Jakob lässt mich sitzen

Der zwölfjährige Heiko hat einen Freund, einen großen Freund. Und bisher war zwischen den beiden alles klar: Jakob? So heißt mein Freund. Er ist viel größer und älter als der kleine Bulko. Ich glaube, er ist so um die neunzehn Jahre alt. Und Kraft hat er wie ein mittlerer Traktor. Einmal kam er gerade dazu, wie eine Zugmaschine im Wegschlamm stecken blieb. Er kuppelte den Anhänger aus und zog ihn ganz allein an den Straßenrand. So ein Kerl ist das, der Jakob. Sogar der kleine Bulko hat Respekt vor ihm. Wenn er noch so schnell rennt, Jakob macht bloß drei, vier Schritte, und schon hat er den Ausreißer beim Wickel gepackt.... alles anzeigen expand_more

Der zwölfjährige Heiko hat einen Freund, einen großen Freund. Und bisher war zwischen den beiden alles klar: Jakob? So heißt mein Freund. Er ist viel größer und älter als der kleine Bulko. Ich glaube, er ist so um die neunzehn Jahre alt. Und Kraft hat er wie ein mittlerer Traktor. Einmal kam er gerade dazu, wie eine Zugmaschine im Wegschlamm stecken blieb. Er kuppelte den Anhänger aus und zog ihn ganz allein an den Straßenrand. So ein Kerl ist das, der Jakob. Sogar der kleine Bulko hat Respekt vor ihm. Wenn er noch so schnell rennt, Jakob macht bloß drei, vier Schritte, und schon hat er den Ausreißer beim Wickel gepackt. Ich bin froh, einen solchen Freund zu haben.

Seinetwegen sitze ich hier und kample mich mit der Langeweile herum. Jakob arbeitet bei den Fischteichen, die sich hinter dem Kiefernwald erstrecken. So genau weiß ich gar nicht, was er tagsüber dort treibt. Vielleicht füttert er die Karpfen mit Brotbrocken. Oder er zählt die Wasserlinsen, ob sie auch für die Wildenten das Jahr über reichen. Oder er kutscht immerfort mit dem Kahn über den Teich, um die Frösche vor dem Ertrinken zu retten. Sei es, wie es sei: Kommt der Feierabend heran, springt er auf sein Jawa-Motorrad und donnert ins Dorf. Immer aber muss er an unserem Hause vorbei, denn es gibt keinen anderen Weg. Ich hocke hier und lauere ihm auf.

Sobald mich Jakob sieht, stoppt er die Maschine und ruft: „Mach hin! Ich hab’s eilig heut!“ Dann springt Heiko auf den Sitz hinter seinem Rücken, Jakob gibt Gas und Heiko ist sehr, sehr stolz. Aber seit kurzem ist alles anders. Denn auf dem Sitz hinter Jakob nimmt jemand anders Platz: Manja, die hübsche Tochter des Försters. Ihr gelten jetzt alle Gedanken von Jakob. Denn der ist offenbar in Manja verliebt.

Ob es Heiko trotzdem gelingt, seinen großen Freund für sich zurückzugewinnen? Und vielleicht kann er sich sogar noch anderweitig nützlich machen?



Jakob geht jetzt mit schnellen Schritten auf dem Vorplatz hin und her. Immer wieder blickt er zur Uhr. Dann wieder zum Himmel. Nachdem die ersten Tropfen auf den Lederrücken trommeln, kommt er zu mir ans Geländer. „Das gibt einen Wolkenbruch, mindestens“, sagt er heiser. „Ich muss raus zu den Teichen, wir haben Kalk ungedeckt liegen. Der schwimmt uns weg.“

„Hast du nicht Feierabend?“, frage ich.

Er sieht mich erstaunt an. „Feierabend hin, Feierabend her. Wenn’s brennt, kann man nicht auf den Achtstundentag pochen.“

Na, denk ich, brennen wird es ja nicht gerade. Eher das Gegenteil. Aber wenn er um den Kalk bangt, warum steht er dann noch hier? Soll er doch abzischen.

Jakob fährt sich mit dem Zeigefinger zwischen Kragen und Halshaut. „Die Manja“, fragt er, „kennst du sie zufällig?“

Ich tue so, als ginge mich die Sache nichts an. „Ist es die eingebildete Blonde vom Försterhaus?“, frage ich deshalb scheinheilig zurück.

„Ja, die!“, antwortet Jakob eilig. „Sag ihr, dass ich da war. Machst du das?“

„Mal sehn.“

„Richt ihr aus, ich hätt sie gern heimgefahren bei der Witterung.“

Ich springe vom Geländer und drücke mich durch die schwere Tür in die Bahnhofshalle.

Bin ich vielleicht ein Briefträger, dass ich in einer Tour Nachrichten übermitteln soll. Warum machen sie den Mund nicht selber auf, wenn sie sich sehn? Nur Ärger hat man mit den verliebten Leuten!

Jakob rennt noch einmal im strömenden Regen auf dem Vorplatz hin und her. Er kann sich nicht entschließen. Einerseits wartet die dringende Arbeit bei den Teichen auf ihn. Andrerseits könnte eine gewisse Manja erstaunt darüber sein, wenn er hier fehlt. Und es ist noch gar nicht ausgemacht, ob dieser Heiko den Auftrag ordentlich ausführt ...

Endlich springt er doch auf die Maschine. Pfützenwasser klatscht unter den Reifen auf. Aus dem Auspuff donnert es, dass die Scheiben klirren. Dann verschwindet Jakob hinter einer schwarzen Regenwand.



Joachim Nowotny entstammt einer Arbeiterfamilie. Er absolvierte eine Lehre als Zimmermann und arbeitete in diesem Beruf. 1954 legte er an einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät die Reifeprüfung ab und studierte anschließend bis 1958 Germanistik an der Universität Leipzig. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Verlagslektor. Seit 1962 lebt er als freier Schriftsteller in Leipzig. Von 1967 bis 1982 wirkte er als Dozent am dortigen Literaturinstitut Johannes R. Becher.

Joachim Nowotny ist Verfasser von Erzählungen, Romanen, Hör- und Fernsehspielen. Den Schwerpunkt seines Werkes bilden Kinder- und Jugendbücher; thematisch ist er eng mit seiner Heimatregion, der Lausitz, verbunden. Nowotny behandelte als einer der ersten DDR-Autoren am Beispiel des Lausitzer Braunkohle-Tagebaus Themen wie Landschafts- und Umweltzerstörung.

Joachim Nowotny ist seit 1990 Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller.

Auszeichnungen:

1971 Alex-Wedding-Preis,

1977 Heinrich-Mann-Preis

1979 Nationalpreis der DDR (II. Klasse für Kunst und Literatur)

1986 Kunstpreis des FDGB.

Bibliografie (Auswahl)

Hochwasser im Dorf, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1963

Jagd in Kaupitz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1964

Hexenfeuer, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1965

Jakob läßt mich sitzen, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1965

Labyrinth ohne Schrecken, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1967

Der Riese im Paradies, Der Kinderbuchverlag, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1969

Sonntag unter Leuten, Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) 1971

Ein gewisser Robel, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1976

Die Gudrunsage, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1976

Ein seltener Fall von Liebe, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1978

Abschiedsdisco, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1981

Letzter Auftritt der Komparsen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1981

Die Äpfel der Jugend, Aufbau Verlag, Berlin 1983

Ein Lächeln für Zacharias, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1983

Der erfundene Traum und andere Geschichten, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1984

Schäfers Stunde, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1985

Der Popanz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1986

Wo der Wassermann wohnt, Domowina Verlag, Bautzen 1988 (zusammen mit Gerald Große)

Adebar und Kunigunde, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1990

Als ich Gundas Löwe war, Faber & Faber, Leipzig 2001

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