Frisör Kleinekorte in Venedig und anderswo
„Nehmse Platz, Herr Jeheimrat! Was gibsn Neues aufm Bau? Wieder Nachtschicht gehabt?“
Mit diesen Worten begrüßt ein bekannter Berliner Frisör gewöhnlich fast jeden seiner Stammkunden.
Die Stammautoren und Stammzeichner aber veröffentlichten ihre Arbeiten auch weiterhin in der Zeitschrift und im Buchverlag. Zwischen den Leitungen der beiden Unternehmen herrschte zeitweise eine leichte, wenn auch nie offen ausgesprochene Animosität.
Ernst Röhl, Wirtschaftsredakteur der Zeitschrift, hatte ein ausgemachtes Faible für heiße Eisen, aber die mussten möglichst raffiniert verpackt werden, damit sich bestenfalls die Zielfiguren die Finger daran verbrannten, nicht aber Redakteur und Autor. Da war für uns Eiertänzer schon Turnierformat vonnöten. Konnte man einen Missstand nicht frontal angehen, so war die bessere Möglichkeit, den Frisör Kleinekorte über das Thema paraphrasieren zu lassen. Das klappte fast immer, was vielleicht auch daran lag, dass die eingewanderten Genossen der ZK–Abteilung Agitation und Propaganda des Berlinischen nicht mächtig waren.
Zweimal aber blieben Kleinekortes Monologe schon beim Chefredakteur Gerd Nagel hängen. Beiträge, die im Heft erscheinen sollten, wurden mit einem sogenannten Laufzettel versehen und bei allen Redakteuren herumgeschickt, auf dass jeder kurz seine Meinung dazu mitteilte. Das letzte Wort hatte jedoch der Chef. Bei meinem Text Frisör Kleinekorte – ein Rufer in der Wüste notierte er: „Das ist eine Bankrotterklärung für unsere sozialistische Volkswirtschaft. Nein und nochmals nein!“
1980 fragte mich Ernst Röhl: „C.U., hast du nicht ne Idee für unser Silvesterheft?“
Ich schlug vor, das Heft so zu gestalten, als wäre es genau 200 Jahre zuvor erschienen. Es wurde tatsächlich eine recht lustige und auch ein bisschen freche Nummer. Nur dass mein Beitrag im Heft nicht mehr auffindbar war: Barbir Caspar Wilhelm Kleinekorthe raisonnirt über seinen König. Parallelen zwischen dem grämlichen Alten Fritz (*1712) und dem Generalsekretär E. Honecker (*1912) – das war wohl für einen guten Genossen doch ein zu starker Tobak. Von da an mochte ich nicht mehr für die Zeitschrift arbeiten sondern nahm dankend das Angebot von Verlagsdirektor Wolfgang Sellin an, künftig die Kleinekorte-Monologe von vornherein nur für die Buchausgaben zu verfassen..
Allerdings wurde besagter Silvestertext erst 1994 im fünften Band, Salongespräche aus drei Jahrzehnten, veröffentlicht.
Frisör Kleinekorte und die halbnackten Tatsachen
Frisör Kleinekorte wird befördert
Frisör Kleinekorte als Universalgenie
Frisör Kleinekorte und die Pflichtabgaben
Frisör Kleinekorte feiert den besonderen Tag
Frisör Kleinekorte macht Theater
Frisör Kleinekorte schafft Atmosphäre
Frisör Kleinekorte - ein Rufer in der Wüste
Frisör Kleinekorte fördert das Nachtleben
Frisör Kleinekorte und der verpatzte Skatabend
Frisör Kleinekortes Betriebsfest
Frisör Kleinekorte und die drei Affen
Frisör Kleinekorte als Fußballfan
Frisör Kleinekorte im Kampf mit dem Teufel
Herr Kafforke würde sich am liebsten abseilen
Frisör Kleinekorte und die öffentliche Meinung
Frisör Kleinekorte an der Stoppuhr
Herr Kafforke erholt sich aktiv
Frisör Kleinekorte in Venedig
Frisör Kleinekorte in Budapest
Frisör Kleinekortes Pferdekur
Frisör Kleinekorte als Privatdetektiv
Frisör Kleinekorte wird dekoriert
Die Kellner sind jewetzt, trotzdem se jar kein Trinkjeld kriegten. Und sojar unser Dolmetscher Kartski raste mitm Tablett hin und her. Ham Sie denn dis nötig, frägt ihm Mutter, wie er sich nachher zu uns setzte. Ist auch mein Beruf, sagt er, ich bin Direktor von dieses Weinkeller, aber mach ich nur nebenbei. Also hauptsächlich sindse Dolmetscher, sag ick. Nein, sagt er, mach ich auch nur nebenbei. Mein Hauptberuf ist Frisör. Nu kriegten wir aber langsam dis große Wundern. - Aber wann bedienense denn Ihre Kunden, Haarschneiden und so? - Mein Geheimnis, sagt er und grinst übers ganze Gesicht, müssen Sie wissen, bei uns haben Frisör von morgens sieben bis abends um neun geöffnet. Ich gebe Anleitung in große Salon und machen Abrechnung. Wenn Arbeit ist gut eingeteilt, ich fahren nach Feierabend noch Taxi. Also, wie der det macht, weiß ick immer noch nicht, aber jedenfalls sind wir uns als Frisöre an den Abend mächtig näherjekommen und ham auf de Rückfahrt im Bus immer noch jefachsimpelt, während die andern janz laut Heute blau und morgen blau und andre schöne deutsche Volkslieder jesungen ham. Einmal mussten wir unterwegs anhalten, weil Dokter Bohnstengel ein dringendes Bedürfnis hatte. Jaja, hab ick janz laut zu der Ollen jesagt, wenn man erst habilitiert, ist die Blase meistens ooch schon anjegriffen.
Am nächsten Vormittag machtense mit uns die Stadtrundfahrt, und Kartski erzählte uns ’n Schlag aus die Jeschichte von die ollen Mattjahren, als wie sich die Ungarn nennen, wenn se mehr so unter sich sind. Mit Budapest isses jenau umjekehrt wie mit Berlin. Früher warnse zwei Städte, jetz sind se eine. Aber die Donau kam mir nicht halb so blau vor wie unsere Reisejruppe an dem Weinabend. Und auf alles sind die Ungarn unheuer stolz, zum Beispiel auf ihr Parlament. Dis is zwar ne Nummer jrößer als wie unser Palast der Republik, aber dafür ville unmoderner und hat nicht mal Jastronomie.
Von die Fischerbastei war ick ’n bißken enttäuscht. Dis is nämlich nischt andres als wie ne Art riesiger Balkong mit lauter kleine Türmchen und ein Blick auf dis Parlament, aber dis kannten wir ja schon. Wie nu die Leute aus unsre Jruppe alle schwärmten, hab ick jesagt, wir ham ne ville jrößere Bastei inne Sächsische Schweiz, und in Berlin gibts ne janze Fischerinsel. Denn langsam hatten wir jenug von die Kirchen und andre Altertümer, denn wir mussten doch noch unser Jeld unter die Mattjahren bringen.
Nachs Mittagessen sind Muttern und ick gleich losjepeest, haben uns sojar in die neue U-Bahn jetraut, wo in Budapest Felderlotti heißt und einen janz fremdartig vorkommt, weil se innen und außen blitzsauber is. Da kann man ooch nicht schwarzfahren wie bei uns. Wer dis versucht, kriegt gleich ’n Leberhaken mitm Stahlarm von son einjebauten Robotter.
Mit dis Einkaufen hatten wir leider Pech, weil Silvesternachmittag alleJeschäfte geschlossen sind, und nu wars Essig mit Paprika, Salami und meine jestickte Weste. Dafür sind wir in dis jemütliche alte Café Rußwurm aufm Burgberg einjekehrt. Trotzdem dis bloß klitzeklein is, hamse da über fuffzig Sorten Torte und sone leckeren Petöfis mit Zuckerjuß zur Auswahl, aber mehr als acht Stücke hat Muttern beim besten Willen nicht jeschafft. Bloß mit den Kaffee muss man sich mächtig umstellen. Ick sage in mein bestes Reiseführer-Ungarisch zu den Kellner: Velour, Ketten-Fäkalität, also Herr Ober, zwei Schwarze. Sagt er mit unbeweglicher Miene:
Der Herr können ruhig deutsch sprechen. Und denn kam er mit dem Kaffee, dis war aber bloß ein Schluck für jeden. Dafür musste Muttern gleich ihre Herzdroppen nehmen. Denn konnte se bloß noch jappen : Von soville Kaffee brüh ick uns ne janze Woche lang zum Frühstück. Wenn die so aasen, kann sich derJastwirt von den Kaffee nie ’n jroßes Auto leisten. Du weißt ja nicht, sag ick, wat der sonst noch macht, vielleicht isser nebenbei noch Minister und Donaudampfschiffskapitän.
Wie wir zurück zum Hotel jemacht sind, war schon am hellerlichten Nachmittag ein unjeheurer Trubel inne Stadt. Janz ville Leute, vom Opa bis zum Kleinkind, rannten mit sone bunten Papiertuten durch die Straßen und trompeteten, deß einem beinah dis Trommelfell platzte. Muttern sagte, bei den Lärm jeh ick heut nicht mehr aus mein Hotelzimmer. Völlig falsch, sagte ick, ran an Sarch und mitjeweent. Und denn hab ick uns zwei besonders jroße Pappfanfaren jekauft, bei ein Zigeuner am Stand, und der hat mir gleich noch sone Jesichtslarve anjedreht, damit sah ick denn aus wien janz oller Mann und konnte mir in Budapest sozusagen in Carnito bewegen.
Die Silvesterfeier fand in ein besonders feines Etablissemang statt, im Hungaria, aber dis hieß nur so, denn jespachtelt ham wir da pausenlos, und nur die allerfeinsten Sachen, ick kam mir vor wie son Warenprüfer im Delikatladen. Und zur Verdauung hab ick mit Muttern jescherbelt wie einst im Mai. Und dazu nur Schampus jetrunken, wat wir uns in Berlin nie leisten würden, aber wir hatten ja noch unsere janzen Forinten und konnten sojar die Leute am Tisch, wo ihre schon für Bücher, andere Kinkerlitzchen und Salami ausjegeben hatten, noch mit freihalten. Dabei jabs mächtigen Krach zwischen dis Ehepaar Bohnstengel, weil er andauernd mit Muttern danzen wollte. Da is die Olle schon vor zwölfe jiftig wie ne Natter ins Hotel abjezischt, und er hat mit mir Brüderschaft jetrunken. Hubert heißt der Junge und hat erzählt, deß er ooch bloß aus janz kleine Kreise kommt. Und Waldemar, dis is der Autofritze, hat mir immer wieder jesagt, deß ick von ihm jede Menge Radierreifen für mein Auto kriegen kann, dabei hab ick nie eins besessen. Und Kartschi hat mir auf beide Backen jeküßt, was mir ja an und für sich zuwider is: Wilhelm-Batschi, hat er gesagt, ich kommen dich besuchen in Berlin und zeig dir, dass ich nicht verlernt hab Haareschneiden.
Und denn schlugs auf einmal zwölfe. Alle Ungarn standen auf und sangen feierlich die Nationalhymne mit. Dis stellnse sich mal bei uns in Berlin, beispielsweise im Café Nord, zu ner Silvesterfete vor! Aber hinterher jing der Trubel erst richtig los. Alle Leute, auch draußen aufe Straße, fielen sich um den Hals und riefen: Bulldog, euer Fett! - also: Prost Neujahr! Und darauf muss man antworten: Küssele Wisent! - Danke gleichfalls.
Anschließend kam dis Küchenpersonal mit ein lebendiges Schweineferkel. Dis war in eine Serviette jewickelt, und alle Leute durften ihm an Schwanz fassen, dis bedeutet Glück.
Warum quietscht denn das Tierchen so laut, hat die dicke Hampken jefragt. Und da kann ick mir noch jenau erinnern, wie ick jeantwortet habe: Stell dir mal vor, dis würdense mit dein Waldemar machen!
Da hat Muttern ooch schon ihre schmalen Lippen jekriegt, is aufjestanden und hat jesagt: Willem, es is höchste Zeit für dir. Aber denn fehlen mir ’n paar Meter Fülm.
Am andern Mittag hat mir Muttern mit Mühe und Not und ’n nassen Lappen aust Bette jekriegt, und ne halbe Stunde später brachte uns der Bus zum Flugplatz. Aber so richtig aufjewacht bin ick erst, wie wir wieder in Schönefeld jelandet sind. Drei Tage hat se nicht mit mir jeredet. Da hab ick ebent ooch rumjegnatzt und mir jesagt, Leute, die kein Sinn für jroßstädtische Verjnügungen ham, sollen Silvester auf ne Kuhbläke fahren oder aufm Arsch bleiben. Aber am vierten Tag bin ick los und hab ihr für teures Jeld echte ungarische Konjackkirschen jekauft und se ihr mit ein mattjahrischen Handkuss überreicht, woran man wieder sieht, deß Reisen büldet. Aber nu hab ick Ihnen lange jenug aufjehalten. Macht zweifuffzig! Alles Jute und auf Wiedersehen, oder auf ungarisch: Wisent, Latschen hoch!
C. U. Wiesner
Geboren im letzten Monat der Weimarer Republik, am Neujahrstag 1933, in der einstigen märkischen Hauptstadt Brandenburg, entwich nach dem Abitur den heimatlichen Stadtmauerzwängen, gelangte in eine etwas größere Hauptstadt, ohne zu ahnen, dass man dort schon zehn Jahre später aus väterlicher Sorge bemüht sein würde, ihm den Horizont mit erheblicherem Bauaufwand zu verstellen.
Eines Tages mochte er fürder nicht mehr in der eingefriedeten Hauptstadt leben und zog es vor, in die vertrauten märkischen Wälder zurückzukehren.
Dank prophetischer Gaben bestellte er den Möbelwagen von Berlin-Pankow nach Klosterfelde für den 9. November 1989.
Während des achtunddreißigjährigen Berlin-Aufenthalts:
Studien als Dolmetscher für Englisch; Germanistik und Filmszenaristik (diese im Gegensatz zu jenen hin und wieder angewandt).
Tätig als Lektor, Redakteur, Reporter, Theaterkritiker, Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift Eulenspiegel, Entertainer in eigener Sache, Schauspieler (leider zu selten) und (vorwiegend) Schriftsteller.
Sein bekanntestes Geschöpf ist der Frisör Kleinekorte, den das Berlin-Brandenburgische Wörterbuch zu Recht an die Seite der Volksfiguren von Glaßbrenner und Tucholsky stellt.
C.U.W. schrieb u. a. Hörspiele, Kabarett-Texte, Fernsehfilme und Fernsehserien (u. a. Gespenstergeschichten wie Spuk unterm Riesenrad, Spuk im Hochhaus, Spuk aus der Gruft für Kinder von 8 bis 88 Jahren) sowie dreizehn Bücher, vom Kinderbuch über den Kriminalroman, die satirische Darstellung eigener Umwelt im weitesten Sinne bis zum bitteren erst um die Jahreswende 1989/90 nach einiger Verzögerung erschienenen Märchenroman für Erwachsene Die Geister von Thorland, Machs gut, Schneewittchen! und Lebwohl, Rapunzel! erzählen von den Kinder- und Jugendjahren in der Havelstadt Brandenburg.
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