Ein Fingerhut voll Zuversicht

Durch den plötzlichen Tod der Mutter wird die sechzehnjährige Fanny Schill vor die Aufgabe gestellt, deren Platz in der Familie zu übernehmen. Der Vater ist völlig hilflos. Er will die drei jüngeren Geschwister trennen — zwei sollen in ein Heim und der jüngste zu seiner Schwägerin. Fanny möchte die Familie erhalten, sie will für Volker, Rüdiger und Rainer sorgen, obwohl sie selbst durch den nicht erfüllten Berufswunsch, Fotografin zu werden, erhebliche Konflikte hat. Die Lehre an der Nähmaschine, die Arbeit im Haushalt, alles droht dem Mädchen über den Kopf zu wachsen, und der Fingerhut voll Zuversicht leert... alles anzeigen expand_more

Durch den plötzlichen Tod der Mutter wird die sechzehnjährige Fanny Schill vor die Aufgabe gestellt, deren Platz in der Familie zu übernehmen. Der Vater ist völlig hilflos. Er will die drei jüngeren Geschwister trennen — zwei sollen in ein Heim und der jüngste zu seiner Schwägerin. Fanny möchte die Familie erhalten, sie will für Volker, Rüdiger und Rainer sorgen, obwohl sie selbst durch den nicht erfüllten Berufswunsch, Fotografin zu werden, erhebliche Konflikte hat. Die Lehre an der Nähmaschine, die Arbeit im Haushalt, alles droht dem Mädchen über den Kopf zu wachsen, und der Fingerhut voll Zuversicht leert sich täglich mehr und mehr, auch wenn Sascha ihr hilft. Aber liebt er Fanny wirklich?

LESEPROBE:

Nach diesem Erlebnis hielt Sascha es für angebracht, öfter bei den Schills nach dem Rechten zu sehen. Er tat es mit einer Selbstverständlichkeit, als sei er ein älterer Vetter. Manchmal brachten ihn die Jungen von draußen mit, sie hatten ihn irgendwo getroffen. Manchmal klingelte er an der Tür und kam herein, ohne nähere Erklärungen abzugeben. ,,Hallo, wie geht’s?“

Er ließ Fannys Erstaunen an sich abprallen, fragte nach den Brüdern, alberte mit ihnen herum, hörte interessiert auf ihre belanglosen Reden und gab ihnen Ratschläge und Hinweise, und Volker und Rüdiger lauschten auf jedes seiner Worte. Was er anordnete, wurde prompt befolgt. Streitereien, die er schlichtete, flammten nicht wieder auf. Keineswegs war er immer freundlich. Wenn er entdeckte, dass die Jungen bloß Unsinn getrieben hatten, anstatt im Haushalt zu helfen, fauchte er sie an. Er fragte Fanny: „Kommst du klar?“ Und wehe, sie hatte Grund zu Klagen! Es machte ihm gar nichts aus, eine freche Bemerkung mit einer Ohrfeige zu beantworten, pädagogische Grundsätze hatte er nicht. Er handelte spontan und bedenkenlos autoritär. Gleichzeitig aber war er ein Kumpel, der sich balgte und Sinn hatte für Eulenspiegeleien jeder Art. Was immer man ihm erzählen mochte, er hatte Zeit, hörte zu, und zwar nicht wie ein Erwachsener, der sich von seiner Warte auf die Warte halbwüchsiger Jungen begibt, um sie zu verstehen, sondern als einer von ihnen, der alles verstand, der sich brüllend vor Lachen hintenüber auf die Couch warf, der beim Kartenspiel mogelte, der über Schweinigeleien grinste und Verstöße gegen die Schulordnung normal fand.



Nach diesem Erlebnis hielt Sascha es für angebracht, öfter bei den Schills nach dem Rechten zu sehen. Er tat es mit einer Selbstverständlichkeit, als sei er ein älterer Vetter. Manchmal brachten ihn die Jungen von draußen mit, sie hatten ihn irgendwo getroffen. Manchmal klingelte er an der Tür und kam herein, ohne nähere Erklärungen abzugeben. ,,Hallo, wie geht’s?“

Er ließ Fannys Erstaunen an sich abprallen, fragte nach den Brüdern, alberte mit ihnen herum, hörte interessiert auf ihre belanglosen Reden und gab ihnen Ratschläge und Hinweise, und Volker und Rüdiger lauschten auf jedes seiner Worte. Was er anordnete, wurde prompt befolgt. Streitereien, die er schlichtete, flammten nicht wieder auf. Keineswegs war er immer freundlich. Wenn er entdeckte, dass die Jungen bloß Unsinn getrieben hatten, anstatt im Haushalt zu helfen, fauchte er sie an. Er fragte Fanny: „Kommst du klar?“ Und wehe, sie hatte Grund zu Klagen! Es machte ihm gar nichts aus, eine freche Bemerkung mit einer Ohrfeige zu beantworten, pädagogische Grundsätze hatte er nicht. Er handelte spontan und bedenkenlos autoritär. Gleichzeitig aber war er ein Kumpel, der sich balgte und Sinn hatte für Eulenspiegeleien jeder Art. Was immer man ihm erzählen mochte, er hatte Zeit, hörte zu, und zwar nicht wie ein Erwachsener, der sich von seiner Warte auf die Warte halbwüchsiger Jungen begibt, um sie zu verstehen, sondern als einer von ihnen, der alles verstand, der sich brüllend vor Lachen hintenüber auf die Couch warf, der beim Kartenspiel mogelte, der über Schweinigeleien grinste und Verstöße gegen die Schulordnung normal fand.

Fanny wusste nicht, was sie davon halten sollte. Einerseits schaffte Sascha ihr einen Berg von Schwierigkeiten aus dem Weg. Sie brauchte nicht mehr zu schreien und in die Hände zu klatschen. Sie brauchte nur anzudeuten, dass sie Sascha dies oder jenes stecken würde, und schon verwandelten sich die beiden in dienstbereite Kameraden. Andererseits aber war ihr diese Freundschaft zwischen Sascha und den Brüdern ein Rätsel und ein Dorn im Fuß. Wen besuchte er in Wahrheit, die Brüder oder sie? War zum Beispiel der Vater zu Hause und öffnete die Tür, dann behauptete Sascha immer, er komme zu Fanny. Das war viel einleuchtender, und der Vater glaubte natürlich wie die Jungen, Sascha wäre Fannys Freund. Aber er war es nicht! Er, der mit allen anderen schäkerte, bedeutungsvolle Blicke tauschte und wunder wie vertraulich tat, er war ihr gegenüber zurückhaltend.

Auch die Mädchen in der Schule fingen allmählich an, in Fanny und Sascha ein Paar zu sehen. Wie sollten sie es sich sonst wohl erklären, dass diese beiden nach Schichtende nicht wie alle anderen zur Straßenbahnhaltestelle gingen, sondern zusammen den weiten Fußweg durch den Schlossgarten vorzogen? Sie gingen zwar nicht Hand in Hand, wie es eigentlich bei Paaren üblich war, aber sie sonderten sich ab, und das gab zu denken. Es gab auch Anlass zu allerlei mehr oder weniger offenen Anspielungen und Fragen, die Fanny verlegen machten, weil sie keine Antwort wusste. Ja, hätte sie sagen mögen, wir gehören jetzt zusammen! Dann hätte sich keine mehr herausnehmen dürfen, Sascha von ihrer Seite wegzulotsen, aber das ging weiter, daran änderte sich nichts. Fanny beobachtete nun noch viel schärfer, folglich sah sie noch viel mehr, was ihren Argwohn erregte. Sie war wütend auf sich.

Immer wieder nahm sie sich vor, Sascha beim nächsten Mal eine Abfuhr zu erteilen und nicht mit ihm durch den Schlossgarten zu gehen. Doch wenn er sie fragte, war sie sofort einverstanden. Sie verwünschte sich dafür.



Christa Grasmeyer wurde 1935 in Schwerin geboren. Sie arbeitete zunächst in verschiedenen Berufen, war Journalistin, Arztsekretärin, im Buchhandel tätig und als Sekretärin in einem Sportclub.

1975 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, dann regelmäßig weitere Bücher, bis sich fünfzehn Jahre später ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen so grundlegend veränderten, dass sie das Schreiben aufgab und nur noch gelegentlich die eine oder andere Kurzgeschichte verfasste.

Christa Grasmeyers Bücher wenden sich vorwiegend an jugendliche Leser. Ihre Erzählungen handeln von der schwierigen Lebensphase der Jugendzeit, von Liebe und Freundschaft, von familiären Konflikten oder von Problemen bei der Berufsausbildung.

Christa Grasmeyer lebt in Schwerin, seit 1977 freischaffend.

Bibliografie:

Eva und der Tempelritter, Verlag Neues Leben, Berlin 1975 (Prag 1979, Warschau 1983, Budapest 1985)

Kapitän Corinna, Verlag Neues Leben, Berlin 1977

Der unerwünschte Dritte, Verlag Neues Leben, Berlin 1979 (Budapest 1988)

Ein Fingerhut voll Zuversicht, Verlag Neues Leben, Berlin 1980

Verliebt auf eigene Gefahr, Verlag Neues Leben, Berlin 1984

Aufforderung zum Tanz, Verlag Neues Leben, Berlin 1986

Friederike und ihr Kind, Verlag Neues Leben, Berlin 1988

Was hast du getan?, Kurzgeschichte in: "Wahnsinn", Verlag Otto Maier, Ravensburg 1990

Drei von draußen, Kurzgeschichte in: Hamburger Abendblatt 1996

Literarische Auslese "Weihnachtsveranstaltungen", Radius-Verlag, Stuttgart

May be - Kurzgeschichte, unveröffentlicht

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  • Autor find_in_page Christa Grasmeyer
  • Autoreninformationen Christa Grasmeyer wurde 1935 in Schwerin geboren. Sie arbeitete… open_in_new Mehr erfahren
  • Wasserzeichen ja
  • Verlag find_in_page EDITION digital
  • Seitenzahl 258
  • Veröffentlichung 23.08.2014
  • ISBN 9783956550270

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