Herzgrenze

Sabrina - Band 8

Als ihr Vater gestorben ist, kehrt Konstanze auf den Stammsitz ihrer Familie zurück. Doch Gut Lüderitz, wo sie einst eine glückliche Kindheit verbracht hatte, ist ihr fremd geworden. Was soll sie jetzt nur mit dem sanierungsbedürftigen Gutshaus und den zugehörigen Ländereien anfangen? Als sie das Angebot erhält, das Gut zu verpachten, um dort eine Luxusklinik und für sich einen Wohnsitz in einem der Nebengebäude einzurichten, stimmt sie zu. Dann lernt sie Dr. Marek Stefan kennen, den jungen Arzt, der die Klinik leiten soll, kommt dieser ihr seltsam vertraut vor und sie entwickeln schnell Gefühle füreinander. Doch als sie... alles anzeigen expand_more

Als ihr Vater gestorben ist, kehrt Konstanze auf den Stammsitz ihrer Familie zurück. Doch Gut Lüderitz, wo sie einst eine glückliche Kindheit verbracht hatte, ist ihr fremd geworden. Was soll sie jetzt nur mit dem sanierungsbedürftigen Gutshaus und den zugehörigen Ländereien anfangen?

Als sie das Angebot erhält, das Gut zu verpachten, um dort eine Luxusklinik und für sich einen Wohnsitz in einem der Nebengebäude einzurichten, stimmt sie zu. Dann lernt sie Dr. Marek Stefan kennen, den jungen Arzt, der die Klinik leiten soll, kommt dieser ihr seltsam vertraut vor und sie entwickeln schnell Gefühle füreinander. Doch als sie erkennt, dass Marek offenbar ein Verhältnis mit Lukretia Müller, der skrupellosen Investorin hat, bricht in ihr eine Welt zusammen.

Sie flieht nach Berlin und will sich einer gemeinnützigen Organisation anschließen, um für diese in Afrika zu arbeiten.

Doch Marek Stefan kämpft um ihre Liebe und bemüht sich, das Missverständnis aufzuklären. Wird es ihm gelingen ihre Liebe zu retten?



Es war ein Sommertag, wie es viele Jahre keinen mehr gegeben hatte. Die Sonne schien warm vom Himmel, aber ein leichter Wind sorgte für angenehme Erfrischung. Die Luft war voller Düfte, es roch nach dem Laub der großen Bäume, dem frisch gemähten Gras und nach den rosa und weißen Blüten der Wildrosenbüsche neben der Treppe.

Nachdem der bärbeißige alte Verwalter sie allein gelassen hatte, stand Konstanze nachdenklich vor dem prächtigen alten Herrenhaus mit der großen Freitreppe und sah zu den kunstvoll geschnitzten Türflügeln hinauf. Das Wappen derer von Lüderitz war in den oberen Teil eingearbeitet worden, der Falke mit der Ähre im Schnabel und dem Kreuz in den Fängen. Wind und Wetter hatten das Eichenholz schwarz gefärbt, aber es doch nicht angreifen können. Die Fassade war geprägt von dieser Eingangstür, deren dunkles Holz sich auch in den Fensterflügeln wiederfand. Drei Etagen übereinander gaben die Fenster den Blick frei auf das weite Land, das sich in westlicher Richtung bis hin zum Müritzsee erstreckte. Ein prächtiges Land und ein prächtiges Haus, auch wenn man sehen konnte, dass der Putz an vielen Stellen ausgebessert und die Scheiben mehrerer Fenster überklebt waren.

„Es ist allerhöchste Eisenbahn“, hatte der alte Hornemann gesagt und sich dabei die Enden seines mittlerweile schlohweißen, aber immer noch imposanten Schnurrbartes gezwirbelt. „Wenn Sie nicht bald die notwendigen Investitionen vornehmen, gnädiges Fräulein, dann wird die Bausubstanz wohl nicht mehr zu retten sein.“ Er hatte sie durch sämtliche Räume geführt, bis hinauf auf den Dachboden, ihr die Stallungen und Nebengebäude gezeigt, und dann war er mit ihr bis zu der Kapelle gegangen, hinter der der kleine Friedhof lag, auf dem seit dem 17. Jahrhundert ihre Ahnen, die Freiherren von Lüderitz, beigesetzt worden waren.

Ein Grab war mit frischen Blumen bepflanzt gewesen, ganz so als wäre der Mensch, der dort begraben lag, erst kürzlich gestorben. Während Jakob Hornemann respektvoll in gebührendem Abstand wartete, hatte Konstanze lange am Grab der Mutter gestanden, die vor vielen Jahren nach einer kurzen schweren Krankheit von ihnen gegangen war, so früh, dass die kleine Konstanze kein eigenes Bild von ihr in ihrem Gedächtnis hatte festhalten können, aber den Eindruck, dass der Vater sie außerordentlich geliebt haben musste. Nie wieder hatte er eine andere Frau an seiner Seite geduldet, und das Porträt von Konstanzes Mutter war das einzige Bild gewesen, das er bei ihrem überstürzten Wegzug mitgenommen hatte.

So viele Erinnerungen wurden in Konstanze wach, als sie dem treuen Verwalter gefolgt war. All die Orte ihrer glücklichen Kindheit! Sie sah sie nach so langer Zeit wieder und vermochte sie doch kaum wiederzuerkennen. So vieles, das ihr sehr vertraut und doch so anders war, als sie es in ihrem Gedächtnis bewahrt hatte ... Wo waren die blühenden Blumenbeete vor dem Haus geblieben? Der gepflegte Gemüsegarten, der der Haushälterin Anna ganzer Stolz gewesen war, war ein brennnesselüberwuchertes Stück Acker.

Harre, den treuen Schäferhund-Mischling, gab es nicht mehr. Er war der kleinen Konstanze bei ihren Gängen außer Haus stets auf Schritt und Tritt gefolgt. – Sie mussten ein lustiges Paar abgegeben haben ... Der Hund hatte das kleine Mädchen um mehr als einen halben Kopf überragt, daran erinnerte sich Konstanze noch. Er habe den Weggang der Familie nur um ein Jahr überlebt, hatte Jakob Hornemann ihr eben erzählt. In seinen Briefen war von dem Tod des geliebten Freundes keine Rede gewesen. Oder hatte Konstanzes Vater ihr die entsprechenden Passagen einfach nicht vorgelesen, um seine Tochter nicht traurig zu stimmen?



Was für ein erhebendes Gefühl war es gewesen, als sie zum ersten Mal wieder durch die schweren Eichenflügel das Haus betreten durfte, das sie so vertraut umfing, als sei sie nie fort gewesen! Die einst so eindrucksvolle Eingangshalle, das ehemalige Herrenzimmer, in dem die Bilder der Ahnen gehangen hatten, war jetzt ein nackter Raum mit stockfleckiger Tapete. Nur wenige von den schweren dunklen Eichenmöbeln waren übriggeblieben, hinter denen Konstanze sich als kleines Mädchen so gerne versteckt hatte, wenn das Kindermädchen sie zu häuslichen Pflichten rief. Der große Tisch und die Stühle standen noch in der Mitte der Halle. Aber über dem Tisch baumelte nur eine einsame Glühbirne an einem Kabel. Der schwere Kristalllüster war weg. Der Kamin gähnte als schwarzes Loch in der Wand. Die großen Ledersessel, die davorgestanden hatten, waren fort, das schmiedeeiserne Gitter fehlte, die Bilder, die Anrichten und Beistelltische ...

Wo war die ganze Pracht der Kindheit hin verschwunden? Konstanze blickte auf die Fassade des Herrenhauses. Der abblätternde Putz, die kaputten Fenster, das Dach, von dem sich die Dachziegel an einigen Stellen schon verabschiedet hatten, von dem Verwalter nur notdürftig mit Teerpappe geflickt ...

Konstanze seufzte. Sie war selig und betroffen zugleich. So hatte sie sich das alles nicht vorgestellt ...



Was war das ein Glücksgefühl gewesen, als sie von Dr. Börner Bescheid bekommen hatte, dass das alte Landgut an der Müritz in den Besitz ihrer Familie zurückkehren sollte! Nach so vielen Jahren des Rechtsstreits, die ihren Vater schließlich ins Grab gebracht hatten, war ihm doch vier Jahre nach seinem Tod endlich Genugtuung zuteilgeworden. Es war Konstanze als letzter Nachfahrin des alten Geschlechts derer von Lüderitz nichts anderes übriggeblieben, als ihren Vater auf dem Lohfelder Friedhof in Ostwestfalen-Lippe beizusetzen, obwohl es doch sein sehnlichster Wunsch gewesen war, auf der Scholle seiner Väter und neben seiner geliebten Frau Elisabeth zur ewigen Ruhe gebettet zu werden. Konstanze hatte sich damals geschworen, dass sie seinen Kampf fortsetzen und zumindest seinen sterblichen Überresten zur Heimkehr auf das Familiengut verhelfen würde.

Und eines Tages war es dann endlich so weit gewesen. Dr. Börner hatte Tränen in den Augen, als er ihr die Besitzurkunde aushändigte. „Das hätte Karl erleben müssen“, sagte er. „Ich habe mir selbst so oft Vorwürfe gemacht, Konstanze, dass es mir nicht gelungen ist, ihm die Zuversicht einzuflößen, die er doch so dringend gebraucht hätte. Ich hätte ihm mehr Mut machen sollen, dass er letzten Endes doch noch zu seinem Recht kommen würde. Aber die Sache stand schlecht damals.“

Ja, das Landgut war von einem ehemaligen Parteibonzen aus Potsdam bis aufs Blut verteidigt worden. Gleich nach der Wende hatte der Mann sich die wertvolle Pfründe gegen kleines Geld gesichert, später geltend gemacht, dass Karl von Lüderitz die Abtretungsurkunde in den sechziger Jahren im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte unterzeichnet und dass der Freiherr eine angemessene Entschädigungszahlung für seinen Besitz erhalten hätte. Angemessene Zahlung! Nach vorsichtigen Schätzungen, die Konstanze über Dr. Börner hatte vornehmen lassen, war allein das Grundstück heute schon zwei Millionen Euro wert. Abgefunden hatte man ihren Vater damals mit 50.000 DM. Um das Geld war es ihm doch gar nicht gegangen! Was war dem Freiherrn von Lüderitz damals auch anderes übriggeblieben? Hatte er doch das Land quasi bei Nacht und Nebel verlassen müssen, weil man ihm verwehrt hatte, seinen Beruf als Arzt weiter auszuüben. Seine Aufrichtigkeit und politische Unbestechlichkeit war der Partei immer ein Dorn im Auge gewesen. Aber im Nachhinein vermutete Karl von Lüderitz, dass man schon länger ein Auge auf das Landgut geworfen haben musste. Indem man von Lüderitz die Erwerbsgrundlage entzog, nahm man ihm die Möglichkeit, seinen Familienbesitz zu erhalten. Er musste weggehen und verkaufen. Und wozu hatte man ihm alles genommen? Was hätten die Machthaber nicht alles mit der herrlichen Liegenschaft in unmittelbarer Nähe des Müritzsee machen können! Letzten Endes war kein Geld da gewesen, und man hatte das Anwesen einfach verfallen lassen.

„Lieber gnädiger Herr von Lüderitz, liebes gnädiges Fräulein Konstanze“, so begannen die Briefe, die die Familie in ihrer neuen Heimat in Ostwestfalen jedes Jahr kurz vor Weihnachten von dem Verwalter bekam. Ihn hatte man in seinem Posten belassen, solange man keine Verwendung für das Gut fand. „Hier geht alles seinen sozialistischen Gang“, schrieb Hornemann weiter, „diesen Sommer waren die Herren von der Partei wieder da, haben die Gebäude und das Grundstück inspiziert und davon geredet, was man alles daraus machen will, aber passiert ist doch wieder nichts, weil sie sich nicht einigen können. Dabei hätte das Dach es dringend nötig, und die Felder liegen brach. Was waren das noch für Zeiten, als die gnädige Frau und der gnädige Herr hier nach dem Rechten sahen!

Das Grab der gnädigen Frau habe ich mit Tannenzweigen geschmückt, an die ich Meisenringe gehängt habe, so dass es auch in der kalten Jahreszeit immer gut besucht ist. Frau Elisabeth hätte ihre Freude daran.

Wie geht es meiner kleinen Herrin? Wächst und gedeiht sie auch im Westen gut? Bisweilen kommt die Anna noch zu Besuch, und dann erinnern wir uns gern an unseren blonden Engel.

Gott möge Sie beide in der Fremde schützen und Ihnen und uns ein frohes Weihnachtsfest schenken!

Ihr treu ergebener

Jakob Hornemann.“



Die Handschrift war mit den Jahren etwas zittriger geworden, die Erzählung spärlicher, – schließlich war die Familie fern, und die vertrauten Namen verloren sich bis auf einige wenige. Doch ein weihnachtlicher Gruß war immer noch gekommen, und auch Konstanze hatte es sich nicht nehmen lassen, jedes Jahr eine Karte zum frohen Fest in die alte Heimat zu senden, eine Pflicht, die sie gerne von ihrem Vater nach dessen Tod übernahm und von Herzen weiterführte.



Als die junge Frau mit ihrem alten VW-Golf heute Mittag vorgefahren war, hatte der gute Verwalter sie zuerst nicht erkannt. Er war von den Stallungen herbeigelaufen gekommen, wohl in der Absicht, einen ungebetenen Besucher von dem Grundstück zu jagen. „Was wollen Sie hier?“, hatte er die junge Frau angefahren, die eben dem Auto entstieg. Doch als sie ihren Namen nannte und ihn mit dem seinen ansprach, stand er wie vom Donner gerührt da. Nur langsam war das Misstrauen aus seinem Gesicht geschwunden, als ob er Angst hätte, das so viele Jahre Herbeigesehnte für wahr zu halten. Doch dann glätteten sich seine Stirnfalten und machten einem seligen Lächeln Platz: „Das Fräulein! Das gnädige Fräulein!“, war es aus ihm herausgebrochen. „Wie hätte ich Sie auch wiedererkennen können nach der langen Zeit?“



Seit ihrem Weggang war es Konstanze und ihrem Vater nicht mehr vergönnt gewesen, das Landgut zu sehen. Der neue Besitzer hatte sich geweigert, sie auf das Grundstück zu lassen, und Karl Freiherr von Lüderitz war viel zu stolz, als dass er es darauf hätte ankommen lassen, sich den Zutritt auf sein Land verwehren zu lassen. So war er auch nach der Wende nicht an den Müritzsee gefahren, sondern hatte den Kampf durch die Instanzen begonnen. Sein Freund und Rechtsanwalt Dr. Börner, der viele Jahre vor ihm schon von Ost- nach West-Berlin geflohen war, hatte seine Sache vertreten.



Konstanze seufzte noch einmal und beschloss dann, dass nichts dadurch besser würde, wenn sie noch länger trübsinnig herumstand. Sie wandte sich von dem Haus ab und ging noch einmal den Weg bis zu der kleinen Kapelle. Hier wollte sie nachdenken und Kraft sammeln für das, was vor ihr lag.

Die Kühle des Innenraums legte sich beruhigend auf sie wie ein glattes Tuch. Eine ganz ferne Ahnung von Sommer lag in der Luft. Auf dem Altar stand ein welker Strauß bunter Wiesenblumen, der schon ein paar Tage so dort gestanden haben mochte. Aber da war noch ein anderer Geruch, ein kaum wahrnehmbarer, lebendiger, warmer ...

Konstanze hatte die Tür hinter sich geschlossen und verharrte einen Moment. Durch das Fenster hinter dem Altar bahnte sich das Sonnenlicht einen Weg. Der Strahl wärmte ihr Gesicht und blendete sie zugleich ein wenig. Die junge Frau schloss die Augen und ließ die Sonne ihr Haar liebkosen. Einem zufälligen Betrachter hätte sie ein reizendes Bild abgegeben. Die schmalen ebenmäßigen Konturen ihres Gesichts waren von blondem Haar eingerahmt, das sie zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden trug. Ihr Scheitel leuchtete in der Sonne wie flüssiges Gold. Ihre Augen unter den fein geschwungenen Augenbrauen, die sie jetzt geschlossen hielt, waren vom gleichen dunklen Blau, das Konstanze von dem Porträt ihrer Mutter kannte. Von ihrem Vater hatte sie die Nase, auch wenn Konstanzes Näschen viel zierlicher war. Aber der Nasenrücken hatte den stolzen Schwung derer von Lüderitz. Sie war die letzte dieses alten Adelsgeschlechtes. Wenn Konstanze auch noch eine junge Frau zu nennen war – sie hatte im Frühjahr gerade ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert – so fühlte sie sich doch manchmal schon sehr alt, ein Gefühl, das sie, soweit sie zurückdenken konnte, von Gleichaltrigen getrennt hatte. Denn sie fühlte eine Verbundenheit mit ihrer Familie in einem Maße, wie das wohl nur wenige junge Menschen ihres Alters vermochten. Obwohl – und vielleicht gerade weil ihre Familie schon längst tot war. Die Mutter war früh gestorben, der Vater erst vor kurzem. Es gab keine Verwandten mehr, die ihr nahegestanden hätten. Aber da waren die vielen, vielen Ahnen, die ihr vorausgegangen waren und deren Gedächtnis Karl von Lüderitz immer hochgehalten hatte.

Konstanze spürte hinter ihren geschlossenen Lidern Erinnerungen in sich aufsteigen, Bilder aus längst vergangenen Kindertagen ...



Sie fand sich im Wachtraum zu den Knien des Vaters wieder, der an einem der gemütlichen Abende vor dem Kamin von den Vorfahren gesprochen hatte, deren Porträts an den Wänden der Halle hingen, von dem flackernden Feuer beschienen, so dass sie auf das kleine Mädchen fast lebendig wirkten. Ein bisschen unheimlich war es bisweilen, und so war es gut, dass sie sich an Harre ankuscheln konnte, der dabei ein zufriedenes Grummeln von sich gab

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