Die Axt der Amazonen
Eine Penthesilea-Modifikation in Prosa
Penthesilea ist ein Drama von Heinrich von Kleist aus dem Jahre 1808. In ihm thematisiert er den Konflikt zwischen einem stark fühlenden Individuum und einer gesellschaftlichen Ordnung, die dessen natürlichem Empfinden in unnatürlicher Weise entgegensteht. So lesen wir im Internet-Lexikon Wikipedia über dieses Theaterstück.
Penthesilea ist die Königin der Amazonen. Dieses Volk, das aufgrund seiner grausamen Vorgeschichte keine Männer unter sich duldet, erhält sich durch einen ungewöhnlichen Brauch am Leben: Der Gott Mars wählt für die Amazonen ein Volk, aus dem diese sich im Kampf Männer erobern sollen, die sie zur Zeugung neuer Kriegerinnen mit sich nehmen. Nach vollzogenem Zeugungsakt werden die Männer wieder in die Freiheit entlassen. Der aus dieser Verbindung entstehende männliche Nachwuchs wird getötet. Nur die Mädchen bleiben am Leben und werden zu neuen Kriegerinnen ausgebildet. Aber soll das ewig so bleiben?
Zoe, eine ebenso leidenschaftliche wie erfolgreiche Schauspielerin, die am Stadttheater von L. engagiert ist, soll die Rolle der Amazonen-Königin Penthesilea spielen. Das jedenfalls ist der Plan des Regisseurs:
Etwa eine Woche nach dem Osterfest erhält Zoe, aufs Höchste überrascht, einen Brief von Vincent. Vincent, ein ehemaliger Studienkollege, den sie geliebt, und der sich, eines Missverständnisses wegen, von ihr abgewendet hatte. Er teilt ihr mit, der Intendant ihres Theaters habe ihm angetragen, Kleists Penthesilea am hiesigen Schauspielhaus zu inszenieren. Er wünsche sich nun sehr, dass Zoe die Hauptrolle in diesem Stück übernehme, und er erlaube sich auch sogleich, sie am dreiundzwanzigsten April aufzusuchen, um mit ihr über diese Angelegenheit zu sprechen.
Nach einigem Zögern übernimmt die Schauspielerin, die nach der Trennung von ihrem Mann Erno allein mit ihrem kleinen Sohn lebt, diese schwierige Rolle und steigert sich während der voranschreitenden Proben mehr und mehr in die Vorstellung, Penthesilea nicht nur zu spielen, sondern selbst Penthesilea zu sein.
In Zoe geht ein seltsamer Prozess vor sich. Sie empfindet die Entscheidung, die jetzt hier auf der Bühne fällt, wie eine Entscheidung in ihrem Leben; der Sturz der Penthesilea aus ihrer Imagination könnte auch Zoes eigener sein, ihr Geschick mit Erno betreffend; sie erkennt und spielt, fühlt spielend die Kraft der Penthesilea, ihrem Geschick zu widerstehen.
Bald kann die Schauspielerin Spiel und Wirklichkeit nicht mehr voneinander unterscheiden. Eine Katastrophe bahnt sich an.
War es wirklich so, oder kam es ihr nur so vor: Olaf hatte seine Widerborstigkeit aufgegeben.
Sie hatte dem Kind schließlich gesagt, dass sein Vater ausgezogen sei, sie verlassen habe; wahrscheinlich, hatte sie nach einiger Überlegung hinzugefügt, liebt er eine andere Frau. Aber es war seltsam, Zoe selbst glaubte an diese Möglichkeit, die doch um so wahrscheinlicher wurde, je länger Erno ausblieb, nicht. Sie hielt das Bild fest, das auch Olaf bezeugen konnte: der sein Auto besteigende Erno, im Begriff, für länger zu verreisen.
Das veränderte Verhalten Olafs fiel Zoe zum ersten Male auf, als jener Gerno, ihr Schauspielkollege, sie mit seiner Frau eines Nachmittags besuchte. Gernos Frau hatte einen Kuchen gebacken, den Zoe anschneiden sollte. Bevor sie es tat, richtete sie an Olaf eine beiläufige Frage, worauf sie keine Antwort bekam und deshalb zu ihm hinblickte. Olaf hatte einen verzückten Ausdruck im Gesicht. Er blickte unverwandt auf Gerno, obwohl dieser sich selten und, wie es Zoe schien, unverbindlich an ihn wandte. Immer, wenn Gerno das Wort an seine Frau richtete, huschten Olafs Augen zwischen den Gesichtern der Eheleute hin und her, als verfolge er eine spannende Angelegenheit. Als Zoe ihre Frage wiederholte, sah er sie lachend an. Sagte jaja, woraus zu schließen war, dass er nicht zugehört hatte. Dabei rutschte er auf seinem Stuhl umher, sein Mund stand offen, Zähne und Augen blitzten.
Zoe fuhr fort, den Kuchen auf die Teller zu verteilen. Sobald Gerno den seinen in großen Stücken zu essen begann, schob Olaf seinen Teller, von dem er nichts genommen hatte, zu Gerno hin und fragte, ob dieser Olafs Kuchen haben wollte, er sei nämlich noch vom Mittag her satt.
Das ist ein guter Kuchen, sagte Gerno, mit einer tiefen schwingenden Stimme. Als ihn Olaf darauf mit strahlenden Augen anblickte, nahm Gerno die Gabel, trennte ein Stück von dem Kuchen ab und hielt es Olaf vor, der jetzt ohne zu zögern, mit der Miene eines Gläubigen beim Abendmahl, den Mund weit aufsperrte und das Gebäck verzehrte.
Na, sagte Gerno, schmeckt’s, und gabelte ein zweites Stück auf, das Olaf wiederum mit Behagen verschlang. Als Gerno nun die Sache fortzusetzen zögerte, streckte Olaf seinen Kopf mit geöffnetem Mund vor und Gerno fuhr in seiner Fütterung fort. Ein so großer Junge, sagte Zoe, und lässt sich noch füttern!
Am Spätnachmittag verabschiedete sich das Ehepaar. Kommst du wieder? fragte Olaf, als sie in der Tür standen, und setzte sogleich hinzu: Nicht wahr, du kommst wieder, wobei er Gerno treuherzig bei der Hand fasste
Von nun an, anders kann man es nicht nennen, begann Olaf Männern den Hof zu machen. Während eines kurzen Urlaubs in R., den Zoe mit ihm verbrachte, umlagerte er einen Tisch, an dem drei Männer saßen, die hier ihre Abendmahlzeit einnahmen. Zoe beobachtete, wie die Männer, nicht älter als fünfundzwanzig, mit Olaf lachten und hin und wieder einen Blick nach ihr warfen.
Das ist meine Mutter, sagte Olaf, als er mit Zoe später an ihnen vorbeiging. Er zog sie am Arm, damit sie stehen bliebe, und es entstand der Eindruck, der Junge wollte sie regelrecht anpreisen.
Wolfgang Licht wurde 1938 in Leipzig geboren. Nach dem Abitur an der Petri-Schule in Leipzig wurde er an der Universität Leipzig für das Fach Biologie immatrikuliert. Später wählte er das Medizinstudium. Promotion zum Dr.med. Er wurde Facharzt für Allgemeinmedizin, danach arbeitete er als Arzt im Fach Frauenheilkunde.
Die Lust an der Poesie, schon als Kind erfahren, war niemals erloschen. Die Frage: Schreiben oder nicht, ließ sich nicht länger unterdrücken. Das war für ihn keine Frage der Logik. Er würde für Unbekanntes einen "ehrlichen" Beruf aufs Spiel setzen. Er hatte von Anfang an "den Menschen" erkunden wollen. Dazu hat ihm die medizinische Wissenschaft auch gedient. Er glaubte dort die Grundlagen unseres Denkens und Fühlens zu entdecken, Zugang zum innersten Kreis des Menschen zu haben. Doch als Arzt durfte er die Scham der anderen und seine eigene nicht durch Neugierde verletzen.
So war der Zwang entstanden, Poesie zu machen. Schließlich begann er seinen Debüt-Roman zu schreiben, der bei "Aufbau- Berlin und Weimar" veröffentlicht wurde. Weitere Werke folgten. Dem Schriftstellerverband der DDR trat er, trotz Aufforderung, nicht bei. Nach der Wende wurde er Mitglied im VS. Er wurde Gründungsmitglied des "Kulturwerkes deutscher Schriftsteller in Sachsen", in dessen Vorstand er arbeitet.
Bibliografie:
Bilanz mit Vierunddreißig oder die Ehe der Claudia M., Aufbau-Verlag, Berlin 1983 (1986 in tschechischer Übersetzung in Prag erschienen)
Die Geschichte der Gussmanns, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1986
Leibarzt am sächsischen Königshaus, Tauchaer Verlag, Taucha 1998
Die Axt der Amazonen. Eine Penthesilea-Modifikation in Prosa, Haag+Herrchen, Frankfurt am Main 1998
Johannes, Tauchaer Verlag, Taucha 2002
Johannes. Versuch einer Ehe zu dritt, Tauchaer Verlag, Taucha 2004
Lea, Tauchaer Verlag, Taucha 2006
Vera, Tauchaer Verlag, Taucha 2007
Die Zelle: Die Leidenschaften der Familie B, Tauchaer Verlag, Taucha 2009
Außerdem Beiträge in Anthologien
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- Artikel-Nr.: SW9783863940393