war nämlich schon bei ihm. Sie können ja anrufen.‘
,Können wir‘, sagte der Beamte.
Er ließ sich die Telefonnummer geben, rief den Arzt an und gab die Beschreibung des Mannes durch. Der Arzt bestätigte, dass dieser Mann gestern bei ihm gewesen sei. Er habe einen abnorm heruntergekommenen Eindruck gemacht, von Geistesgestörtheit könne jedoch keine Rede sein.
Der Beamte bedankte sich und legte den Hörer auf.
,Also der erste Fall‘, sagte er, ‚Irreführung der Polizei.‘
,Aber nein‘, rief der Mann, ,ich war doch gar nicht beim Arzt!‘
Der Beamte griff sich an den Kopf. ,Aber Sie haben doch eben noch behauptet ...‘
‚Ich wollte doch nur‘, unterbrach der Mann den Beamten, ,dass Sie mich nicht für verrückt halten.‘
,Und was zum Teufel‘, rief der Beamte, ,sind Sie wirklich?‘
‚Völlig normal‘, sagte der Mann, ,das hat Ihnen der Arzt doch bestätigt.‘
‚Aber Sie behaupteten doch eben noch‘, sagte der jetzt um seinen eigenen Verstand besorgte Beamte, ,dass Sie gar nicht beim Arzt waren.‘
,Ich nicht‘, sagte der Mann.
Der Beamte begriff, dass er das nicht mehr lange durchstehen würde. Um nicht irre zu werden, musste er ganz schnell etwas ganz Normales tun. Er nahm das Federmesser und putzte sich die Fingernägel. Er tat es ungeheuer gewissenhaft. Das war seine Rettung. ,Die Suchanzeige‘, sagte er, als er seiner wieder sicher war, ‚was bezwecken Sie damit?‘
,Ich will Ihnen die Wahrheit sagen‘, antwortete der Mann.
,Das ist immer das beste‘, sagte der Beamte, ,Das Problem ist nur‘, erklärte der Mann, ,dass ich nicht weiß, ob ich es schaffe. Es ist nämlich eine unangenehme Geschichte, und auf unangenehme Geschichten verstehe ich mich nicht mehr, die hat immer der andere für mich erledigt. Dafür hatte ich ihn ja gekauft.‘
,Aha‘, sagte der Beamte. Vorsichtshalber sagte er aber nichts weiter.
,Sogar ganz billig‘, fuhr der Manu fort. ,Mein Schwager hat ihn mir besorgt. Die Firma Bruther & Bruther hatte damals einige künstliche Zweitmenschen hergestellt. Sie wurden Nothelfer genannt, da ihre Aufgabe darin bestand, demjenigen, der sich solch einen Nothelfer angeschafft hatte, alle unangenehmen Dinge abzunehmen. Wenn ihm ein Ärger in der Arbeit bevorstand, beispielsweise eine Auseinandersetzung mit dem Chef, oder wenn er im privaten Leben eine dumme Geschichte zu erledigen hatte, die Verabschiedung einer lästig gewordenen Geliebten oder einen Streit mit der eigenen Frau, dann trat der Nothelfer an seine Stelle und nahm den Ärger auf sich. Als mir mein Schwager vor etwa zwei Jahren das Angebot machte, mir solch einen Nothelfer zu verschaffen, war ich sofort einverstanden, da ich damals allerhand Schwierigkeiten um die Ohren hatte. Ich wurde zu einer bestimmten Stunde in das Herstellerwerk bestellt, wo einer der Nothelfer, die noch als sogenannte Rohlinge herumstanden, auf mein äußeres und inneres Wesen gebracht wurde. Das dauerte nicht lange, und bald stand mir mein genaues Ebenbild gegenüber. Da die Produktion der Nothelfer noch in den Anfängen steckte, erhielt ich ihn, wie schon gesagt, ziemlich billig, sozusagen zum Probierpreis, und zog guter Dinge mit ihm davon. Und ich konnte mich sehr schnell davon überzeugen, dass der Bursche gut zu gebrauchen war. Wir waren nämlich kaum in mein Auto gestiegen, um zu einem in der Nähe meiner Wohnung gelegenen Appartement zu fahren, wo mein Nothelfer wohnen sollte, als es fürchterlich krachte. Der Besitzer des anderen Autos sprang wütend aus dem, was übrig geblieben war, heraus und schlug einen ungeheuren Lärm. Der daraus entstandene Menschenauflauf gab mir Gelegenheit, mich zu verdrücken und alles übrige meinem Nothelfer zu überlassen. Der erledigte die unangenehme Geschichte denn auch zu meiner vollen Zufriedenheit. Er ging sogar, als ich vorgeladen wurde, statt meiner zur Polizei, machte dort meine Aussage, unterschrieb das Protokoll und bezahlte die Strafe.'
‚Aber ja‘, rief einer der Polizisten, ,das Protokoll habe ich aufgenommen. Sie kamen mir gleich so bekannt vor.‘
,Sehen Sie‘, sagte der Mann zu dem Beamten, ,jetzt erhält alles seine Richtigkeit. Und wenn ich das, was weiterhin geschah, in allen Einzelheiten berichten würde, hätten Sie sich den Anruf bei meinem Arzt ersparen können.‘
‚Sie meinen‘, sagte der Beamte, ‚wenn Sie es vorher berichtet hätten.‘
‚Sie vergessen die Dringlichkeit‘, sagte der Mann. ,Es geht, wie ich schon sagte, um Leben und Tod. Deshalb muss ich mich kurz fassen, auch wenn es für Sie gewiss nicht ohne Interesse wäre zu erfahren, wie es einem Menschen ergeht, der ein Leben ohne allen Ärger lebt. Sobald ich mich an die etwas ungewöhnliche Rollenaufteilung gewöhnt hatte, wonach mein Nothelfer sich mit den Schwierigkeiten meines Daseins herumzuschlagen hatte, während ich ausschließlich dessen angenehme Seiten genoss, fühlte ich mich ungemein wohl und glaubte im Paradies zu leben. Allmählich ging in mir jedoch eine seltsame Veränderung vor sich. Ich begann mich zu langweilen, wurde meiner selbst überdrüssig und kam mit niemanden mehr zurecht. Und da auch meine Spannkraft merklich nachließ, wurde mein Chef mit meiner Arbeit immer unzufriedener und drohte mir Maßnahmen an. Zwar nahm mein Nothelfer allen Ärger auf sich, aber das konnte mir auch nicht helfen, im Gegenteil: Je häufiger er an meine Stelle treten musste, desto merklicher ließ meine Spannkraft nach, was wiederum zur Folge hatte, dass mein Nothelfer noch häufiger an meine Stelle treten musste. Mir wurde jetzt klar, wohin das endlich führen würde, doch ich hatte die Kraft verloren, mich dagegen zu wehren. Schwierigkeiten zu meistern, war ich ja gänzlich entwöhnt. Da kam mir ein Zufall zu Hilfe. Da ich mich schon lange nicht mehr ausstehen konnte, hatte ich auch seit Langem nicht mehr in den Spiegel geblickt. Als ich nun gestern früh das Gebäude betrat, in dem ich arbeite, war im Treppenhaus statt des seit Jahren dort hängenden Gemäldes ein Spiegel angebracht, in den ich unversehens hineinblickte und aus dem mir ein ungeheuer kindisch gewordenes Gesicht entgegensah. Ich erschrak über diese Veränderung meines Aussehens so sehr, dass ich sogleich beschloss, den Arzt aufzusuchen. Da das jedoch zu den unangenehmen Dingen gehört, fand ich schließlich doch nicht die Kraft dazu und schickte meinen Nothelfer. Nur ist er, nachdem er seinen Auftrag erfüllt hatte, nicht zurückgekehrt. Das aber hat er noch nie getan, und ich fürchte, dass er, wenn Sie ihn nicht bald einfangen, Dinge tut, die nicht wiedergutzumachen sind.‘
,Haben Sie einen Grund zu dieser Annahme?‘, fragte der Beamte.
,Heute Morgen‘, erklärte der Mann, ,kam mein Chef ganz aufgeregt ins Büro und behauptete, gestern Abend habe ihm jemand die Fensterscheiben eingeschmissen. Mir kam sofort der Gedanke, dass mein Nothelfer das getan haben könnte.‘
‚Und wie kamen Sie auf den Gedanken?‘, fragte der Beamte.
‚Weil ich das schon immer tun wollte‘, sagte der Mann. ‚Jedenfalls habe ich meinem Nothelfer gegenüber gesagt, dass ich meinem Chef ganz gern mal die Scheiben einschmeißen möchte. Selbstverständlich war das nicht ernst gemeint, und ich habe den Nothelfer auch niemals dergleichen aufgetragen.‘
„Jeden Tag werden irgendwo Scheiben eingeschmissen‘, sagte der Beamte, ,da braucht es keinen Nothelfer. Ich sehe da nichts als ein zufälliges Zusammentreffen.‘
,Das dachte ich erst auch‘, sagte der Mann. ,Als aber gleich darauf mein Schwager anrief und davon berichtete, dass ihm, als er gestern Abend nach Hause ging, jemand aufgelauert und ihn fürchterlich verdroschen habe, konnte ich nicht mehr an einen Zufall glauben.‘
,Wollen Sie damit sagen‘, fragte der Beamte sichtlich erheitert, ,dass Sie Ihren Schwager auch schon immer mal verdreschen wollten?‘
,Schon immer nicht‘, sagte der Mann, ‚erst als mir klar wurde, was er mir mit dem Nothelfer angetan hatte.‘
,Das ist verständlich‘, sagte der Beamte, ,und welchen Ihrer geheimen Wünsche, glauben Sie, wird Ihr Nothelfer als nächstes erfüllen?'
,Meiner Frau den Hals umdrehen', sagte der Mann.
Geboren am 25.Mai 1927 in Blankenhain/Thüringen, Volksschule, drei Jahre Verwaltungslehre.
1945 Soldat im 2. Weltkrieg, bis 1947 in amerikanischer, französischer und belgischer Kriegsgefangenschaft.
1949 – 1951 Abitur an der ABF Jena, 1951 bis 1956 Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin, 1963 Promotion (Dr. Phil.).
1956 - 1962 Dozent an der Humboldt-Universität, 1962 – 1964 Lektor, 1966 - 1968 Cheflektor Eulenspiegelverlag/ Das Neue Berlin.
Ab 1968 freiberuflicher Schriftsteller.
2008 in Berlin verstorben.
Bibliografie
IST DER APHORISMUS EIN VERLORENES KIND? Literarische Miniaturen, Aufbau-Verlag Berlin 1959.
ZU BESUCH AUF DER ERDE. Unwahre Begebenheiten, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale) 1961.
NEULICHKEITEN. Geschichten mit und ohne Spaß, Eulenspiegel Verlag Berlin 1964.
DER VERHÄNGNISVOLLE BESUCH. Kriminalroman, Verlag Das Neue Berlin 1967.
DIE REISE ZUM STERN DER BESCHWINGTEN. Utopischer Roman, Hinstorff Verlag Rostock 1968.
DIE WEISHEIT DES HUMORS. Sprüche und Aphorismen zur Lebenskunst, Hinstorff Verlag Rostock 1968.
NEPOMUKS PHILOSPHISCHE KURZANEKDOTEN, Hinstorff Verlag Rostock 1969.
DER FALSCHE MANN IM MOND. Utopischer Roman, Hinstorff Verlag Rostock 1970.
DER NARRENSPIEGEL, Hinstorff Rostock 1971.
DER ASTRONOMISCHE DIEB. Utopische Anekdoten, Verlag Das Neue Berlin 1973.
VOM HIMMEL HOCH oder Kosmisches Allzukosmisches, Verlag Das Neue Berlin 1974.
DER STERNENKAVALIER. Eine Utopie, Verlag Das Neue Berlin 1976.
DER ESEL ALS AMTMANN oder Das Tier ist auch nur ein Mensch, Buchverlag Der Morgen Berlin 1977.
DER HIMMEL FÄLLT AUS DEN WOLKEN. Heitere Spiele, Buchverlag Der Morgen Berlin 1977.
KANTINE. Eine Disputation in fünf Paradoxa, Hinstorff Verlag Rostock 1977 (2., die Bühnenfassung berücksichtigende Auflage: 1981).
PLEBEJADE oder Die wundersamen Verrichtungen eines Riesen, Buchverlag Der Morgen Berlin 1978.
HANDBUCH DER HEITERKEIT, Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig 1979.
DER INDISKRETE ROBOTER. Utopische Erzählungen, Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig 1980.
DIE OCHSENWETTE. Anekdoten nach dem Orientalischen geschrieben, Hinstorff Verlag Rostock 1980
KUNST DES HUMORS - HUMOR DER KUNST. Beitrag zu einer fröhlichen Wissenschaft, Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig 1980.
GERHARD BRANSTNERS SPRUCHSÄCKEL, Buchverlag Der Morgen Berlin 1982.
DIE UNMORALISCHE TUGEND Nepomuks, Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig 1982.
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- Artikelnummer SW9783956557316.1
-
Autor
Gerhard Branstner
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 120
- Veröffentlichung 13.09.2016
- ISBN 9783956557316
- Wasserzeichen ja