Der verrückte Onkel Willi
Zu Beginn ein sehr schönes Zitat von Erasmus von Rotterdam: „Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit.“ Im Sinne dieses Zitats dürfte Onkel Willi ein glücklicher Mensch sein. Denn Onkel Willi scheint zumindest in den Augen von Papa und Mama ein verrückter Mensch zu sein. Das hat Hannes von ihnen gehört.
„Mama, ich hab’ gehört, was ihr über Onkel Willi gesagt habt. Ein bisschen verrückt ist er. Das hast du gesagt, Mama.”
„Man sagt manchmal was, aber meint es nicht so”, sagt die Mutter.
Zunächst erkundigt sich Hannes, der statt einer Reise nach Rom oder einer Fahrt zu Oma Suse und Opa Hein nach Warnemünde eine Woche in Berlin eben bei Onkel Willi verbringen soll, ob dieser auch einen Fernseher, einen Videorekorder und ein Auto habe. Dann aber ist die familiäre Debatte beendet. Schließlich sei er erst elf und könne nicht allein in der Wohnung bleiben, solange seine Eltern bei einem Kongress in München sind. Da hilft auch alles Protestieren, er sei doch bald zwölf, nichts. Zudem habe Onkel Willi, seit kurzem Rentner, Zeit und sei einverstanden.
Allerdings hat Hannes, der vollständig Johannes Palm heißt, seinen Onkel Willi nicht oft gesehen – nur bei Familienfeiern, bei denen er nicht viel gesprochen hat. Und so stellt sich Hannes vor, dass in der Woche, in der er bei Onkel Willi sein muss, nur ein paar Worte gesprochen werden. Guten Morgen vielleicht. Oder nach dem Essen, ob es geschmeckt hat. Ja, und mehr wird nicht geredet. Schlimme Aussichten sind das für Hannes. Und er würde am liebsten heulen. Dann ist es soweit. Hannes trifft Onkel Willi, der in Weißensee wohnt:
Da tritt Onkel Willi aus der Haustür. Er ist nicht sehr groß, hat breite Schultern, aber keinen Bauch. Er trägt ein kariertes Hemd und eine blaue Cordhose, die an den Knien ausgebeult und abgestoßen ist. Er lacht, sein schmales Gesicht scheint aus lauter Fältchen zu bestehen. Er geht auf Mama zu, zieht sie an sich, küsst sie auf den Mund. Mama erschrickt, lässt sich aber nichts anmerken.
Als die Eltern wieder weg sind, unternimmt das unfreiwillige Paar etwas, und Hannes glaubt schon ein bisschen Verrücktheit entdeckt zu haben. Denn Onkel Willi geht gern auf Friedhöfe. Später besuchen sie eine Kneipe. Dort spielt sein Onkel überraschend – Klavier. Später erlebt Hannes noch lauter andere verrückte Sachen mit Onkel Willi und findet die befürchtete Woche mit Willi gar nicht mehr so schrecklich. An deren Ende erwartet ihn sogar noch eine große Überraschung.
„Mama ist arbeitslos”, sagt Sandra.
„Du bist arbeitslos?”, fragt Onkel Willi entsetzt.
„Ich bin gestern gekündigt worden”, sagt die Frau.
„Warum denn das?”
„Alle sind gekündigt. Die Firma ist pleite.”
„Deine Firma?”
„Über Nacht, keiner hat’s geahnt”, sagt die Frau mutlos, „wir haben uns alle sicher gefühlt.”
Onkel Willi nimmt ihre Hand.
„Wir finden für dich was anderes”, tröstet er.
„In meinem Alter? Jung und schön musst du sein, dann wird’s vielleicht noch was.”
„Du bist beides”, sagt Onkel Willi.
„Ach, Willi, für dich vielleicht.”
Da sagt Sandra: „Darf ich mit Hannes zum See?”
„Aber ja”, antwortet die Mutter, „er kann mein Rad nehmen. In zwei Stunden seid ihr aber wieder hier.”
Hannes ist nicht gefragt worden. Ihm ist flau zumute. Mit der Langen wird er unterwegs sein. Allein auch noch. Was soll er da nur reden? Aber hier am Tisch hocken und die traurige Frau Marion erleben, ist auch langweilig.
Er muss den Sattel des Fahrrads runterschrauben. „Meine Mama hat so lange Beine”, sagt Sandra. Sie schnallt ein Federballspiel an den Gepäckträger. Da werde ich mit ihr am See herumhopsen, denkt Hannes. Leichtes Auflockerungstraining. Aber dabei muss ich nicht viel quatschen, auch ganz gut.
Sie fahren über asphaltierte Radwege durch den Wald. Die Räder surren leicht, die Lange legt ein unheimliches Tempo vor. Sie fährt wie ein Junge, denkt Hannes.
Eine weite Wasserfläche liegt vor ihnen, der Müggelsee. Er glitzert und funkelt in der Sonne, schwacher Wind treibt kleine Wellen an das Ufer.
„Hier war ich schon mal”, sagt Hannes, „hier kann man gut baden.”
„Im Sommer bin ich jeden Tag hier”, sagt das Mädchen.
„Du hast es gut”, sagt Hannes.
„Spielen wir Federball?”, fragt Sandra.
Ihr Haar hat sich gelöst.
Die Lange hat einen guten Schlag. Hannes muss sich Mühe geben. Von wegen leichte Lockerungsübungen. Von wegen herumhopsen. Die lange Sandra scheucht Hannes, dass ihm heiß wird.
Sie legen eine Pause ein, hocken sich auf die Grasnarbe am Ufer.
„Ich will später mal Tennis spielen”, sagt Sandra.
„Da musst du aber bald anfangen”, sagt der Junge.
„Ich weiß, aber Tennis kostet viel Geld.”
„So? Weiß ich nicht.”
„Doch. Ich habe eine Freundin. Die muss ganz schön zahlen.”
Dann schweigen sie, schauen auf die Wasserfläche. Jetzt ist es so weit, denkt Hannes, uns fällt nichts mehr ein. Finster im Kino. Was soll uns auch einfallen? Die Weiber haben ihre Welt, ich meine.
Aber er spürt die Nähe des Mädchens, braucht gar nicht zu ihr hinzuschauen.
Sandra lässt den Federball auf ihrem Schläger tanzen.
Ein kleines Kunststück.
„Wie gefällt dir Willi?”, fragt sie plötzlich.
Das ist eine Frage. Wie gefällt mir der Onkel Willi? Darüber hat er noch nicht nachgedacht, hat ja nie Zeit dafür gehabt.
„Ja, ganz gut”, sagt er, „wir sind immer in Bewegung, ist immer was los.”
Sandra kichert.
„Da hast du recht. Ist immer was los bei Willi Schrunz.”
„Wie lange kennst du ihn?”, fragt der Junge.
„Im Mai ist er gekommen und ist die Nacht geblieben”, sagt Sandra.
„Da ist er einfach gekommen und geblieben”, sagt Hannes verblüfft.
„Ja, wie heute hat er Mama Rosen mitgebracht und mir Schokolade. Ich hab’ gedacht, was ist denn das für ein Opi.”
„Warum hast du das gedacht?”
„Willi ist doch ziemlich alt. Ist doch so.”
„Da warst du sauer?”
„Sauer? Der Freund vor Willi war jünger als Mama.”
„Ach so.”
„Aber das war’ s auch nicht. Den hab’ ich immer gestört. Ich sollte nie mit, wenn er mit Mama ausging. Da hat sie ihm einmal gesagt, also, Sandra gehört zu mir. Das musst du wissen. Entweder, oder.”
„Dann ist Onkel Willi gekommen”, sagt Hannes.
„Eine Weile waren wir allein, Mama und ich. Erst fand ich das schön. Aber dann wurde es mit meiner Mama ganz schlimm. Da war ich eigentlich froh, dass Willi gekommen ist.”
Sandra schaut Hannes an. Ihre Augen sind auch ein wenig schräg gestellt. Und grün sind sie.
Er nimmt seinen Schläger und springt auf.
„Komm, spielen wir”, sagt er und jagt den Federball weit über den Rasen.
Auf dem Weg nach Hause fahren sie langsamer, sie haben sich ausgetobt und sind müde.
Günter Görlich
Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin.
Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist.
Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim.
1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch „Der Schwarze Peter“ den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur.
Weitere Auszeichnungen:
Kunstpreis des FDGB 1966, 1973
Nationalpreis 2. Klasse 1971
Held der Arbeit 1974
Nationalpreis 1. Klasse 1978
Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979
Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979
Ehrenspange zum VVO in Gold 1988
Goethepreis der Stadt Berlin 1983
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- Artikel-Nr.: SW9783965216976458270.1
- Artikelnummer SW9783965216976458270.1
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Autor
Günter Görlich
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 187
- Veröffentlichung 07.06.2022
- ISBN 9783965216976
- Wasserzeichen ja