Königs Kind
„Ich bin Königs Kind. Peter Königs Kind. Und ich war einmal so wahnsinnig stolz auf meinen Familiennamen. Überall erzählte ich nur allzu gerne, dass ich ein Königskind sei. Die Erwachsenen lachten meist gütig darüber. Kinder sahen mich zunächst immer erstaunt und manchmal auch neidisch an, dann zeigten mir die meisten aber einen Vogel. Lange, sehr lange brauchte ich, um herauszufinden, wer ich wirklich bin und was es bedeutet, Königs Kind zu sein ...“
In ihrem dritten Roman „Königs Kind“ beschreibt die Autorin Karina Brauer die Geschichte von Navarana und deren Familiengeschichte und -geschichten. Schon früh lernt das Mädchen, das meist nur Nava genannt wird, dass das Leben der Erwachsenen aus vielen Geheimnissen besteht. Sie ist anfangs fasziniert davon, dass ihr einige Geheimnisse anvertraut werden. Bald erkennt es jedoch, dass das Bewahren eines Geheimnisses auch belastend, sogar gefährlich sein kann.
Als Navarana selbst einem Geheimnis auf die Spur kommt, ändert sich ihr Leben dramatisch. Plötzlich wird es für sie bedrohlich. Wem kann sie da noch (ver-)trauen?
Auch in diesem Roman erzählt die Autorin Geschichten, die deutsche Geschichte nachvollziehbar machen, die aber auch zeigen, wie sehr Vergangenheit bis in die Gegenwart wirkt und das Leben beeinflusst.
LESEPROBE:
Ein halbes Jahr nach meiner Geburt wurde mein Vater zum Wehrdienst gezogen. Er blieb drei Jahre bei der NVA. Man hatte ihn mit der Aussicht auf einen Studienplatz gelockt. Als er dann wieder zurückkehrte, blieb er auch nur wenige Monate. Vater verließ uns wieder, weil er im September desselben Jahres ein vierjähriges Ingenieurstudium begann. Vater, Mutter, Kind waren wir drei nur in seinen Semesterferien und an den wenigen Heimfahrtwochenenden, die wir gemeinsam verbrachten. Mit und ohne Vater hatte ich eine schöne Zeit, also so richtig vermisste ich ihn nicht.
Ich beendete mein erstes Schuljahr, da war er wieder da und er blieb und sogleich veränderte sich unser ruhiges, beschauliches Leben. Vater bestand nämlich darauf, dass wir zu seinen Eltern nach Kaltlitz ziehen. Er hatte in der Kreisstadt Bärzow eine Arbeit in der PGH bekommen und die Mutter sollte die Leitung des Kindergartens der LPG übernehmen. Nun, später kam die Wahrheit ans Licht. Es war nicht mein Vater, der das alles wollte, sondern sein Vater. Mein Vater hatte einfach nicht den Mut gehabt, Großvater Bernhard zu sagen, dass wir doch lieber in Schwerin bleiben wollen. Dort hätte Vater nämlich auch Arbeit gehabt.
Ein halbes Jahr nach meiner Geburt wurde mein Vater zum Wehrdienst gezogen. Er blieb drei Jahre bei der NVA. Man hatte ihn mit der Aussicht auf einen Studienplatz gelockt. Als er dann wieder zurückkehrte, blieb er auch nur wenige Monate. Vater verließ uns wieder, weil er im September desselben Jahres ein vierjähriges Ingenieurstudium begann. Vater, Mutter, Kind waren wir drei nur in seinen Semesterferien und an den wenigen Heimfahrtwochenenden, die wir gemeinsam verbrachten. Mit und ohne Vater hatte ich eine schöne Zeit, also so richtig vermisste ich ihn nicht.
Ich beendete mein erstes Schuljahr, da war er wieder da und er blieb und sogleich veränderte sich unser ruhiges, beschauliches Leben. Vater bestand nämlich darauf, dass wir zu seinen Eltern nach Kaltlitz ziehen. Er hatte in der Kreisstadt Bärzow eine Arbeit in der PGH bekommen und die Mutter sollte die Leitung des Kindergartens der LPG übernehmen. Nun, später kam die Wahrheit ans Licht. Es war nicht mein Vater, der das alles wollte, sondern sein Vater. Mein Vater hatte einfach nicht den Mut gehabt, Großvater Bernhard zu sagen, dass wir doch lieber in Schwerin bleiben wollen. Dort hätte Vater nämlich auch Arbeit gehabt. Unter Tränen packten Mutter und ich unsere wenigen Habseligkeiten und folgten dem Vater. Ich spürte, dass ein wichtiger Lebensabschnitt für mich endete. Ja, es endete so vieles, was mir lieb geworden war.
Ich ahnte, es würde bald auch keine Sonntagsspaziergänge mit Großvater Hannes mehr geben. Dass es eigentlich nie Spaziergänge waren, das spielte keine Rolle. Ich nahm damals sicherlich sowieso an, dass außer dem Großvater und mir niemand wusste, dass wir nach dem Verlassen der Wohnung sogleich zum Frühschoppen gingen.
Anfangs, ich war vielleicht fünf Jahre alt, da erschrak ich fürchterlich, als Opa Hannes zu mir sagte: „Komm, Nava, wir gehen spazieren.“ Also Spaziergänge kannte ich nur von den gemeinsamen Unternehmungen mit meinem Vater, und diese Spaziergänge waren sehr lange und sehr langweilig und sehr anstrengend – jedenfalls für mich.
Aber ich wollte Großvater Hannes eine Freude machen und so zog ich mich schweren Herzens an, um ihn zu begleiten. Wie erstaunt war ich, als wir nach kurzer Strecke eine Gaststätte betraten. Hier wurden wir freundlich begrüßt, eine Kapelle spielte einen Tusch. Der dicke Kellner, der zu uns an den Tisch kam, fragte sogleich: „Herr Kobald, wie immer?“
Und Großvater nickte. Aha, dachte ich, der Großvater ist also der Herr Kobald. Bevor der Kellner ging, zeigte er noch auf mich. Wieder nickte Großvater. Da richtete der Mann in dem schwarzen Anzug an mich die Frage, ob ich denn Eis mit Früchten und Sahne haben möchte. Ich sah meinen Herrn Kobald an, der lächelte gütig und nickte. Also blickte ich den Kellner auch nur an und nickte.
Endlich verschwand er. Ich schaute Großvater mit großen Augen fragend an. „Was ist?“, kam nach einer ganzen Weile von Großvater.
„Ich dachte, wir gehen spazieren.“
Da lachte Hannes Kobald so laut, dass sich alle zu uns umsahen.
In dem Moment, als der Kellner zurückkehrte und vor Großvater ein Bier und einen Schnaps stellte und mir einen großen Eisbecher mit einem kleinen bunten Papiersonnenschirm zuschob, sagte Hannes: „Nee, Kleines, ich bin in Russland genug gelaufen.“ Er lachte wieder, der Kellner stimmte mit ein.
Ich verstand gar nichts, lachte aber auch mit. Was interessierte mich Russland? Das kannte ich nicht. Der Großvater bestellte sich noch einmal Getränke. Ich aß genüsslich meinen Eisbecher leer. Als der Herr Ober, wie Opa den Kellner immer ansprach, wieder an unseren Tisch kam und Großvater das dritte Mal Getränke brachte, wurde dieser gebeten, mir einen zweiten Eisbecher zu bringen.
Kurze Zeit später stand der dann vor mir. Opa hatte das vierte Bier, den vierten Schnaps. Der Ober zwinkerte mir zu, warum - das wusste ich nicht. Ich fand ihn doof. Zu Opa meinte der Mann nun: „Na, Herr Kobald, da wird ja genug Schweigegeld bezahlt!“ Dann lachte er wieder und verschwand endlich.
Großvater beugte sich jetzt über den Tisch und flüsterte mir zu: „Erzählst aber nicht, wie viel wir getrunken haben, nicht wahr!“
Nun hatten wir unser Geheimnis, und ich versprach, ihn nie zu verraten. Wir hatten ja auch nichts getrunken, nur der Opa, ich nicht.
Von da an gingen wir an jedem Sonntagvormittag spazieren. Ich liebte diese Spaziergänge sehr. Ich bekam mein Eis - zweimal Getränke für den Großvater bedeuteten immer ein Eis für mich. Ich war selig. Außerdem lernte ich doch so viel von Großvater. Er brachte mir zum Beispiel das Rechnen bei, nämlich beim Geldzählen, und dann erzählte er immer so schöne Geschichten. Das Allerschönste an diesen Sonntagvormittagsstunden war jedoch, dass ich mir Musik wünschen durfte, die die Kapelle dann spielte.
Großvater bezahlte dann eine Runde für die Musiker und alle waren glücklich. Was eine Runde war, das wusste ich nicht. Es war auch egal. Manchmal ließen mich die Männer sogar mit in ihrer Kapelle spielen. Einer meinte einmal zum Opa, dass ich Talent hätte und der Großvater solle sich darum kümmern.
Das tat Hannes Kobald dann auch. Ich bekam eine Triola geschenkt und spielte bald alle Kinderlieder, die in dem dazugehörenden Notenheftchen waren, auswendig. Damit war meine Talentförderung aber auch beendet.
Mit unserem Fortzug aus meiner Geburtsstadt war all das plötzlich vorbei.
Nie habe ich den Großvater verraten, das glaubte ich jedenfalls. Großmutter Agnes wollte ja auch nie von mir wissen, was und wie viel der Großvater getrunken hatte. Agnes fragte nur immer, ob ich denn Eis gegessen hätte und wie viel. Wahrheitsgemäß antwortete ich ihr natürlich immer. Das war doch kein Geheimnis!
Ich wunderte mich allerdings immer, warum sie nach unserem sonntäglichen Spaziergang so etwas wissen wollte und warum sie dabei immer so schelmisch grinste.
Karina Brauer wurde im Dezember 1961 in Schwerin geboren. Sie ist ein Sonntagskind und seit drei Jahrzehnten verheiratet. Zwei ihrer Kinder sind verheiratet und haben die Mutter von drei Töchtern und einem Sohn bereits zur vierfachen Großmutter gemacht.
Nach dem Schulabschluss studierte sie in Güstrow an der Pädagogischen Hochschule „Liselotte Herrmann“. Danach unterrichtete sie einige Jahre als Lehrerin in den Fächern Deutsch und Russisch. Seit 2008 arbeitet Karina Brauer in einer Beratungsstelle im Landkreis Nordwestmecklenburg.
Lesen und Geschichten ausdenken gehörten seit frühester Kindheit zu ihrem Leben. Mit dem Romanschreiben begann sie jedoch erst 2004.
Im Jahre 2009 wurde ihr erster Roman „Du kannst den Wind nicht aufhalten“ verlegt. 2012 folgten „Der Hühnergott auf der Fensterbank“ und 2014 „Königs Kind“.
Die Autorin erzählt in ihren Romanen von Frauen, die, wie sie selbst, in der DDR geboren wurden und ihren Weg ins vereinte Deutschland gingen. In ihren Büchern greift die Autorin wichtige Themen auf, z.B. die deutsch-deutsche Geschichte im Allgemeinen und Besonderen, Liebe und Freundschaft, Missbrauch und Gewalt …
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- Artikel-Nr.: SW9783956553769
- Artikelnummer SW9783956553769
-
Autor
Karina Brauer
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 491
- Veröffentlichung 18.06.2015
- ISBN 9783956553769
- Wasserzeichen ja