Marimba
Sid Khartoum ist ein großer, ruhiger Gringo mit wilden, schulterlangen Haaren und dem dazu passenden gewaltigen Schnurrbart. Man nennt ihn auch Einstein. Trotz dieser Haarpracht ist Khartoum weder Hippie noch Freiwilliger des Peace Corps, Sid Khartoum ist Pilot und fliegt für die südamerikanischen Kartelle Drogen nach Florida. Einerseits.
Andererseits ist er Sonderagent im Auftrag eines Untersuchungsausschusses des US-Senats und soll über die Effizienz von Maßnahmen im Rahmen des War on Drugs berichten sowie gleichzeitig gegen korrupte Beamte in Polizei und Verwaltung ermitteln.
Als immer mehr Undercoveragenten und auch Freunde spurlos verschwinden, gerät Khartoum schnell in einen gefährlichen Sumpf aus Drogen, Sex, Geld … und Voodoo.
Die westafrikanischen Anfänge der Santería, von versklavten Yorubas nach Kuba gebracht, kreisten um den Lebensweg der moralischen Ashe, das Blut des kosmischen Lebens. Der göttliche Strom der Ashe strahlt die Kraft des Olodumare aus, des einzigen Königs, und Olodumares Ashe ist gebrochen in die Ashe vieler Orisha oder Gottwesen.
Das Geheimnis und die Macht eines Orisha liegt allen wichtigen Aktivitäten im Leben eines Yoruba zugrunde. Es gibt etwa 1.400 Orisha des Hauses und 1.200 des Marktplatzes.
Als Personifizierungen des Ashe können die Orisha solchen Menschen zur Verfügung gestellt werden, die sie angemessen ehren – dies sind Omo–Orisha, die Kinder der Heiligen.
Sid Khartoum ging am Fluss spazieren, der auf dem Weg in die Karibik über rund geschliffene Kiesel plätscherte, gluckerte und rauschte. Zierliche Frauen wuschen im seichten Wasser ihre Wäsche und schauten mit großen braunen Augen zu ihm auf, während sie Kleidungsstücke auf die Steine schlugen.
In der erbärmlichen Armut dieses Ortes und in den Ängsten und Träumen hinter diesen braunen Augen waren, das wusste Khartoum, die ersten leisen Töne der trostlosen Musik der Marimba zu hören. Allerdings musste man schon sehr genau hinhören.
Khartoum sah auf die Uhr. In ein paar Stunden würden die Bolivianer kommen, um ihn und seine Ladung zur Landebahn zu fahren.
Khartoum kniete nieder und steckte eine Hand in das warme Wasser, riss sie aber sofort wieder zurück. Acht oder zehn Elritzen, gerade mal zwei Zentimeter lang, waren sofort um seine Finger geschwärmt und hatten versucht, an seiner Haut zu nagen. Eigentlich hatten sie nur die Haare auf seinem Handrücken berührt; ihr wirkungsloses Knabbern hatte ihn mehr erschreckt als verletzt. Auch Fische mussten essen; jeder musste essen. Darauf lief doch letzten Endes alles hinaus.
Er schlenderte weiter zu dem Marktplatz am Rande des Dorfes, auf dem sich die Einheimischen, viele von ihnen Indianer, schon vor einiger Zeit versammelt hatten, um ihre Erzeugnisse von den Ladeflächen ramponierter Pickups und Karren zu verkaufen, die von Eseln oder kleinen, abgemagerten Pferden gezogen wurden.
Khartoum begutachtete Weißkohl einer Sorte, die sich ohne Kühlung mehrere Wochen hielt, Süßkartoffeln mit dunkelroter Schale, im Rohzustand bretthart, aber ausgesprochen köstlich, wenn sie gekocht wurden, hellgrüne Chayotes, eine fein–aromatische und üppige Kürbisart, kleine rote Pfefferschoten, angeblich die schärfsten der Welt, Tomaten kaum größer als Golfbälle und helle Kartoffeln groß – oder besser: klein – wie Murmeln.
Die kleinen Kartoffeln sahen süß und verlockend aus, und Khartoum sehnte sich einen kurzen Augenblick nach den pürierten Erbsen und Frühkartoffeln, die seine Mutter immer im Frühjahr gekocht hatte. Es gab auch stattliche Wassermelonen auf dem Markt, allerdings keinen Salat; Kopfsalat gedieh in der tropischen Hitze nicht besonders, und es gab keine Kühlschränke.
Khartoum hatte den Eindruck, dass in diesem Teil Nicaraguas alles klein war: Die Menschen, die Fische, die Gemüsesorten, die Esel und die Pferde. So war es auch an allen anderen Orten gewesen, von denen aus er in Guatemala und Honduras gestartet war.
Als die Sonne im Westen über dem Dschungel unterzugehen begann und der Markt bald abgebaut wurde, erstand Khartoum eine kleine Wassermelone, die fast nicht in seinen Rucksack passte, und eine Handvoll reifer Tomaten, die er wie Äpfel aß, während er in das schläfrige Dorf und sein Hotel – falls man es so nennen konnte – zurückkehrte.
Die Tomaten schmeckten köstlich, ganz anders als die blassen Möchtegern–Tomaten, geschmacklos und hart wie Eishockey–Pucks, die noch grün gepflückt wurden und künstlich reifen mussten, bevor sie amerikanische Supermärkte erreichten. Khartoum war überzeugt, dass man mit diesen Tomaten zwar einen guten Wurf beim Baseball hinbekäme, aber dass wohl kaum jemand, der noch halbwegs bei Verstand war, sie würde essen wollen.
Er ging auf sein Zimmer und zog die verschwitzte Kleidung aus. Der einzige Stuhl war so wacklig, dass er gar nicht erst versuchte, sich darauf zu setzen. Er zog den kleinen Holztisch an sein Bett.
Außer Bett und Tisch, und natürlich dem wackligen, unbenutzbaren Stuhl, befanden sich in dem Zimmer noch die Scherbe eines Spiegels, die von verbogenen Nägeln gehalten wurde, und eine Kommode mit lackiertem Furnier, das sich wie eingetrockneter Matsch wellte. Eine Schublade fehlte, die zweite besaß keinen Griff. Auf der Kommode stand ein kleiner Ventilator.
Strohähnliches Material ragte aus einer Seite der durchgelegenen Matratze, die mit Spermaflecken und amöbenförmigen Flecken schwitzender Leiber all der Menschen übersät war, die hier schon geschlafen hatten. Das Kopfkissen, so dünn, dass es eigentlich kaum Kissen genannt werden konnte, war ähnlich schmutzig, aber Khartoum kannte die Dritte Welt, und über die Jahre hatte er gelernt, sich zu arrangieren.
Tatsächlich zog Khartoum ein solches Zimmer der sterilen Trostlosigkeit eines Holiday Inn oder Best Western vor, die für ihn ungefähr die gleiche Ausstrahlung besaßen wie die Mondbasis Alpha. Mit dem Rücken zum Fenster setzte er sich aufs Bett, um etwas Licht zu haben. Er zog eine Schraube an, damit der Ventilator nicht hin und her schwenkte, und richtete ihn direkt auf seinen schwitzenden Körper.
Er nahm seine Lesebrille und die New York Times Book Review heraus, die er aus Miami mitgebracht hatte. Diese Ausgabe interessierte ihn ganz besonders, da drei Bücher besprochen wurden, die sich mit Drogenhandel und dem Krieg gegen Drogen beschäftigten.
Die Wassermelone legte er auf den Tisch, zerteilte sie und schnitt das Fleisch in mundgerechte Happen. So saß er dort auf dem schmutzigen Bett und las die Rezensionen, während die Luft des Ventilators ihn umwehte.
Beim Lesen spießte Khartoum Stücke der Wassermelone auf, aß sie und genoss ihren Geschmack. Es war mit Sicherheit die beste Wassermelone, die er je gegessen hatte. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
Ihm blieb noch etwas Zeit. Er packte sein MacBook aus und begann mit dem Bericht für Sheridan Harnar. Nun, das Wort Bericht oder auch einfach Tagebuch beschrieb nicht wirklich seinen Auftrag. Harnar schwebte mehr als das vor – eher so etwas wie ein literarischer Essay über die Marimba. Harnar wollte natürlich Fakten, aber auch Struktur. Vorzugsweise primäre als sekundäre Quellen.
Es war eine Herausforderung, die Khartoum ganz besonders reizte, auch wenn Harnar das nicht wissen konnte, als er ihn engagiert hatte. Khartoum glaubte, wenn er noch einmal ganz von vorne anfangen müsste, dann wäre er lieber Anthropologe geworden statt Agent oder Söldner. Doch das Schicksal hatte es anders gewollt. Khartoum war überzeugt, dass sich die besten Anthropologen, die den Leuten wirklich in Erinnerung blieben und sich allein deshalb von den anderen unterschieden, größte Mühe gaben, ihre Leser mit einer packenden Erzählung zu fesseln. Margaret Mead kam ihm in den Sinn, auch wenn viele ihrer Ansichten später in Frage gestellt wurden.
Khartoum hatte sich entschlossen, so gut es ging unter den Marimba–Spielern von Lateinamerika bis Miami zu leben. Er würde beobachten, nicht urteilen, obwohl eine Beurteilung Bestandteil seines Vertrages mit Harnar war.
Khartoum drückte mit den Nägeln an einem Ungezieferbiss und lächelte, als er sich an ein Gedicht aus seiner Jugend erinnerte:
Rooty, toot, toot!
We’re the girls from the institute.
We don’t smoke, and we don’t chew.
And we don’t go with boys that do.
Khartoum vermutete, dass die meisten Autoren der Bücher über die Marimba, die in der Times besprochen wurden, fast mit Sicherheit in diesem ordentlichen und selbstgerechten, wahrscheinlich auch verklemmten Institut lebten. Was man ihnen nicht zum Vorwurf machen konnte; sie verfügten weder über Khartoums Erfahrung noch über die Unterstützung von Sheridan Harnar.
Natürlich war Sid Khartoum nicht sein richtiger Name. In Wirklichkeit hieß er James Burlane, und war schon vor langer Zeit von DCI William Casey aus der Central Intelligence Agency hinausgeworfen worden. Burlane arbeitete jetzt für Mixed Enterprises, eine Scheinfirma, die ausschließlich aus ihm selbst und Ara Schott bestand, einem ehemaligen Direktor der Abteilung für Gegenspionage in Langley.
James Burlane tippte mit dem Zeigefinger auf die Plastikmaus und öffnete eine Datei. Der Cursor blinkte blinkte blinkte und wartete auf seinen nächsten Befehl …
Geboren wurde RichardHoyt 1941 in Hermiston, Oregon, wo er seine Kindheit auf einer Farm verbrachte.Nach Studium und Militärdienst arbeitete er zunächst als Journalist und Universitätsprofessor für Kommunikationswissenschaft, biser seit 1982 ausschließlich als Schriftsteller arbeitete.
Bis heute hat er 27Romane veröffentlicht. Mehrereseiner Romane wurden von derNew York Timesin die Gruppe der Jahresbesten aufgenommen, und für»Siege«(dt. »Der Affenfelsen«) erhielt er 1987 denAmerican Mystery Awardfür den besten Spionageroman des Jahres.
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- Artikel-Nr.: SW9783945684092