Der Fremde aus der Albertstraße

Eine abenteuerliche Geschichte für Mädchen und Jungen

Diese Situation muss man sich mal aus der Sicht des Opfers vorstellen: Es ist ein Februartag und es ist der kälteste Winter seit dreißig Jahren, wie die Zeitungen schreiben und die müssen es wissen. Die Briefträger haben weniger zu schleppen, denn die Zeitungen sind dünner geworden, weil die Papierfabriken weniger Kohle einbunkern können und deshalb ihre Maschinen gedrosselt haben. Ein Mann kommt die Straße herauf. Er muss jung sein, denn er trägt bei diesem Wetter keine Mütze. Sein Haarschopf aber ist dick und wild. Den Mantelkragen hat er hochgeschlagen. Etwas vornübergebeugt läuft er, weil der Wind ihm die nassen... alles anzeigen expand_more

Diese Situation muss man sich mal aus der Sicht des Opfers vorstellen: Es ist ein Februartag und es ist der kälteste Winter seit dreißig Jahren, wie die Zeitungen schreiben und die müssen es wissen. Die Briefträger haben weniger zu schleppen, denn die Zeitungen sind dünner geworden, weil die Papierfabriken weniger Kohle einbunkern können und deshalb ihre Maschinen gedrosselt haben.

Ein Mann kommt die Straße herauf. Er muss jung sein, denn er trägt bei diesem Wetter keine Mütze. Sein Haarschopf aber ist dick und wild. Den Mantelkragen hat er hochgeschlagen. Etwas vornübergebeugt läuft er, weil der Wind ihm die nassen Schneeflocken ins Gesicht treibt. Vielleicht geht er deshalb auch so langsam.

Da fliegen ihm Schneebälle entgegen, darunter auch drei harte Eisklumpen aus verharschtem Schnee. Sie treffen den jungen Man am ungeschützten Kopf. Warum läuft er nicht weg? Noch mehr Schneebälle fliegen und treffen. Aber der Mann lässt nur die Arme sinken. Er schwankt und droht mit den Fäusten.

Die Angreifer sind vier Jungs aus der 5a, die für eine Schneeballschlacht gegen die 5b am nächsten Tag trainieren, ihr Anführer ist der elfjährige Rainer, auch Bürste gerufen. Rainer brüllt jetzt: „Der ist betrunken. Deckt ihn ein.“ Wieder wirft er und trifft. Auch die anderen sind näher gekommen und werfen wie besessen. Da bemerkt Rainer, wie der Mann die Arme hochwirft und loslaufen will. Ein paar Schritte schwankt er vor, dann fällt er schwer nach hinten. Sein Mantel plustert sich auf. Der Mann setzt sich jetzt auf. Und Rainer starrt auf das Bein des Mannes, der auf der schneebedeckten Straße hockt. Die Hose hat sich hochgeschoben. Dieses Bein ist kunstvoll aus Holz und Leder gearbeitet.

Rainer will sich bei dem jungen Mann entschuldigen. Gerade noch kann er im Schneetreiben am Ende einer Straße mit alten Häusern die Gestalten des jungen Mannes und seiner Helfer erkennen. Es ist die Albertstraße. Als er dort von einer alten Frau überrascht wird, zählt er viele Ideen auf, wie die Pioniere alten Menschen im Winter helfen können: Kohlen und Kartoffeln nach oben schleppen und für sie einkaufen. Den Fremden findet er zunächst nicht, dafür einen Mann, der aussieht wie Karl Marx und vielleicht ein Held ist. Rainer entdeckt in der Wohnung von Karl Marx etwas sehr Spannendes, das genau über dem Sofa hängt …

„Der Fremde aus der Albertstraße“ ist eine abenteuerliche Geschichte über Mut und Mut zur Wahrheit, über Solidarität und Kollektivgeist – für Mädchen und Jungen.



Die vergessene Baubude

Schreck im dunklen Hausflur

Die Welt gehört den Mutigen

Man muss auch verlieren können

Der Mann mit dem Karl-Marx-Bart

Ein Lehrer muss doch gerecht sein

Frau Melkott weiß eine Geschichte aus alten Zeiten

Der geheimnisvolle Dachboden

Ist Herr Raguse ein richtiger Held?

Der Schwur und die Boxhandschuhe

Schimmel

Der brennende Tankwagen

Rainer lügt

Die große Reise ohne Marion

Die verschneite Braunkohlengrube

Sind die Freunde nichts wert?

Die Sache muss bereinigt werden

Ein schwerer Entschluss

Die verwünschte Grippe

Der lustige Lastkraftwagen



Die Treppenstufen knarren.

„Leise“, flüstert Rainer. Ede knurrt etwas Unverständliches. Die Jungen schleichen die Bodentreppe im alten Haus hinauf. Es riecht nach Staub und morschem Holz. Rainer presst seine Faust gegen das Nasenbein. So kann er das Niesen unterdrücken. Vor der eisernen Bodentür lässt Rainer die Taschenlampe aufflammen. Im Haus schlägt eine Tür.

Warum schleichen Rainer und Ede eigentlich die Bodentreppe hinauf? Was haben sie dort zu suchen? –

Rainer konnte die Erzählung der alten Frau Melkott nicht vergessen. – Stieg er die Treppen hoch, beladen mit Kohleneimern und Kartoffelkörben, holte er im Milchladen für die Familie Lehmann Butter, trabte er im schneidenden Eiswind zum Bäcker, immer erinnerte er sich an die merkwürdige zornige Erzählung der Frau Melkott. –

Und eine Fahne war auf diesem geheimnisvollen Boden von Herrn Raguse versteckt worden, vielleicht eine alte, zerschlissene. Vor kurzem hatte Rainer ein Buch gelesen, das ihn sehr packte: „Die Fahne von Kriwoj Rog“, daran musste er jetzt denken.

Und so war es gekommen, dass Rainer auf dem Weg nach Hause Ede in die Rippen stieß. „Wir gehen noch mal zurück. Den Boden gucken wir uns an.“

Vorher hatten sie Marion nach Hause begleitet. Sie war sehr müde neben ihnen hergezottelt, klagte aber nicht. Leicht war es eben nicht, die schweren Kohleneimer die Treppen hochzuschleppen, auch wenn Rainer ihr manchmal die schwersten Sachen tragen half.

Aber Marion ist ein Kerl. So änderte sich Rainers Ansicht.

Ede war nicht sehr erbaut von Rainers Vorschlag.

„Was soll denn der Quatsch?“

Rainer packte Ede am Mantel. Er war von seiner Idee besessen. „Quatsch? Du redest Quatsch. Was erzählte die Frau Melkott? Hast du auf deinen Ohren gesessen? Herr Raguse hatte dort in der Nazizeit eine Fahne und vielleicht noch andere Sachen versteckt. Wer weiß was? Vielleicht ist die Fahne noch nicht gefunden? Wir können uns doch mal den Boden ansehen?“

Sie standen in der Kälte auf der Straße und pusteten sich ihren Atem in die Gesichter. Der war wie weißer Dampf.

„Na, gut“, knurrte Ede, „ich komm mit!“

Rainer schlug Ede auf die Schulter. Edes Mantel war gut gefüttert.

Die Bodentür öffnet sich und quietscht dabei wie eine Straßenbahn in der Kurve.

Der Spalt reicht aus, und die Jungen zwängen sich hindurch. Stockdunkel ist es auf dem Boden. Muffig riecht es – und auch nach schlecht brennender Kohle. Der Schornstein muss in der Nähe sein.

„Mach die Tür wieder zu“, flüstert Rainer. „Gut, dass unsere Alten alle so schlecht hören“, sagt er erleichtert.

Ede brummt missmutig: „Das ist hier vielleicht ein Boden.“ Sie lassen die Scheinwerfer ihrer Taschenlampen kreisen. Holzverschläge, schmale Gänge dazwischen, brüchiges Mauerwerk, das wohl zum Schornstein gehört, und in den Ecken ein ausrangiertes Sofa, Bettgestelle, eine Hobelbank, uralte Fahrradrahmen.

„Wenn wir das alles verkaufen“, überlegt Ede und blinkt mit seiner Taschenlampe, „da haben wir so einen Platz in der Altstoffsammlung.“

Rainer sagt: „Und wenn’s hier mal brennt. So was muss doch verboten sein.“

„Das ist auch verboten.“

Sie tasten sich durch die engen Gänge. Vor jeder Bodenkammer hängt ein dickes Vorhängeschloss.

„Sind das Dinger“, sagt Rainer, „die wiegen ja schon ein Pfund.“ Sie schleichen weiter und stoßen immer wieder auf Bodenkammern, Verschläge und manchmal auch Schneehäufchen, weil die Dachziegeln undicht sind.

Rainer denkt an die Erzählung der Frau Melkott. Hier oben haben die Nazis suchen müssen. Sicher war das schwer auf so einem Boden. Vielleicht ist die Fahne hier irgendwo verborgen, halbvermodert, ausgeblichen, von Insekten zerfressen. Herr Raguse hatte sie bestimmt hinter irgendeinen Dachsparren, in eine Ecke zwischen den Verschlägen geklemmt.

Ede murrt: „Was wollen wir denn hier?“

Rainer weiß eigentlich nichts zu antworten. Und weil er nicht zugeben will, dass die Sache nicht gut überlegt ist, sagt er: „Da haben wir wenigstens den Boden gesehen. Hier hat sich ja was abgespielt. Nicht in jedem Haus sind solche Sachen passiert. Das ist eben ein besonderes Haus. Haben wir nicht Glück, dass wir so eins erwischt haben?“



Günter Görlich

Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin.

Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist.

Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim.

1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch „Der Schwarze Peter“ den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur.

Weitere Auszeichnungen:

Kunstpreis des FDGB 1966, 1973

Nationalpreis 2. Klasse 1971

Held der Arbeit 1974

Nationalpreis 1. Klasse 1978

Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979

Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979

Ehrenspange zum VVO in Gold 1988

Goethepreis der Stadt Berlin 1983

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