Der verschwundene Schiffskompass
Dieses Buch ist schon 54 und inzwischen schon fast selbst ein historisches Stück. Das kann man zum Beispiel daran erkennen, dass es darin um einen gewissen Wilhelm Buchholz geht, den Opa von Marina, die ihre Ferien bei Oma verbringt. Dort begegnet sie André wieder, mit dem sie sich eigentlich schreiben wollte. Gemeinsam müssen sie einen Kriminalfall klären. Denn, wie es schon im Titel dieses für Leserinnen und Leser ab 11 Jahren geschriebenen Kinderbuches angedeutet ist, denn ein Schiffskompass ist plötzlich verschwunden.
Dieser Kompass hat direkt mit Wilhelm Buchholz zu tun, wie Marina André erklärt: „Mein Opa war Matrose. Im November neunzehnhundertachtzehn hat er in Kiel gegen die Offiziere gekämpft. Später ist er nach Berlin gekommen. Oma sagt, er wollte, dass auch in Berlin die Revolution siegte. Er ist aber dann von den Feinden erschossen worden. Genau am Weihnachtsabend hat ihn eine Kugel getroffen. Das musst du dir mal vorstellen, am vierundzwanzigsten Dezember.“ Dieses Ereignis war schon zum Erscheinen des im selben Jahr beim Preisausschreiben für Kinder- und Jugendliteratur des Ministeriums für Kultur der DDR 1968 mit einem Preis ausgezeichneten Buches ein halbes Jahrhundert her und jetzt mehr als 100 Jahre.
Noch einmal Marina: „Mein Opa hat den Kompass neunzehnhundertachtzehn aus Kiel mitgebracht. Es ist ein Kompass vom Kreuzer ,Prinz Karl‘. Auf dem Ding war mein Opa Maschinist. Von Oma weiß ich’s. Die Matrosen haben die Kaiseroffiziere verjagt und die rote Fahne hochgezogen. Im Theater hab ich mal die ,Matrosen von Cattaro‘ gesehen. Da war das auch so, bloß im Mittelmeer.“
Rückblende 1918: Novemberwetter im Hafen von Kiel. Dunkel und schmutzig das Wasser. Die grauen Kriegsschiffe Seiner Majestät wiegen sich träge in der schwachen Dünung. Zerstörer mit flachen, dicken Schornsteinen, bullige Räumboote, graue Kreuzer mit drohenden Panzertürmen. Darüber graue, tief hängende Wolken. Wilhelm, der ehemals kaiserliche Matrose, der jetzt eine rote Binde um seinen Arm trägt, steht neben einem Hilfskompass. Die Nadel pendelt nur ganz schwach. Wilhelm hat gefunden, was er suchte. Mit dem Kappmesser montiert er den Kompass ab.
Genau dieser Kompass sollte jetzt den Matrosen eines Schiffes der Volksmarine geschenkt werden, das nach Wilhelm Buchholz benannt werden wird - dem roten Matrosen. Wer aber könnte dieses historische Stück gestohlen haben? André und Marina stellen eine Liste von Verdächtigen auf und beginnen mit ihren eifrigen Nachforschungen …
Die Wette
Was kann ein alter Kompass schon wert sein …
Damals in Kiel …
Der Kompass muss wieder her
Der Kreis der Verdächtigen
Geheimhaltung in Gefahr
Was verbirgt sich hinter der hohen Hecke?
Ein Ausflug – aber nicht in den Tierpark
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben
Das „Geheimnis“ der Aktentasche
Eine unverhoffte Wende
Allein ist es schwer
Die vergebene Chance
„Der Seesack war ganz schön schwer, hat meine Oma erzählt, als Opa eines Tages ihn in die Wohnung wuchtete. Brot und Konserven hatte er auch mitgebracht. Und ganz zuletzt holte er den Kompass raus. Oma hat vielleicht Augen gemacht. Kannst du dir ja vorstellen. Noch ein paar Konserven wären ihr lieber gewesen. Aber dann hat Opa ihr alles erzählt. Und da hat sie’s schon verstanden.“
André hatte vom Zuhören eine kühle Nasenspitze bekommen. Sein Gesicht aber glühte.
„Was dein Opa da eingeritzt hat, das konnte man heute noch lesen?“
„Na, was denkst du denn. Mit einem spitzen, scharfen Messer richtig eingeritzt, das hält doch ewig.“
André seufzte. Ja, der Kompass hat einen Wert, der nicht mit Geld zu bezahlen ist.
„Was seufzt du denn so?“, fragte Marina.
„Ich denk an den Kompass. Der muss doch wieder her. So ein Stück. Das ist doch … das ist doch Geschichte. Der kann doch nicht irgendwo vergammeln.“
André war wieder aufgesprungen. Die Hände hatte er in die Taschen gestoßen.
„Der Kompass gehört auf das neue Schiff. Klar. Auf die Kommandobrücke muss er. Wir müssen ihn finden.“
Marina saß ganz still am Tisch. Sie sah zu dem Jungen auf und bewunderte ihn in diesem Augenblick sehr.
Doch man kann nicht länger als ein paar Minuten so sitzen und bewundern. Dann meldet sich wieder der Verstand.
„Er ist weg. Gestohlen. Wir wissen nicht mal, wann das war. Es kann gestern passiert sein. Aber vielleicht auch schon vor drei Wochen“, sagte Marina mutlos.
„Und die Polizei?“, fragte André.
Marina winkte ab.
„Was soll die Polizei? Was können wir denn sagen. Das sagt meine Oma auch. Er ist weg. Und was noch?“
„Ja“, sagte André, „keine Spuren. Nichts. Was soll man da schon machen.“
Nun saßen die beiden wieder schweigend am Tisch. Die Sonne war höher geklettert und heizte tüchtig ein.
„Wollen wir ins Freibad?“, fragte Marina.
„Das wär schon was“, meinte André.
Aber er rührte sich nicht von seinem Platz, und auch Marina machte keine Anstalten aufzustehen.
An der Wäscheleine hing ein roter Badeanzug.
„Deine Oma ist traurig, was?“, fragte André.
„So ein Lump, der den Kompass gestohlen hat. Was hat er davon?“ André stützte seinen Kopf in beide Hände und beugte sich vor.
„Und wenn wir nachforschen?“
Hoffnung zeigte sich im Gesicht des Mädchens, aber nur ganz kurz. „Was sollen wir schon ausrichten, André …“
Der Junge aber sagte eifrig: „Du kennst doch alle Leute hier. Stell dir vor, wir finden eine Spur. Man kann doch nicht wissen.“
André lebte schon in der Welt abenteuerlicher Spurensuche und Verbrecherjagd. – Er sieht, wie er jemand verfolgt. Er lauert hinter Büschen. Und irgendwo ist der alte Kompass verborgen. Dann hält er ihn in der Hand und sucht die Inschrift. Marinas Oma überreicht er das kostbare Stück. Oma Buchholz kann nicht sprechen, so freut sie sich. Marina steht neben ihm und sagt: „Der André hat nicht aufgegeben.“ Und André wird eingeladen, als das neue Schiff der Volksmarine den Namen „Wilhelm Buchholz“ bekommt. Oma Buchholz muss die Sektflasche werfen, das kennt André, denn er war schon zweimal dabei, und er wird dem Kommandanten den Kompass übergeben. Natürlich wird er zu einer kurzen Ausfahrt eingeladen. Natürlich werden Marina und er auf der Kommandobrücke stehen. Zu der alten Geschichte des Kompasses wird die neue erzählt werden …
Und die ist auch aufregend. –
Günter Görlich
Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin.
Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist.
Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim.
1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch „Der Schwarze Peter“ den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur.
Weitere Auszeichnungen:
Kunstpreis des FDGB 1966, 1973
Nationalpreis 2. Klasse 1971
Held der Arbeit 1974
Nationalpreis 1. Klasse 1978
Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979
Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979
Ehrenspange zum VVO in Gold 1988
Goethepreis der Stadt Berlin 1983
Versandkostenfreie Lieferung! (eBook-Download)
Als Sofort-Download verfügbar
- Artikel-Nr.: SW9783965216792458270
- Artikelnummer SW9783965216792458270
-
Autor
Günter Görlich
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 393
- Veröffentlichung 24.05.2022
- ISBN 9783965216792
- Wasserzeichen ja