Frisör Kleinekorte seift wieder ein
„Nehmse Platz, Herr Jeheimrat! Was gibsn Neues aufm Bau? Wieder Nachtschicht gehabt?“
Mit diesen Worten begrüßt ein bekannter Berliner Frisör gewöhnlich fast jeden seiner Stammkunden.
Nachdem mir Kleinekortes Vorbild, Meister Kowalczik, seinerzeit einen fast druckreifen ersten Monolog geliefert hatte, versuchte ich, ihn über ein vorgegebenes Thema schwadronieren zu lassen. Das ging gründlich schief.
Mitte April 1961 redete ganz Berlin über Juri Gagarin und seine spektakuläre Erdumrundung Ich steuerte den Frisörsalon an und wollte gerne den Meister zu einem witzigen Kommentar provozieren. Der Alte aber stand vor seiner Ladentür und schimpfte wie ein Rohrspatz, dass es die ganze Straße hören konnte. „Hamse schon jehört, wat die sich da ohm wieder ausjedacht ham? Nu wollnse die kleinen Tauben allesamt verjiften, und dis, wo doch durch den Kriech so ville von die heimatlos jeworden sind. Is dis nich ’n Stück ausm Dollhaus? Da steckt bestimmt wieder die verdammte Partei dahinter. Da sollnse doch lieber ihre Parteijenossen verjiften, findense nich ooch?“
Da ich schon damals nicht das Zeug zum Widerstandskämpfer hatte, machte ich wortlos auf der Stelle kehrt und verschob den nächsten Haarschnitt um mindestens eine Woche.
Da der Alte partout nicht domestizierbar war, erfand ich von nun an Kleinekortes Monologe höchstselber, natürlich mit Kowalcziks Eingangsformel.
In den siebziger Jahren lief im DDR-Fernsehen immer sonnabends eine Magazinsendung, die der Eulenspiegel mitgestaltete. Einmal sollte ich darin einen Kleinekorte-Monolog sprechen. Ich schlug vor, den Beitrag im Salon des alten Meisters Kowalczik zu drehen. Viele Jahre hatte ich den Laden nicht mehr. betreten. Die Jalousien waren heruntergelassen. Also ging ich über den Hof und klingelte an der Wohnungstür. Ein verhutzeltes Mütterchen, in dem ich mit Mühe die alte Frau Kowalczik erkannte, öffnete mir.
Nachdem ich mein Anliegen vorgetragen hatte. brachte sie schluchzend hervor: „Da kommse zu spät. Vorigte Woche ham wir unsen Vadder mussten bejraben. Vorher hamse ihm noch mitm Schlachanfall int Krankenhaus jesteckt. Und da hab ick ihm beinah jeden Tach durften besuchen. Wie ick dis letzte Mal bei ihm war, hat er jesagt: Muttern, et jeht aufwärts. Kick mal, ick kann die Hand schon wieder bewegen. Morgen bringste mir kein Pudding, aber dafür ne Schere mit, damit ick schon ’n bissken üben kann. - Aber nächsten Tach war er schon einjeschlafen.“
Frisör Kleinekorte ist unentbehrlich
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Frisör Kleinekorte und der letzte Glockenschlag
Frisör Kleinekorte bleibt eisern
Nehmse Platz, Herr Jeheimrat! Was gibsn Neues aufm Bau? Wieder Nachtschicht gehabt? Nee, nee, dis soll keine Anspielung auf Ihre Intimatmosphäre sein. Diese Redensart bedien ick mir nur, damit ick meine Kunden leichter ins Gespräch ziehe. Ick hab jehört, Sie waren ne Weile ins Ausland? Jott, denn wissense ja dis Neueste noch jar nicht. Hamse sich denn nicht jewundert über den kleinen schmucken Trabanten da draußen? Dis is nämich meiner. Anjemeldet hab ick mir seinerzeit bloß aus Jux und Dollerei, konnt ja nicht wissen, deß ick plötzlich inne Bärenlotterie ... nee, wo denkense hin! Kein Hauptgewinn, aber ’n paar saftige Dausender. Wie ick so schnell an den Wagen rankam? Tschuldigense, aber dis werd ich ja nicht jeden auf der Nase binden. Und nu hörnse sich doch mal endlich meine Leidensgeschichte an, Sie, da is die Mathiaspassion gar nischt gejen!
Muttern schlug die Hände übern Kopp zusammen, wie Fleischer Meuseln mit meine frisch erworbene Asphaltbeule auf Räder vor meine Ladentür vorjefahren is. Jott, gejen seine Leberwurscht kann man sagen, was man will, aber er selber is ne Seele von Mensch, und wie hätt ick denn sonst dis Fahrzeug vons Autohaus herkriegen sollen? Muttern fragte ziemlich boshaft, ob ick nu Herrn Kafforke, meinen Jehülfen, als Schofför mit Livree ausbilden lassen will. Quatsch, sag ick, jetz studier ick eigenhändig Fahrmazie, und denn lenk ick meine Jeschicke selber.
Ick also hin zur Fahrschule inne Milastraße. Erst wolltense mir ’n halbes Jahr schmoren lassen, aber denn sagtense sich wohl, wir nehmen ihm gleich ran, damit der Olle überhaupt noch was von sein Auto hat. Nur verlangtense ne Extrauntersuchung von son Autodoktor, wegen mein fortgeschrittenen Lebensabend und mein Reagenzvermögen. Nu fing der gleich mit sein autogenes Training bei mir an: Blutdruck, Schwerhörigkeit und mitn Jummihammer auf mein Rheumaknie jedroschen. Alles pikobello, sagte er, und ick kann noch hundert Jahre alt werden. Und Rot und Grün konnte ick auch aus dem Effeff unterscheiden, hab gleich wie’n Fachmann jeantwortet: Backbord und Steuerbord - is wichtig, falls Se mal ein Amphytrionfahrzeug durchs Wasser steuern.
Denn jing es inne Milastraße los. Dis olle rote Backsteinjebäude erinnerte mir mächtig an meine Schulzeit. Da roch es jenauso. Zu meinen Klassenlehrer hattense einen Herrn Erben bestimmt, son jroßer Dicker. Der hatte außer meine Wenigkeit noch Stücker zwanzig Figuren zu unterrichten, alles junge Spunde so bis Mitte vierzig, und dis nannte sich Theorie und wurde von Herrn Erben meistenteils anne Tafel jemalen. Die Pauker da ham alle ihre Spezialgebiete. Der eine lernt es die Ausländer, der andere die katholischen Nonnen, der nächste die, wo schon ne Fahrerlaubnis haben und sich noch nicht trauen. Herr Erben hatte mehr so Ungarn und die Heinis vonne Presse und mir. Inne Theorie lernt man Kühlerdruck schmieren, Reifen entlüften und die Vorfahrt beachten.
Vorfahrt is dis einfachste. Die hat nämlich immer, wer von rechts auf der Hauptstraße raufkommt und hat rechts keinen von rechts als Linksabbieger. Müssense sich mal von oben jesehn vorstellen: Die Bürschte will jetz hier rum, aber der Kamm hat Vorfahrt, weil er den Pinsel von rechts hat und weil dis Haarwasser ein Stoppschild is. Stoppschilder und Pullezisten dürfense nicht überfahren. Wenn Ihnen der Pullezist winkt oder antrillert, müssense anne Kreuzung links vorbei oder anhalten und ’n Daler bezahlen. Der Herr Erben weiß natürlich alles ville besser. Darum is er sojar Oberfahrlehrer und macht dis schon seit elf Jahren. Indem er noch nicht einen Stempel in seine Fahrerlaubnis hat, könnse mal sehn, wie jut seine Schüler sind! Ich hab ihm jesagt, er soll mir von dis Fach Theorie dispensionieren, weil ick mehr son oller Praktikant bin. Aber der Mann war so stur und sagte, alle Schüler müssen gründlich lernen, wie man sich im Straßenverkehr bewegt, von wegen die Sicherheit. Und dis einem langjährigen Fußgänger wie mir, wo schon mehr Kilometer unter die Sohlen hat wie die janze Milastraße unter die Reifen. Apropoß - werd ick man Ihren Fassongschnitt am besten runderneuern. Wer hat Ihnen denn bloß so verschnippelt? Sie waren doch nich etwa in die PeJeHa Wellenreiter? Also, wie ich die theoretische Prüfung bestanden habe, hat Herrn Erben beinah noch mehr jewundert als wie mir, aber nu kam der joldene Baum der Praxis.
Sindse schon mal Auto jefahren? Nee? Im Jrunde jenommen is es so ähnlich wie Haarschneiden. Ich will mal sagen, der Stecker hier is die Zündung, nu hau ick den ersten Jang rein, und schon läuftse. Aber nu hat ja ne Haarschneidemaschine keine Fußpendale. Also tret ick dazu auf die Kupplung von den Rasierstuhl, und Sie jehn langsam hoch, jenauso wie Herr Erben, wenn er mir schulen musste. Nu kann ick leider den Stuhl nicht auf die Straße rausfahren, sonst würd ick Ihnen mal zeigen, wie schwierig dis inne Praxis mit die Vorfahrt is. Mal anjenommen, Herr Kafforke isn Lastauto, und ich will ihm überholen. Bleibense doch mal stehn, Herr Kafforke, Sie sehn doch, deß ich blinke! So, nu Jas und vorbei! Komisch, hier in meinen Salong wirkt dis alles so einfach, und draußen auf Straße ... Sie müssen ebent zu ville Dinge auf einmal beachten. Autofahren dis is etwa so, als ob ick Ihnen rasiere, im Spiegel Herrn Kafforke beobachte und gleichzeitig Klavier spiele, trotzdem ick keine Noten kann. Und denn quasselt Ihnen der Fahrlehrer immer noch mang zwischen und blökt Ihnen an wie mein Unteroffizier im ersten Weltkriech.
Nu hatt ick außer meine achtzehn Pflichtstunden schon Stücker zwanzig Kürstunden aus die Ladenkasse bezahlt, und Muttern nahm mir als Mann schon jar nicht mehr für voll. Da sagte ick zu Herrn Erben: Jetzt oder nie! Jut, sagte er, in letzter Zeit hats ja jegangen. Auf Ihre Verantwortung werd ich Ihnen zur Prüfung zulassen. Den Rest könnse sich denken. Jut, mir sind ’n paar kleine Schwupper passiert: bei Rot jradeaus über die Kreuzung, bloß weil ick zügig fahren wollte und zufällig kein Gejenüberverkehr war; Ecke Frankfurter ’n Bordstein überrollt, aber der is heil jeblieben. Und wenn ick von die olle Frau mits Fahrrad absehe, wo Herr Erben noch rechtzeitig auf seine eigene Bremse jetrampelt hat, bin ick für meine Bejriffe jefahren wie’n Fürst. Aber was wollnse machen? Der Prüfpullezist durfte mir villeicht jar nicht bestehn lassen, weil ick die nicht pullitisch jenug und immer noch selbstständig bin. Komisch, seit ick da durchjerasselt bin, sind mir alle Autofahrer richtigjehend unsümpathisch. Aber einen Vorteil hat die Chose: Ick kann wenigstens saufen, wann und wo es mir passt. Wollnse nicht meinen Trabant kaufen? Ick bin so sauer auf dis Viehekel, deß ick ihm sojar zum Taxipreis abjebe.
C. U. Wiesner
Geboren im letzten Monat der Weimarer Republik, am Neujahrstag 1933, in der einstigen märkischen Hauptstadt Brandenburg, entwich nach dem Abitur den heimatlichen Stadtmauerzwängen, gelangte in eine etwas größere Hauptstadt, ohne zu ahnen, dass man dort schon zehn Jahre später aus väterlicher Sorge bemüht sein würde, ihm den Horizont mit erheblicherem Bauaufwand zu verstellen.
Eines Tages mochte er fürder nicht mehr in der eingefriedeten Hauptstadt leben und zog es vor, in die vertrauten märkischen Wälder zurückzukehren.
Dank prophetischer Gaben bestellte er den Möbelwagen von Berlin-Pankow nach Klosterfelde für den 9. November 1989.
Während des achtunddreißigjährigen Berlin-Aufenthalts:
Studien als Dolmetscher für Englisch; Germanistik und Filmszenaristik (diese im Gegensatz zu jenen hin und wieder angewandt).
Tätig als Lektor, Redakteur, Reporter, Theaterkritiker, Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift Eulenspiegel, Entertainer in eigener Sache, Schauspieler (leider zu selten) und (vorwiegend) Schriftsteller.
Sein bekanntestes Geschöpf ist der Frisör Kleinekorte, den das Berlin-Brandenburgische Wörterbuch zu Recht an die Seite der Volksfiguren von Glaßbrenner und Tucholsky stellt.
C.U.W. schrieb u. a. Hörspiele, Kabarett-Texte, Fernsehfilme und Fernsehserien (u. a. Gespenstergeschichten wie Spuk unterm Riesenrad, Spuk im Hochhaus, Spuk aus der Gruft für Kinder von 8 bis 88 Jahren) sowie dreizehn Bücher, vom Kinderbuch über den Kriminalroman, die satirische Darstellung eigener Umwelt im weitesten Sinne bis zum bitteren erst um die Jahreswende 1989/90 nach einiger Verzögerung erschienenen Märchenroman für Erwachsene Die Geister von Thorland, Machs gut, Schneewittchen! und Lebwohl, Rapunzel! erzählen von den Kinder- und Jugendjahren in der Havelstadt Brandenburg.
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