Daheim, in meinem fremden Land

Erzählung

Die künstlerische Leistung des Schriftstellers Ulrich Völkel liegt in der überzeugenden Darstellung eines jungen Arbeiters, den der gesellschaftliche Umbruch besonders abrupt trifft. Hier riecht nichts nach Bitterfelder Unkräutern, die am Wege welken. Die existenzielle Krise, in die der Völkelsche Protagonist durch den sozialen Erdrutsch gleich mehrerer Gesellschaftsordnungen gerät, zwingt ihn zu einer Rückschau. Das Leserinteresse für diesen Stoff steht in östlichen Regionen außer Frage. Er kann aber auch zum psychologisch-menschlichen Verständnis massenhafter östlich geprägter Biografien beitragen. Völkels... alles anzeigen expand_more

Die künstlerische Leistung des Schriftstellers Ulrich Völkel liegt in der überzeugenden Darstellung eines jungen Arbeiters, den der gesellschaftliche Umbruch besonders abrupt trifft. Hier riecht nichts nach Bitterfelder Unkräutern, die am Wege welken. Die existenzielle Krise, in die der Völkelsche Protagonist durch den sozialen Erdrutsch gleich mehrerer Gesellschaftsordnungen gerät, zwingt ihn zu einer Rückschau.

Das Leserinteresse für diesen Stoff steht in östlichen Regionen außer Frage. Er kann aber auch zum psychologisch-menschlichen Verständnis massenhafter östlich geprägter Biografien beitragen. Völkels Erzählung wäre übergreifend mit Solingers „Fänger im Roggen" und Plenzdorfs „Neuen Leiden des jungen W.“ ins Verhältnis zu setzen, das Schicksal des jungen Mannes Otto Lehmann lässt wie die beiden Genannten kaum jemand kalt.



LESEPROBE:

Wir fuhren mit dem Auto von Kolja. Kolja war Ingenieur im Eisenwerk und mit Wolfgang befreundet. Das Auto nenne ich lieber ein Fahrzeug. Ich weiß nicht, aus wie viel Teilen verschiedenster Herkunft es zusammengesetzt war, aber es müssen ein paar Hundert gewesen sein. Abenteuerlich. Mit so etwas haben die den zweiten Weltkrieg gewonnen. Es war ein Mittelding zwischen Handwagen und Panzer, der hintere Teil ein Kübel ohne Fenster. In dem saßen wir vier, außer Wolfgang und mir noch Achim und Huckleberry Finn, der eigentlich Hubert hieß, aber ungern so gerufen werden wollte. Ich erfuhr seinen Familiennamen erst viel später: Hubert Friedrich Ginther von Auwald-Steckelsheim. Als Huckleberry Finn fühlte er sich sehr wohl.

Wir mussten uns in diesem Käfig einsperren lassen, denn mit einem Trassen-Fahrzeug hätten wir uns nicht in die Basa otdycha trauen dürfen. Es gab Vorschriften der Miliz, nach denen sich unsere Autos nur auf der exakt eingezeichneten Marschrut bewegen durften. In größeren Abständen dieser Wege befanden sich die Wachtürme der GAI, die Staatliche Straßeninspektion, in deren unmittelbarer Nähe in aller Regel ein wahnsinnig demoliertes Auto auf einer Hebebühne stand, was wenigstens für die nächsten Kilometer warnend wirkte. Die Miliz registrierte jedes Fahrzeug und meldete es an den folgenden Posten weiter. Kam es dort nicht nach einer angemessenen Zeit an, wurde eine Suchaktion gestartet. Und wehe, der Fahrer hatte die vorgeschriebene Route verlassen! Die Miliz verstand keinen Spaß. Und sie ließ keine noch so gute Ausrede gelten, schon gar nicht die Wahrheit, wenn sich einer tatsächlich verfahren hatte.



Wir fuhren mit dem Auto von Kolja. Kolja war Ingenieur im Eisenwerk und mit Wolfgang befreundet. Das Auto nenne ich lieber ein Fahrzeug. Ich weiß nicht, aus wie viel Teilen verschiedenster Herkunft es zusammengesetzt war, aber es müssen ein paar Hundert gewesen sein. Abenteuerlich. Mit so etwas haben die den zweiten Weltkrieg gewonnen. Es war ein Mittelding zwischen Handwagen und Panzer, der hintere Teil ein Kübel ohne Fenster. In dem saßen wir vier, außer Wolfgang und mir noch Achim und Huckleberry Finn, der eigentlich Hubert hieß, aber ungern so gerufen werden wollte. Ich erfuhr seinen Familiennamen erst viel später: Hubert Friedrich Ginther von Auwald-Steckelsheim. Als Huckleberry Finn fühlte er sich sehr wohl.

Wir mussten uns in diesem Käfig einsperren lassen, denn mit einem Trassen-Fahrzeug hätten wir uns nicht in die Basa otdycha trauen dürfen. Es gab Vorschriften der Miliz, nach denen sich unsere Autos nur auf der exakt eingezeichneten Marschrut bewegen durften. In größeren Abständen dieser Wege befanden sich die Wachtürme der GAI, die Staatliche Straßeninspektion, in deren unmittelbarer Nähe in aller Regel ein wahnsinnig demoliertes Auto auf einer Hebebühne stand, was wenigstens für die nächsten Kilometer warnend wirkte. Die Miliz registrierte jedes Fahrzeug und meldete es an den folgenden Posten weiter. Kam es dort nicht nach einer angemessenen Zeit an, wurde eine Suchaktion gestartet. Und wehe, der Fahrer hatte die vorgeschriebene Route verlassen! Die Miliz verstand keinen Spaß. Und sie ließ keine noch so gute Ausrede gelten, schon gar nicht die Wahrheit, wenn sich einer tatsächlich verfahren hatte. Es war ein Erfolg für Stefan Macher, mit dem Gebietssekretär Einigung dahin gehend erzielt zu haben, dass die Übeltäter nicht länger als vierundzwanzig Stunden eingebuchtet blieben, was in der Regel ausreichte, nie wieder die Marschrut zu verlassen.

Nach zwei Stunden erreichten wir unser Ziel, gerädert im Sinne des Wortes. Aber die grässlichen Flüche über die katastrophalen Straßenbedingungen und die wahrscheinlich völlig ungefederten Achsen blieben uns auf der Zunge liegen, als wir ausstiegen und sahen, wo wir uns befanden. Alter, so etwas habe ich mein Lebtag nicht wieder gesehen, so eine Landschaft, so etwas Sanftes, so etwas Schönes. Du hast bestimmt schon viel von den russischen Birkenwäldern gehört. Du musst sie gesehen haben. Ich trau mich gar nicht recht, den Vergleich auszusprechen, weil du dann denken könntest, bei mir ist eine Schraube locker, aber ich sage es dir: mir war, als ob mich eine noch vom Schlafen warme, wunderbare Frau umarmte. Meinetwegen lach' darüber. Ich hatte das Empfinden. Ich habe so etwas nie wieder erlebt. Nie wieder.

Und der Fluss, der breit und behäbig dahinrollte. Das unverschämt klare Wasser. Zu Hause, also in Deutschland, traust du dich ja nicht einmal mehr, deine Füße in einen Gebirgsbach zu stellen. Baden in den großen Flüssen kannst du total vergessen. Aber hier, inmitten des Birkenwaldes, die wirklich grünen Uferwiesen, und dieses Wasser!

Etwas oberhalb der Wiese, in unmittelbarer Nähe der mächtigen Birken, befanden sich mehrere Häuser aus Holz mit geschnitzten Ornamenten und kleinen gemütlichen Fenstern. Aus den kurzen Schornsteinen stiegen dünne Rauchwölkchen auf. Über Nacht war es noch ziemlich kühl. Der Tau glitzerte silbern im Gras.

Wir waren eben ausgestiegen, als die Leute ohne Hast zu uns kamen, lächelten, uns wie gute alte Bekannte begrüßten und Gespräche begannen. Wie geht es dir. Woher kommst du. Was machen Vater und Mutter.

Sie nahmen uns auf, als gehörten wir seit eh zu ihnen und wären nur einmal kurz weg gewesen.

Ich habe mich damals oft gefragt, ob sie wirklich so vergesslich sind, vor allem die Älteren. Man weiß doch aus den Geschichtsbüchern, wie deutsche Soldaten gerade in dieser Gegend gehaust haben. Und dann noch die SS. Es gibt kaum einen Menschen in diesem ungeheuer großen Land, der nicht auf irgendeine Weise unter dem Krieg gelitten hat. Was wussten wir von den anderen Leiden, von den Verbrechen Stalins oder den ukrainischen SS-Leuten?

Während wir uns mit den Männern unterhielten, bereiteten die Frauen das Picknick vor. Jede brachte etwas anderes mit. Der lange Tisch - breite Bohlen auf stabilen Holzböcken -bog sich bald. Gebratene Hühnerkeulen, Unmengen marinierte Pilze, Lauch und Zwiebeln, Radieschen, Beerenkompotte, Marmeladen, Honig, Trockenfisch und frisch geräucherter Wels, Gebackenes und Gesottenes, gefüllte Eier, Fleischklößchen, Piroggen, grobkörniges Brot, Pelmeni, dicker Schmand, Tee, Kwas, Wodka natürlich und Samogon, Landbier und eine undefinierbare Limonade, vergorener Birkensaft, wie ich später erfuhr.

Aber es war nicht die überraschende Fülle von Speisen und Getränken, wie du vielleicht denkst, weil, wenn man in die Läden ging, über die tränenüberströmten herauslaufenden Mäuse stolperte, die nichts Fressbares im Magasin gefunden hatten -, es war vor allem das Drumherum, weißt du, die Art und Weise, wie jeder mit etwas kam, sich dazusetzte, lächelte, Wärme, Freundlichkeit verbreitete und das Gefühl, dass du selbstverständlich dazugehörst. Und das in diesem Land. Und das zu uns Deutschen. Ich hatte es schon anders erlebt, ganz anders.



Ulrich Völkel

1940 in Plauen/Vogtland geboren, Abitur 1959, danach zwei Jahre Militärdienst (NVA).

1961 Praktikum am Theater Putbus, 1962 Kulturreferent der Stadt Saßnitz, Leiter des Stadtkabinetts für Kulturarbeit in Schwerin

1963/65 Studium, Institut für Literatur „Johannes R. Becher“, Leipzig

1966 Oberreferent beim Rat des Bezirkes Schwerin, Abteilung Kultur, 1967/69 Dramaturg und Regieassistent am Staatstheater Schwerin

1969/71 künstlerischer Mitarbeiter des Generalintendanten am Volkstheater Rostock

Seit 1971 freier Schriftsteller, Herausgeber und Lektor, 1993 Gründung des RhinoVerlages (verkauft: 2006), seit 2013 Cheflektor im Eckhaus-Verlag Weimar

Seit November 2001 in Weimar ansässig

Autor, Mitverfasser oder Herausgeber von ca. 60 Büchern

Verheiratet, zwei Kinder.

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