Kinder der Welt

Auszug: In der Dorotheenstraße, mitten im lateinischen Viertel Berlin's, dessen bescheiden studentischer Anstrich nachgerade auch von weltstädtischer Cultur mehr und mehr verwischt zu werden droht, stand noch vor wenigen Jahren ein kleines zweistöckiges Haus, engbrüstig, unansehnlich und gleichsam eingeschüchtert zwischen seinen breitschultrigen Nachbarn, obwohl es alljährlich mit einer zartröthlichen Fleischfarbe frisch übertüncht wurde und erst kürzlich einen neuen Blitzableiter auf seinen altersmüden Giebel bekommen hatte. Aber der Besitzer, ein ehrsamer Schuhmachermeister, der freilich im Laufe der Zeit so viel vor sich... alles anzeigen expand_more

Auszug: In der Dorotheenstraße, mitten im lateinischen Viertel Berlin's, dessen bescheiden studentischer Anstrich nachgerade auch von weltstädtischer Cultur mehr und mehr verwischt zu werden droht, stand noch vor wenigen Jahren ein kleines zweistöckiges Haus, engbrüstig, unansehnlich und gleichsam eingeschüchtert zwischen seinen breitschultrigen Nachbarn, obwohl es alljährlich mit einer zartröthlichen Fleischfarbe frisch übertüncht wurde und erst kürzlich einen neuen Blitzableiter auf seinen altersmüden Giebel bekommen hatte. Aber der Besitzer, ein ehrsamer Schuhmachermeister, der freilich im Laufe der Zeit so viel vor sich gebracht hatte, um sich's in einem neuen, eleganteren Hause bequem machen zu können, hatte Alles, was ihm das Leben Freundliches beschert, unter diesem schiefgesunkenen Dache erlebt, und wenn er auch sonst ein Mann der Aufklärung und sentimentalen Vorurtheilen abhold war, wäre es ihm doch wie ein schnöder Undank erschienen, dem alten Zeugen und Beschirmer seines Glücks ohne zwingenden Grund den Rücken zu kehren. Hier hatte er fast in jedem Winkel einmal sein Haupt niedergelegt, von dem Dachkämmerchen an, wo er als ein armer Tropf von einem Lehrjungen manche Nacht vor dem Geprassel der Traufe kein Auge zugethan, bis in die Putzstube des ersten Stocks vorn heraus, wo das Brautbett aufgeschlagen wurde, als er nach wacker bestandener Lehrzeit in seiner Eigenschaft als Obergeselle die Tochter des plötzlich verstorbenen Meisters heimgeführt hatte. Er war aber zu haushälterisch, um sich diese vornehme Wohnung länger als ein halbes Jahr zu gönnen, und hatte seitdem mit den Räumlichkeiten des zweiten Stocks vorlieb genommen, anspruchslos genug, da ihm zwei Kinder inzwischen herangewachsen waren und das Häuschen nur drei Fenster Front hatte.

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