Mordfall W.
Ein Kriminalroman über die Ermordung von Johann Joachim Winckelmann
Anfangs weiß man nicht, wer er eigentlich war, der Gast, der am 8. Juni 1768 in Triest ermordet wurde. Er hatte alles versucht, sein Inkognito zu wahren. Doch dann wird in seinem Koffer auch sein Pass gefunden: Johann Joachim Winckelmann. Präfekt der Altertümer Roms – eine europäische Berühmtheit. Die Ermittlungen laufen an. Was aber war das Motiv?
Joachim Lindner nutzte für sein Buch über den historischen Kriminalfall vor inzwischen fast 250 Jahren die amtlichen Dokumente, die lange als verschollen galten und erst sehr spät dort wiederentdeckt worden waren, wo man sie am ehesten hatte vermuten können: „Nachdem die Mordakte jahrzehntelang unbeachtet in den Archiven gelegen hatte, war sie von einem italienischen Gelehrten ausgeliehen worden, der sie für eine Publikation benutzte. Seitdem galt sie als verloren, bis ein anderer italienischer Gelehrter endlich, im Jahre 1964, den klugen Einfall hatte, an Ort und Stelle in der Stadtbibliothek von Triest nachzusehen. Und er entdeckte den Lederband unversehrt an dem Platz, wo er hingehörte, ein wenig verstaubt zwar, aber auf dem Rücken stand noch deutlich zu lesen: Kriminalfall gegen Francesco Arcangeli wegen Mordes.“
Diese Dokumente erlauben es Joachim Lindner, die Untersuchungen im Mordfall W. authentisch nachzuvollziehen und in seiner Erzählung die Fragen der damaligen Kriminalisten wie auch die Aussagen des Mörders und von Zeugen zu verwenden. Die Handlung setzt ein am Morgen des 8. Juni 1768, als Winckelmann, obschon schwer verletzt, sogar noch kurze Zeit zu leben hatte …
Nach diesem Gespräch gingen wir beide zum Hafen, wo das Schiff nach Ancona lag, denn er hatte seit einer Woche jeden Tag gesagt, dass er abreisen wolle, aber das Schiff hatte noch vierzig Kisten einzuladen. Wir kehrten also zum Gasthaus zurück und gingen zuerst beide in sein Zimmer. Bald standen wir am Fenster, bald gingen wir auf und ab. Dann verließ ich ihn, um in mein Zimmer zu gehen, kehrte aber kurz darauf zu ihm zurück. Wir begannen wieder zu reden, und er behauptete plötzlich, dass ich ein Spitzel sei, aber ich sagte: >Ich bin nie ein Spitzel gewesen.
Da nannte er mich plötzlich, von einem Wort zum ändern, Schuft. Ich wurde zornig, warf mich auf ihn und packte ihn mit den Händen. In diesem Augenblick erschien ein gewisser Andreas, der den Kellner macht und den Tisch deckt, stand da wie ein Trottel und blickte auf uns, ohne ein Wort zu sagen. Inzwischen hatte mir Herr Giovanni zwei Tritte gegen das Schienbein gegeben, die noch heute zu sehen sind.« Arcangeli stand auf, zog den Strumpf vom linken Bein herunter und wies auf Hautabschürfungen am Schienbein. Sacchi nickte. Arcangeli setzte sich wieder und fuhr fort: »Da diese Tritte mir wehtaten, griff ich zum Messer, das ich in der Hosentasche trug, und stach zu, ich weiß nicht, ob in die Brust oder tiefer, und ich weiß auch nicht, wie viel Mal. Weil aber dieser Trottel ins Zimmer gekommen war, verließ ich es verwirrt nur in Hemdsärmeln und in der seidenen Weste, ohne Hut und Rock, und floh aus der Stadt.«
Der Mann hielt inne, offenbar erschöpft, aber Sacchi gönnte ihm keine Ruhe, »Berichten Sie uns noch«, sagte er, »wohin Sie geflohen sind und wie Sie gefasst wurden.«
Arcangeli nickte und erzählte dann von den Vorgängen auf seiner Flucht bis zu seiner Verhaftung. Dann lehnte er sich zurück in Erwartung der Fragen, die der Untersuchungsrichter an ihn stellen würde. Aber Sacchi wandte sich nicht an ihn, sondern an Ehrenlieb mit der Bitte, dem Häftling das Protokoll vorzulesen, der es ohne Einwände unterschrieb. Danach wurde er entlassen und von seinen Wärtern ins Gefängnis zurückgeführt.
»Nun, was sagen Sie?«, fragte Sacchi den Kriminalaktuar, als sich die Tür hinter Arcangeli geschlossen hatte.
»Ich bin überrascht, dass er die Tat aus freien Stücken zugegeben hat. Er hätte ebenso gut leugnen können. Zum Beispiel konnte er behaupten, er hätte Geräusche in Winckelmanns Zimmer gehört, wäre nach Nummer zehn gestürzt, hätte dort Winckelmann verletzt am Boden liegen sehen, sich zu ihm niedergekniet, um ihm zu helfen, und vielleicht sogar das Messer als sein eigenes erkannt. Als dann Harthaber erschien, sei er erschrocken, weil der Kellner und jeder andere vermuten musste, er sei der Täter, und daher geflohen.«
»Sie entwickeln eine bemerkenswerte Fantasie, die vielleicht dem Mörder fehlt. Tatsache ist, dass er das Verbrechen gestanden hat, ohne von uns gedrängt zu werden, allerdings in einer Weise, wie sie ihm günstig erschien. Auch seine vorhergehende Aussage über seinen Lebenslauf enthielt nur zum Teil die Wahrheit, alles, was ihn belasten könnte, verschweigt er. Er hat sich nämlich eine bestimmte Taktik ausgedacht, es kann aber auch sein, dass sie ihm von anderer Seite nahegelegt worden ist. Er hatte immerhin eine Woche Zeit dafür, hat allerhand Leute getroffen und uns bestimmt nicht von allen seinen Begegnungen erzählt.«
»Worin aber besteht seine Taktik?«, wollte Ehrenlieb wissen.
»Sie ist verhältnismäßig einfach, aber nicht ungeschickt. Er hält es nicht für zweckmäßig, uns bloß Lügen aufzutischen, die sich leicht durchschauen lassen. Seine Taktik besteht in der geschickten Vermischung von Wahrheit und Lüge. Auf diese Weise hofft er, uns am ehesten in die Irre führen zu können.«
»Aber das Wichtigste gibt er zu, nämlich dass er der Täter ist, und das bedeutet in jedem Fall die Todesstrafe.«
»Vielleicht auch nicht. Angenommen, und jetzt will ich einmal ein bisschen fantasieren, er ist von anderen zu seiner Aussage in der Art, wie er sie gemacht hat, ermutigt worden und es ist ihm zugesichert worden, man werde, wenn er sich daran hält, sich für ihn einsetzen und das Ärgste verhindern, dann ist es durchaus möglich ...«
Joachim Lindner, 1924 in Gleiwitz geboren, verbrachte Kindheit und Jugend in einer in der Nähe von Ratibor gelegenen oberschlesischen Kleinstadt. 1942 wurde er zum Arbeitsdienst und darauf zum Militär eingezogen; im Februar 1945 an der Ostfront verwundet, erlebte er das Kriegsende in einem Lazarett in Ratzeburg.
Er holte dann das Abitur in Delitzsch in Sachsen nach und studierte in Rostock und Leipzig Germanistik und Geschichte. Danach arbeitete er als Lehrer im thüringischen Bad Berka und wurde Anfang 1953 Lektor im Berliner Verlag Rütten & Loening, 1955 bis zum Rentenalter Lektor im Verlag der Nation. Er war auch als Herausgeber tätig und schrieb einige Erzählungen über Persönlichkeiten des deutschen Kulturerbes, unter anderen über Annette von Droste-Hülshoff und zuletzt einen bisher unveröffentlichten biografischen Roman.
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