Schüsse im Hafen
Würde er tatsächlich auf Menschen schießen? Dieser erstmals 1964 erschienene, noch immer spannend, aber auch mit einem leisen Lächeln zu lesende Zoll-Krimi spielt in der noch jungen DDR. Im Rostocker Hafen entdeckt Zollassistent Bertholdi eine gebückte Gestalt, einen Mann, der direkt auf einen norwegischen Frachter zuläuft. Dann geht alles sehr schnell. Nachdem er kurzzeitig außer Gefecht gesetzt wurde, erkennt er undeutlich ein Boot, zwei Männer hantieren an den Riemen. Zwischen ihnen liegen Ballen oder Säcke auf den Bodenbrettern. Gerade stoßen sie das Boot ab und wollen sich davonmachen. Entgegen der Aufforderung, am Schiff zu bleiben, entfernen sich die beiden Männer immer weiter.
„Kommen Sie sofort zurück, oder ich schieße! Bertholdi umklammert die Waffe. Noch nie hat er mit scharfer Munition auf einen Menschen schießen müssen. Es ist kein angenehmer Gedanke, dass dieser Notfall jetzt eintreten könnte.
„Die Strömung treibt uns ab, wir kommen schon zurück“, ruft einer aus dem Boot. Doch Bertholdi sieht: Sie helfen mit den Riemen nach, um immer mehr Abstand zu gewinnen.
„Letzte Warnung! Kommen Sie heran!“
Die beiden im Boot glauben, sie seien nun weit genug fort, um die Maske fallen lassen zu können. Mit aller Kraft werfen sie sich plötzlich in die Riemen. Das Boot macht eine Wendung und schießt auf den Fluss hinaus.
Bertholdi reißt die Pistole hoch und feuert zweimal. Sekunden später, noch ehe er feststellen kann, ob er getroffen hat, ist das Boot vom Nebel verschluckt. Erbittert starrt er in die Finsternis. Kein Laut mehr. Nur das monotone Klatschen der Wellen. Er schiebt die Waffe in die Ledertasche zurück, hebt die Hülsen auf und macht sich auf die Suche nach dem Kapitän.
Es geht um Schmuggel - unter den Seeleuten des kapitalistischen Auslands durchaus nichts Ehrenrühriges, sondern ein beinahe selbstverständlicher Versuch, die schmale Heuer aufzubessern. Vor allem Kaffee und Zigaretten werden geschmuggelt. Läuft ein ausländisches Schiff in unseren Hafen ein, so sind Besatzung und Kapitän verpflichtet, ihre Bestände an Zigaretten, Kaffee und Devisen anzugeben. Wünschen die Seeleute für ihren Landurlaub Mark der Deutschen Notenbank, so können sie dieses Geld bei einem Mitarbeiter der Zollverwaltung wechseln.
Eine Zwischenkontrolle am nächsten Tag bringt auf dem norwegischen Frachter einiges an Schmuggelgut ans Licht, das sofort und entschädigungslos beschlagnahmt wird. Aber wo sind die beiden Männer von der vorigen Nacht geblieben?
„Kennen Sie Ihren Kollegen Edwin Otto näher?“, fragt Gärtner.
Der Brigadier kaut bedächtig, nimmt dann einen Schluck Bier. „Näher? Nö.“ Er schüttelt den Kopf. „Mehr als zehn Worte hintereinander hat der noch nie zu mir gesagt. Ich bin ja auch erst knapp ein Jahr hier.“
„Wie macht er seine Arbeit?“
„Da gibt es eigentlich nichts dran zu meckern. Zuverlässig ist er, und im Wettbewerb steht er überm Durchschnitt.“
„Hat er gar keine Freunde unter den Arbeitskollegen?“
„Na ja, manchmal spendiert er einen, dann sind die Schlaucher um ihn ’rum. Ist nicht unbeliebt bei uns. Immer ruhig, hält sich aus allem ’raus. Tja, aber dicke Freundschaften? Nicht, dass ich wüsste. Moment, wir fragen mal den da, der weiß vielleicht ein bisschen mehr. He, Camillo, komm mal ’rüber!“, ruft er einem jungen Mann mit Bärtchen und pechschwarzer Lockenmähne zu. Der tritt zögernd näher und mustert misstrauisch die Zöllner.
„Na los, setz dich hin“, sagt der Brigadier, „die Kollegen beißen nicht.“
Camillo nimmt mit verlegenem Lächeln Platz.
„Hör mal“, beginnt der Brigadier, „du fährst doch manchmal mit Otto nach Hause. Wohnst doch auch draußen in Gehlsdorf. Du musst doch eine Ahnung haben, mit wem Otto befreundet ist.“ Camillo zuckt mit den Schultern. „Über so etwas reden wir nie. Er erzählt bloß manchmal, dass wieder eins von seinen Viechern abgehauen ist. Die Biester sind ja unheimlich schlau.“
Wolf sagt auf gut Glück: „Otto kriegt doch manchmal Besuch von so einem Langen im grauen Mantel, der Junggeselle sein soll.“
„Ach, den meinen Sie? Den kenne ich. Der war mal bei der Bahn. Aber da soll er vor einiger Zeit wegen irgend‘ner krummen Sache ’rausgeflogen sein.“
„Wie heißt er denn?“
„Kann ich nicht sagen. Er wird bloß immer ,der Lange' genannt.“
„Wissen Sie, wo er wohnt?“
„Er muss bei uns in Gehlsdorf wohnen, da seh’ ich ihn manchmal, wenn er morgens zur Straßenbahn geht!“
„Wo arbeitet er denn jetzt?“
„In irgendeiner Werft. Mein Bruder hat mal so was gesagt, der ist Milchfahrer bei der HO. Der hat ihn mal in irgendeiner Werft gesehen.“
„Wo kann man Ihren Bruder erreichen?“
„Der ist jetzt nicht da, macht da unten bei Dresden einen FDGB-Lehrgang mit.“
„Wissen Sie Näheres über Ottos Freundschaft mit dem Langen?“
„Ich weiß nicht, ob das überhaupt eine Freundschaft ist. Seit der Lange von der Bahn weg ist, hab’ ich die beiden eigentlich nie wieder zusammen gesehen. Früher, wenn ein Zug mit Baumaterial in den Hafen kam, war der Lange oft dabei, und dann hat er meistens mit Otto gequatscht. Aber warten Sie mal — gestern nach der Mittagspause, da hat der Otto mit dem Langen gesprochen. Jedenfalls kam es mir so vor.“
„Donnerwetter, das ist interessant. Erzählen Sie bitte.“
„Na ja, viel war nicht. Ich musste gestern in die Verwaltungsbaracke, einen Krankenschein von ’nem Kollegen abgeben. Und als ich da an einer Tür vorbeikam, da war mir so, als würde ich Ottos Stimme hören. Er sagte ungefähr: ,Nu mach keinen Quatsch, Langer. Geh hin und sag ihr, sie soll um Gottes willen die Klappe halten.‘“
„Ist das alles gewesen?“
„Ja. Mehr habe ich nicht gehört. Ich bin ja nicht stehengeblieben, nicht wahr?“
„In welchem Zimmer ist das gewesen?“
„Die zweite oder dritte Tür, wenn man ’rausgeht, links vor dem Ausgang.“
„Können Sie sich noch an die Uhrzeit erinnern?“
„Es muss kurz nach halb eins gewesen sein.“
„Sind Sie ganz sicher, dass es Ottos Stimme gewesen ist?“
„Gesehen hab‘ ich ihn nicht; Aber es hat sich genau so angehört, wie Otto redet.“
„Würden Sie bitte mitkommen und uns die Tür in der Baracke zeigen?“
„Gerne, wenn es nicht lange dauert. Ich hab‘ noch nicht gegessen. Und bei Überschreitung der Mittagspause wird der Kollege hier zum Unmenschen.“
„Nun halt mal die Luft an, Camillo. Doch nicht in diesem Fall“, knurrt der Brigadier entrüstet.
1931 in Nowawes, dem heutigen Babelsberg geboren. Absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung als Industriekaufmann, arbeitete als Film-Geschaftsführerassistent sowie als Regie- und Dramaturgie-Assistent. Seit 1956 freiberuflicher Schriftsteller. Pseudonyme: A. G. Petermann (gemeinsam mit H. A Pederzani und Gerhard Neumann) sowie Heiner Heindorf.
Er schrieb zwischen 1957 und 1959 gemeinsam mit H. A. Pederzani und Gerhard Neumann eine Reihe von Kriminalromanen, danach schrieb er seine Bücher allein. Später adaptierte er auch einige dieser Stoffe für den Rundfunk und das Fernsehen. Übersetzungen seiner Romane und Erzählungen erschienen u. a. in Ungarn, Polen, der CSSR und der UdSSR.
Außer Krimis schrieb er auch Science-Fiction-Bücher und arbeitete für Rundfunk, Fernsehen und Film.
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- Artikel-Nr.: SW9783956553981
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Autor
Heiner Rank
- Wasserzeichen ja
- Verlag EDITION digital
- Seitenzahl 83
- Veröffentlichung 31.05.2015
- ISBN 9783956553981
- Wasserzeichen ja