Nowhere Man

NYC Novels #4 – Nowhere Man

Dimanche hat das Gesicht einer exotischen Priesterin und spielt in der Broadway-Produktion »Sterben ist leicht« eine Punk-Göttin. Wie leicht sterben in Wirklichkeit ist, erlebt Dimanche, als man sie mit einer .38er Special von der Bühne pustet. Die New Yorker an sich lässt dieser Abgang völlig kalt. Der Lotto-Virus grassiert. Aber der Megastadt steht noch ein ganz anderes Spektakel bevor: der Stadtmarathon. Da passt die Ermordung eines nicht zu identifizierenden Joggers vorzüglich ins Konzept der Boulevardpresse. Wer kennt den »Nowhere Man«, dem bei seinen Trainingsrunden ein Loch in die Stirn geschossen wurde? »Mich... alles anzeigen expand_more

Dimanche hat das Gesicht einer exotischen Priesterin und spielt in der Broadway-Produktion »Sterben ist leicht« eine Punk-Göttin. Wie leicht sterben in Wirklichkeit ist, erlebt Dimanche, als man sie mit einer .38er Special von der Bühne pustet. Die New Yorker an sich lässt dieser Abgang völlig kalt. Der Lotto-Virus grassiert. Aber der Megastadt steht noch ein ganz anderes Spektakel bevor: der Stadtmarathon. Da passt die Ermordung eines nicht zu identifizierenden Joggers vorzüglich ins Konzept der Boulevardpresse. Wer kennt den »Nowhere Man«, dem bei seinen Trainingsrunden ein Loch in die Stirn geschossen wurde?





»Mich interessiert nicht, wie Menschen abgeschlachtet werden. Aber ich finde interessant, was mit Menschen passiert, die an einem Mord beteiligt sind: den Tätern, Opfern und Ermittlern«, sagt Jerry Oster, den die New York Times zum besten Krimiautor der 1990er Jahre ernannte. Für seinen Kriminalroman NIGHTFALL wurde ihm 1999 der Deutsche Krimipreis verliehen.





»In Jerry Osters Multi-Kulti-Babylon New York stimmt alles.« — Der Tagesspiegel





An diesem Morgen war der Jogger zufällig früher als sonst aufgebrochen. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, um wieviel früher. Als er am Washington Square Park vorbeikam, bemerkte er, dass keine anderen Jogger unterwegs waren, komisch, denn um diese Jahreszeit steigerten die ernsthaften Jogger ihr Laufpensum, in Vorbereitung für den Marathonlauf im nächsten Monat, und manche von ihnen liefen zweimal am Tag, zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei jedem Wetter. Komisch auch, dass so viele Leute im Park waren. Natürlich, es war Spätsommer, und im Park war immer noch rund um die Uhr was los. Aber wirklich komisch fand er, dass die Leute, die dort nachts immer herumhingen, wach waren, noch unter Strom von letzter Nacht, und nicht ausgebrannt und verkatert in den Klauen des Morgens danach. Einer von ihnen, ein schwarzer Teenager, lief an der Washington Square West ein paar Schritte neben ihm her, drehte seinen Ghettoblaster etwas leiser, und sagte: »Hey, Brother. Haste mal ’nen Streichholz?« Er blieb stehen, lachte über seinen Witz und drehte die Commodores wieder lauter: Night Shift.



Auf der McDougal Street, zwischen Third und Bleecker, bemerkte er, dass die Rollläden des Falafel-Imbisses, der sonst immer gerade öffnete, wenn er kurz nach sechs vorbeilief, noch nicht hochgezogen waren. (Jeden Morgen überlegte er, warum der Imbiss eigentlich so früh öffnete: Wer aß so etwas um diese Zeit? Oder diente der Laden bloß als Fassade für etwas Verbotenes?) Auf der anderen Seite der Houston Street, ein kurzes Stück nördlich der Prince, sah er auf der Uhr im Fenster der Kindertagesstätte, dass es erst kurz nach vier war.




Er schloss daraus, dass er von allein aufgewacht war, obwohl er gemeint hatte, dass der Wecker geklingelt und er daran herumgefummelt hätte, um ihn auszustellen. Ohne auf die Uhr zu sehen, war er aus dem Bett gestiegen, ins Badezimmer gegangen, und hatte seine Joggingklamotten angezogen, die noch von gestern zum Trocknen an der Duschstange hingen. Um sie nicht zu wecken, hatte er kein Wasser auf kleiner Flamme aufgesetzt, damit es kochte, wenn er zurückkam, und er sich Kaffee machen konnte. Er hatte auch nicht das Radio eingeschaltet, um die Temperaturen zu erfahren. Das Wasser konnte er auch später aufsetzen. Er duschte und musste bloß eine Hand aus dem Badezimmerfenster halten, um festzustellen, dass er kein Sweatshirt und keine lange Trainingshose brauchte, so wie eine Woche zuvor, als der Herbst einen Vortrupp geschickt hatte. Er war wohl gegen vor vier aufgewacht: Kein Wunder, dass sie sich nicht gerührt hatte; kein Wunder, dass der Portier auf seinem Hocker geschlafen hatte.


Die MacDougal endet an der Prince, und er wandte sich nach Osten zur Sullivan und lief sie dann in südlicher Richtung entlang bis zur Broome, dann die Sixth Avenue bis Grand hinunter, dann wieder gen Osten, über Thompson, West Broadway, Wooster, Greene, Mercer, Broadway. Auf der Crosby lief er nach Norden und an der Spring und der Prince vorbei.




Sie würde nicht wach werden, wenn er zurückkam. Er könnte duschen, sich rasieren, sich anziehen und verschwinden, ohne sie zu wecken. Das wäre in Ordnung: Er könnte später anrufen und sagen, dass es ihm leidtäte. Und weil sie ihn vermisst und sich Gedanken und vielleicht sogar Sorgen über ihn gemacht hätte, hätte sie schon vergessen, wie wütend sie auf ihn gewesen war. Obwohl, so wütend war sie auch wieder nicht gewesen: Sie war nicht nach Hause gegangen, hatte nicht gesagt, dass es so einfach nicht klappen könnte und dass sie aufhören würde, es noch weiter zu versuchen, weil er sich einfach nicht genügend Mühe gäbe.




Der Jogger stolperte, weil er normalerweise nur wenige andere Jogger sah (alle drehten ihre Runden um den Washington Square Park, eine Strecke, die er ermüdend fand, daher seine Ausflüge nach SoHo); Körper, ausgestreckt auf den Bänken im Park, von ausgebrannten und verkaterten Leuten in den Klauen des Morgens danach; den Verkäufer im Falafel-Imbiss; manchmal einen Mann mittleren Alters – jedes Mal einen anderen Mann, der seinen Hund ausführte – jedes Mal einen anderen Hund –, auf der McDougal oder Sullivan; den Verkäufer eines Delikatessengeschäftes an der Ecke von Sixth und Broome, das früh aufmachte (obwohl nicht so früh, dass es an diesem Morgen schon offen gewesen wäre); die Angestellten der Werkstatt, die die ganze Nacht geöffnet hatte; einige Penner, die auf einer hellerleuchteten Laderampe an der Crosby nördlich der Houston schliefen; vielleicht einen Wächter der New York University, der aus seiner Loge am Washington Place herauskam, um ein bisschen Luft zu schnappen; wieder die Jogger, die um den Park liefen, denn für eine Viertelrunde tauchte er dort noch mal auf, bevor er seinen Lauf unter dem Triumphbogen an der Fifth Avenue beendete; und natürlich seinen Portier, Teddy, und an den Wochenenden Pat. Jedenfalls niemanden, der sich ihm mit ausgestreckter Hand näherte, wie die Gestalt es tat.




Er stolperte und hatte drei Gedanken.




Erstens: dass er oder sie – oder es – ihm etwas anbot, einen Talisman oder einen Schatz, den er verstecken sollte. Eine romantische, lächerliche Vorstellung.



Zweitens: eine Überlegung, die der ersten auf dem Fuß folgte: dass er zur Rede gestellt wurde, dass die Gestalt der Hüter der Straße war, sein … wie hieß er noch? Zerberus? Nein, Zerberus war ein Hund, ein Hund mit drei Köpfen. Charon – so hieß er; Charon, der Fährmann. Passender, weil düsterer, wenn auch nicht weniger albern. Denn: ließ Charon je einen aus der Hölle zurückkommen?




Drittens: ein Gedanke, der sein erster hätte sein sollen (denn dies war schließlich New York City, die Hauptstadt der Welt, die Heimat von Tausenden – oft schien es: von Millionen – Obdachlosen): dass er um eine kleine Spende gebeten wurde. Das schien plausibel, auch wenn es überhaupt nicht plausibel war, dass ein Bettler denken könnte, jemand in Unterhemd, Shorts und Turnschuhen hätte Kleingeld bei sich. Der dritte Gedanke des Joggers war sein letzter, denn das, was die Gestalt ihm entgegenhielt, war kein wertloses Schmuckstück, auch keine Hand, die ihn stoppen wollte, sondern eine Pistole. Die Kugel schlug ein Loch in seine Stirn und beendete das Denken.

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