Den Wolken ein Stück näher
Dieses Buch mit dem poetischen Titel, das wahrscheinlich zu den bekanntesten Büchern von Günter Görlich gehört, beginnt an einem dritten September. Und es beginnt mit schlechter Laune:
Meine Stimmung war so mies wie das Wetter an diesem dritten September. Das Datum nenne ich so genau, weil an dem Tag die Schule anfing. Ein entscheidendes Jahr steht vor dir, hatte mein Vater mit Nachdruck gesagt.
Warum sollte die achte Klasse so entscheidend sein? Vielleicht weil’s die Jugendweihe gibt und den Personalausweis? Na, ich weiß nicht.
Der da schlechte Laune hat, der heißt Klaus Herper, und verantwortlich für seine schlechte Laune macht er seinen Vater – Rolf Herper, Ökonom und späterer Parteisekretär. Denn der war schuld daran, dass Klaus und seine Familie jetzt in dieser Riesenstadt hockten, was ihm nicht gefiel – ganz und gar nicht. Gemeint ist die DDR-Hauptstadt Berlin. Und hier war für Klaus alles aus seiner gewohnten Ordnung gekommen. Das fängt schon damit an, wer von den Familienmitgliedern wann aus dem Haus geht. Das ist anders als in Potsdam. Außerdem wohnen die Herpers jetzt höher als dort, viel höher – gewissermaßen direkt unter dem Himmel.
Grund für den Umzug und alle damit verbundenen Änderungen, die Klaus Herper nicht gefallen, ist eine „fixe Idee“ seines Vaters, der neue Herausforderungen sucht und unbedingt seinen Arbeitsplatz in Potsdam gegen einen anderen Arbeitsplatz in Berlin tauschen will.
Für Klaus bedeutet der Stadt-Wechsel auch eine neue Schule, ein alter gelbroten Ziegelbau aus dem Jahre 1910, und neue Mitschüler – seine Vormittagswelt. Gleich am Anfang gibt es dort Ärger – Ärger mit Mateja, Heinz Mateja, dem bisherigen Klassenbesten der 8b und talentierten Trompeter. Es kommt zum Kampf. Und dann hält der Neue eine ziemlich spannende Vorstellungsrede, die ihm einen Spitznamen verschafft – Lako wie lakonisch. Aber da ist auch Herr Magnus, ein toller Lehrer, wie Klaus bald feststellen kann, und Karin, in die er sich gern verlieben und mit der er gern morsen möchte, was aber beides anfangs nicht so recht funktionieren will, und da ist noch sein Freund Bully, der zu ihm hält, wenn es schwierig wird.
In diesem spannenden und noch immer lesenswerten Buch, das bei seinem ersten Erscheinen 1971 für viele Diskussionen sorgte, stellt Görlich viele Fragen zum Sinn des Lebens, zur Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, zu Freundschaft und Liebe und ob der DDR-Sozialismus so richtig ist, wie er damals war. Viele davon sind auch heute noch aktuell
Das Fenster war geschlossen. Das war sonst nie der Fall. Ich wusste, dass Heinz sogar im Winter bei offenem Fenster schlief. Das hatte er mir einmal erzählt, etwas spöttisch, denn er war trotz offenem Fenster oft erkältet. Doch seine Mutter wollte ihn abhärten.
Nun war das Fenster geschlossen, der Vorhang dicht zugezogen. Ich starrte zum Fenster und wollte nicht pfeifen. Es war noch früh.
Ich stand vor dem Haus, in dem Mateja wohnte, und ich sorgte mich um Heinz. Es war noch sehr früh. Aber ich hatte in dieser Nacht wenig geschlafen und mich unruhig hin und her geworfen.
Ich stand und fror. Es war ein nasskalter Morgen, noch nicht ganz hell. Ein Novembertag kündete sich an, an dem es nicht richtig hell werden würde.
Herr Magnus war gestern gestorben, in der Pause nach der zweiten Stunde. Er hatte sich auf die Sitzbank im Lehrerzimmer gelegt und war nicht mehr aufgestanden. Dort sahen wir ihn liegen, Heinz Mateja und ich – man hatte ihn zugedeckt.
Herr Tetzlaff hatte uns nach Hause geschickt. Wir waren wie betäubt den Flur entlanggegangen, unsere Schritte hallten. Heinz Mateja und ich waren die letzten. Unten am Tor packte mich Heinz heftig am Arm.
„Wir gehen ins Lehrerzimmer. Ich muss ihn noch einmal sehen. Hörst du! Ich muss!“
Ich erschrak, sah in sein Gesicht. Zum ersten Mal nach der Todesnachricht sah ich in sein blasses und erstarrtes Gesicht. Und ich hatte Angst. Noch nie hatte ich einen Toten gesehen.
„Die lassen uns nicht rein. Was soll’s auch. Sei vernünftig.“ Da ließ er mich los, hetzte die Stufen hoch. Ich rannte ihm durch die leeren Schulgänge nach. Vor dem Lehrerzimmer holte ich ihn ein. Er sah mich nicht, klopfte kurz und öffnete die Tür. Heinz Mateja trat einen Schritt vor, trat über die Schwelle.
Herr Tetzlaff kam mit ausgebreiteten Armen auf uns zu, drängte uns aus dem Zimmer, schloss die Tür hinter sich. Wir sagten kein Wort, Herr Tetzlaff wusste auch so alles, er brauchte Heinz Mateja nur anzusehen.
„Es ist besser, ihr behaltet Herrn Magnus in der Erinnerung, wie er euch verlassen hat“, sagte Herr Tetzlaff.
„Ja“, sagte Heinz, „es ist besser.“
„Er hat gelacht, als er rausging“, sagte ich.
„Herzschlag – ist ganz schnell gegangen.“
„So schnell“, sagte Heinz, drehte sich um und ging.
„Gib acht auf ihn“, bat mich Herr Tetzlaff.
Er schaute Heinz nach. Ja, ich wollte auf ihn achtgeben. Ich hatte auch gesehen, was mit ihm los war, und ich wusste, dass es nicht anders sein konnte. Sein Lehrer Magnus lebte nicht mehr. Ich holte Heinz auf dem Schulhof ein – er weinte. Sein Körper bebte. Ich nahm Heinz die Tasche aus der Hand, er gab sie mir, und ich wischte ihm mit meinem Taschentuch die Tränen ab. Bestimmt schaute uns mancher auf der Straße verwundert nach. Wir dachten nicht daran, dass uns einer komisch finden könnte, uns war das egal. Es konnte niemand wissen, was sich in der letzten Stunde zugetragen hatte. Als wir in die Straße einbogen, in der Heinz wohnte, nahm er mir die Tasche aus der Hand. „Danke, ich möchte jetzt allein gehen“, sagte er leise.
Er rannte die Straße hinauf, als jage ihn jemand. Ich blieb stehen, bis er in der Haustür verschwunden war, und wusste nicht, ob ich ihm nachgehen sollte.
Wie konnte ich ihn trösten? Über Magnus sprechen? Das ginge nicht. Über irgendetwas anderes? Das ginge schon gar nicht. So lief ich nach Hause, war aber mit meinen Gedanken bei Heinz Mateja.
Jetzt wartete ich am frühen Morgen schon eine Weile vor der Haustür. Sein Fenster war noch geschlossen, die Vorhänge dicht zugezogen.
Ich schlug meine Arme kräftig um den Oberkörper, denn ich fror. Eine Viertelstunde konnte ich noch warten. Dann würde ich klingeln, denn wir mussten losgehen, wenn wir zur Schule wollten.
Ich beobachtete abwechselnd die Haustür und das Fenster. Dachte ich an Herrn Magnus, hatte ich das Gefühl, einen bösen Traum zu träumen. – Ein Mensch war nicht mehr.
Als ich am Vortage nach Hause gekommen war, lief ich durch alle Zimmer unserer Wohnung, rief meinen Vater im Betrieb an und sagte ihm, dass unser Lehrer tot sei. Mein Vater bedauerte das, ich spürte, für Vater war dieser Tod eine ferne Sache. Er kannte ja Herrn Magnus nicht, fragte aber, ob ein Anruf aus dem Krankenhaus gekommen sei. Mutter müsste bald entlassen werden. Sie hatte versprochen anzurufen.
Ich dachte an Mutter und war froh, dass die Operation gut verlaufen war. Ich setzte mich an den Schreibtisch meines Vaters und betrachtete lange das Foto meiner Mutter. Später wollte ich Tambari lesen, nahm das Buch in die Hand und legte es wieder fort. Es erinnerte mich an den Nachmittag bei Herrn Magnus, an Frau Renate, an das Zimmer mit den Bücherwänden.
Günter Görlich
Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin.
Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist.
Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim.
1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch „Der Schwarze Peter“ den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur.
Weitere Auszeichnungen:
Kunstpreis des FDGB 1966, 1973
Nationalpreis 2. Klasse 1971
Held der Arbeit 1974
Nationalpreis 1. Klasse 1978
Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979
Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979
Ehrenspange zum VVO in Gold 1988
Goethepreis der Stadt Berlin 1983
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- Artikel-Nr.: SW9783965216914458270
- Artikelnummer SW9783965216914458270
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Autor
Günter Görlich
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 643
- Veröffentlichung 03.06.2022
- ISBN 9783965216914
- Wasserzeichen ja