Der Riese im Paradies
Aus heutiger Sicht ist es ziemlich ungewöhnlich, dass sich im Jahre 1969 ein DDR-Schriftsteller auf für damalige Verhältnisse ungewöhnlich kritisch mit dem Thema der Zerstörung der Natur durch den Braunkohlenabbau in der Lausitz auseinandersetzt. Erzählt wird diese Geschichte eines Erwachsenwerdens und dem Übernehmen von Verantwortung aus der Sicht des 13-jährigen Klaus Kambor, auch Kurbel genannt, der auf einem See nahe seines Dorfes ein kleines Paradies erbaut hat, wo er vor allem von Daniele träumt, der hübschen Försterstochter, die er auch schon einmal geküsst hat. Doch dann passieren aufregende und auch verstörende Dinge. Am verstörendsten ist die zunächst nur als Gerücht auftauchende Information, dass das sorbische Dorf der Braunkohle weichen soll – und die dort noch wohnenden Menschen gleich mit. Werden sie diese Absicht verhindern können? Und was bedeutet das alles für Kurbel, der sich aus allerbester Absicht eine Dummheit leistet und fortan fast nur noch als derjenige gilt, der einen Waldbrand verursacht hat.
Vier Jahre nach dessen Erscheinen verfilmte DEFA-Regisseur Rolf Losansky das spannende Buch unter dem Titel „ … verdammt, ich bin erwachsen“ zu einem bis in die Nebenrollen hinein mit sehr bekannten und beliebten DDR-Schauspielern besetzten Jugendfilm, der heute leider zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. So gehörten zu den Mitwirkenden unter anderen Herbert Köfer als Schuster Jubke, Jutta Wachowiak als Kindergärtnerin Kandidel sowie Dieter Franke als Lehrer Konzak, Jürgen Reuter als Kraftwerksbauarbeiter Jule Bucht und der später nicht zuletzt vor allem als Polizeiruf-110-Kommissar aus Halle bekannte Wolfgang Winkler als Leo Javernki.
Als Musikinterpreten des nicht zuletzt mit wunderschönen Aufnahmen der – noch unzerstörten Landschaft – überzeugenden Streifens sind die „Pudhys“ in ihrer Erstbesetzung und die „Gruppe Express“ zu hören. Die Musik für „ … verdammt, ich bin erwachsen“, der gelegentlich im MDR-Fernsehen zu sehen und auch auf DVD zu haben ist, schrieb der Leipziger Filmkomponist Peter Gotthard, zu dessen größten Erfolgen unter seinen mehr als 500 Titeln die ebenfalls von den Puhdys gespielten Stücke „Wenn ein Mensch lebt“ und „Geh zu ihr“ aus dem DEFA-Spielfilm von 1973 „Die Legende von Paul und Paula“ (Regie: Heiner Carow) gehören.
Bleibt die Frage, was eigentlich heute zum Erwachsenwerden gehört? Und wird im Smartphone-Zeitalter eigentlich überhaupt noch irgendwo Wert auf Schönschreiben gelegt?
Aber angefangen ist angefangen! Kurbel macht sich da nichts vor, er kann nicht betrunkene Riesen bezwingen, Wein trinken, Geschichten entgegennehmen und sich hier drücken. Was sollen die Leute von ihm halten? Er wird doch wohl mit dem bisschen Gras fertig werden!
Weg sind alle Träume, Kurbel ist ganz wach. Ihm fällt auch gleich was ein. Die Sense hängt er an der alten Siedekammer unter die Dachtraufe, dort hat sie ihren Platz, dann trabt er ums Haus in den Hof, hinter dem Rücken der immer noch Brotbrocken streuenden und mit den Hühnern hadernden Oma Slabke in die Küche. Die Streichhölzer! Sie liegen auf dem Ofenrand, wo sie immer liegen, ein Griff genügt, und sie sind in Kurbels Tasche.
Alles andere ist ein Kinderspiel. Kurbel muss nur wieder zurückrennen, hinters Haus also, ein Häufchen dieser trocknen Halme zusammenscharren, ein Hölzchen zünden und das Gras anstecken. Zuerst knistert und qualmt es eine Weile, dann lodert eine gelbe Flamme auf, gefräßig leckt sie nach rechts und links, ergreift im Nu die ganze Wiesenbreite und arbeitet sich langsam, getrieben von einem leichten Wind, voran. Kurbel muss nur mal hierhin, mal dorthin rennen, um eine allzu gefräßige Flamme auszutreten, die über das Trockengras hinweg nach dem grünen Kleefutter leckt. Wirklich ein Kinderspiel, das Ganze, eine runde Sache für den Kurbel, der nicht nur wie der Juro Kraft, sondern auch Köpfchen hat.
Aber nun der Wind. Der stoppelte die ganze Zeit wie ein müder Gaul hinter dem Babenberg herum, wandte sich mal in diese, mal in jene Richtung, fing sich Blütenduft und Mistgestank, mischte alles und hatte im Grunde gar keine Lust zu wehen. Nun aber riecht er Feuer. Das macht ihn wach, mit einem Sprung ist er über den Kamm des Babenberges hinweg im Dorf, noch einmal verweilt er für eine Minute, bläht seine Nüstern, rast dann fauchend los, um die Häuser, auf die Wiesen. Kurbel rennt. Die Sache macht ihm Spaß, so mit dem Wind um die Wette zu laufen, gleichzeitig hier und dort zu sein, zu verhindern, dass sich der kühle Hauch zu innig mit der Glut verbindet, ein richtiger Kampf ist das.
Dann aber wird es mit einem Male ernst, der Wind gerät wohl in Wut, er will sich nicht befehlen lassen, er hat seinen eigenen Kopf, und der steckt voller Heimtücke. Der Hof Oma Slabkes liegt wie alle Höfe des Dorfes Kattuhn nahe am Wald, ein Steinwurf schon hinter dem Zaun beginnt die prasseldürre Heide, noch keine ganz fertige, mehr so eine dichte, sperrige Schonung aus lauter nadelbepelzten Kiefernkindern - aber dahinter erhebt sich gleich der Hochwald: Stämme mit rissiger Rinde und zerfransten Kronen. ln dieser Richtung bewegt sich die Feuerwalze. Kurbel wirft sich ihr entgegen, er kämpft schon lange nicht am Rande gegen die übergreifenden Flammen, nein, jetzt steht er mitten im Qualmmeer, schlägt wild um sich, tritt hierhin und dorthin, keucht und hustet, stampft mit den Füßen, kneift die Augen zusammen, reißt sie gleich wieder auf, springt in einen plötzlich neu aufflackernden Brandherd, mitten hinein, fühlt die Hitzewoge, die ihm entgegenschlägt, weicht zurück. Das ist nun schon lange kein Spaß mehr.
Wer wird hier siegen? Der Feuerwind oder Kurbel?
Ehe es Kurbel begreift, ist es schon entschieden. Die unersättliche Glut rast an ihm vorbei, sie lässt sich nicht aufhalten, schon die kleine Streichholzflamme hatte mehr Kraft, als Kurbel je besaß. Doch der kämpft weiter, er hustet und spuckt, wo er einen Funken austritt, dort schießen gleich zehn neue Flammen auf. Ein richtiges Feuer ist das, ein Brand, der in den nächsten Minuten die Schonung überfallen wird, und hat er die erst einmal, dann hat er auch den Hochwald. Tausend und aber tausend Hektar, Millionen Stämme, nicht zu schätzende Festmeter Holz. Endlich begreift das Kurbel. „Nein“,schreit er laut, „nein!“ Aber der Wind ist jetzt auch hierin Sieger, er deckt den Schrei mit Geprassel und Gefauche zu, erstickt ihn in dichtem Rauchnebel, rast triumphierend weiter. - Wo ist Hilfe?
Joachim Nowotny entstammt einer Arbeiterfamilie. Er absolvierte eine Lehre als Zimmermann und arbeitete in diesem Beruf. 1954 legte er an einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät die Reifeprüfung ab und studierte anschließend bis 1958 Germanistik an der Universität Leipzig. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Verlagslektor. Seit 1962 lebt er als freier Schriftsteller in Leipzig. Von 1967 bis 1982 wirkte er als Dozent am dortigen Literaturinstitut Johannes R. Becher.
Joachim Nowotny ist Verfasser von Erzählungen, Romanen, Hör- und Fernsehspielen. Den Schwerpunkt seines Werkes bilden Kinder- und Jugendbücher; thematisch ist er eng mit seiner Heimatregion, der Lausitz, verbunden. Nowotny behandelte als einer der ersten DDR-Autoren am Beispiel des Lausitzer Braunkohle-Tagebaus Themen wie Landschafts- und Umweltzerstörung.
Joachim Nowotny ist seit 1990 Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller.
Auszeichnungen:
1971 Alex-Wedding-Preis,
1977 Heinrich-Mann-Preis
1979 Nationalpreis der DDR (II. Klasse für Kunst und Literatur)
1986 Kunstpreis des FDGB.
Bibliografie (Auswahl)
Hochwasser im Dorf, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1963
Jagd in Kaupitz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1964
Hexenfeuer, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1965
Jakob läßt mich sitzen, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1965
Labyrinth ohne Schrecken, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1967
Der Riese im Paradies, Der Kinderbuchverlag, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1969
Sonntag unter Leuten, Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) 1971
Ein gewisser Robel, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1976
Die Gudrunsage, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1976
Ein seltener Fall von Liebe, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1978
Abschiedsdisco, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1981
Letzter Auftritt der Komparsen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1981
Die Äpfel der Jugend, Aufbau Verlag, Berlin 1983
Ein Lächeln für Zacharias, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1983
Der erfundene Traum und andere Geschichten, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1984
Schäfers Stunde, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1985
Der Popanz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1986
Wo der Wassermann wohnt, Domowina Verlag, Bautzen 1988 (zusammen mit Gerald Große)
Adebar und Kunigunde, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1990
Als ich Gundas Löwe war, Faber & Faber, Leipzig 2001
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- Artikel-Nr.: SW9783863941390