Orbit
Terra-Utopia - Band 14
Männer und Frauen in der Raumstation – ausgesetzt einem tödlichen Sog aus dem Nichts
Hoch über der Erde kreist die riesige internationale Raumstation um den Planeten. Plötzlich greift eine unbegreifliche und gefährliche Macht nach den Seelen der Besatzungsmitglieder und entzieht ihnen alle Lebenskraft. Gleichzeitig reißt auch die Verbindung zur Erde ab, und die Menschen in der Station sind auf sich allein gestellt. Auch eine Warnung der Menschheit vor der großen Gefahr, die ihr aus den Tiefen des Alls droht, ist nicht mehr möglich. Wird es den Überlebenden gelingen, der Gefahr zu begegnen und die Menschheit zu retten?
Ein deutscher SF-Klassiker in Neuauflage.
1. Das Grauen
Es war ein berauschendes Gefühl, schwerelos im Nichts zu schweben - gelöst von allen Fesseln planetarer Gravitation, durchdrungen von der Unendlichkeit und im Bewusstsein der absoluten Freiheit.
Boris Semjow liebte dieses Gefühl. Jedes Mal, wenn er hier draußen arbeitete, durchströmte es ihn und ließ ihn sekundenlang eine Ahnung von der gewaltigen Größe der Schöpfung spüren. Der Kosmos breitete sich vor ihm aus: unendlich, faszinierend und voller Geheimnisse. Ergriffen beobachtete Boris die Sterne, die Sichel des Mondes und die Lichtpunkte, die von der Erde zu ihm herauf schimmerten. Dort unten musste eine klare, wolkenlose Nacht herrschen, sonst hätte er die Zeichen der Zivilisation nicht so deutlich erkennen können. Die Position der Sonne, die, von ihm aus gesehen, hinter der Erde stand und daher den Ausblick nicht beeinflusste, trug ebenfalls zu dem überwältigenden Eindruck bei, der sich ihm bot.
Schwindel überkam ihn, nachdem er das Spiel der kreisenden Lichter eine Weile verfolgt hatte. Da er die Rotation der Raumstation mitmachte, schien sich die Welt um ihn zu drehen. Verhältnismäßig schnell fand er in die Wirklichkeit zurück.
Es wurde ihm bewusst, dass diese Welt nicht für Menschen geschaffen war. Um sich am Leben zu erhalten, benötigte er einen Raumanzug, der alle Einflüsse des Kosm0s von ihm fernhielt. Wenn die Sonne nicht wie heute von der nahen Erde verdeckt wurde, war außerdem ein Sichtschutz notwendig, da sonst die Gefahr bestand, dass er erblindete. Schließlich verband ihn eine Rettungsleine mit der Station, die verhinderte, dass er abgetrieben wurde und der Erdanziehung zum Opfer fiel. Angesichts dieser Realitäten verblasste das überschwängliche Gefühl von Ungebundenheit und Freiheit.
Er wandte sich seiner Arbeit zu. Trotz fortschreitender Automation mussten die meisten Reparaturen noch immer von Menschenhand ausgeführt werden, insbesondere, wenn es sich, wie hier, um den Austausch eines hochempfindlichen Aggregats handelte.
Boris arbeitete schnell und konzentriert. Er packte das Aggregat an dem dafür vorgesehenen Griff und zog es vorsichtig aus der Halterung. Nachdenklich hielt er es vor die Augen und musterte es von allen Seiten. Eine oberflächliche Beschädigung war nicht festzustellen. Das hatte er auch keineswegs erwartet. Doch die Frage, warum ein für die Funkverbindung mit der Erde so unerhört wichtiges Teil ohne vorherige Anzeichen seinen Dienst aufgab und von einer Sekunde zur anderen versagte - ein Vorgang, der theoretisch völlig ausgeschlossen war -, beschäftigte ihn immer intensiver. Er hatte den unbestimmten Eindruck, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zuging.
Das erste Mal in seiner Laufbahn als Regeltechniker an Bord der Rigariza Kosmosa empfand er Furcht. Die tödliche Leere des Alls, die Winzigkeit des Menschen, jenes phantastischen Werkes der Schöpfung, einmalig in seiner scheinbaren Vollkommenheit und doch so anfällig und bedeutungslos ... Er schauderte.
Gewaltsam schüttelte er die Empfindungen ab, die sich ihm plötzlich aufdrängten, und drückte das Ersatzaggregat in den Rahmen. Ein grünes Kontrolllicht leuchtete auf und zeigte die Funktionstüchtigkeit des Austauschgeräts an. Boris atmete auf. Insgeheim hatte er befürchtet, seine Arbeit könnte misslingen; ein zweifellos irrationaler Gedanke, den er jedoch selbst mit der größten Willensanstrengung nicht hatte beiseite schieben können. Obwohl jegliche Vernunft dagegen sprach, spürte er, dass heute nicht alles so war wie sonst.
Furcht.
Eine Gefahr lauerte auf ihn. Von irgendwoher streckte sie ihre unsichtbaren Fühler aus und tastete sich in seine Richtung. Etwas unbegreiflich Fremdes und Unheimliches drang durch den Schutzanzug und erfüllte seinen Körper mit eisiger Kälte.
Angst
Der Weltraum war nicht länger eine Stätte des Friedens und der Besinnlichkeit. Die kreisenden Sterne und die Lichter der Erde rückten dichter zusammen und bildeten einen gewaltigen Strudel, der Boris zu sich herabzog. Die leuchtende Mondsichel erzeugte grelle Bahnen mörderischer Helligkeit. Verzweifelt wehrte sich der Techniker gegen den unheimlichen Einfluss. Er klammerte sich an einer Verstrebung fest, doch die universelle Kraft riss unerbittlich an ihm. Das Fremde, Kalte, das in seinem Körper wütete, drängte das Innerste aus ihm heraus, der Sog des Kosmos griff von außen an und zerrte an seiner Seele.
Panik.
Er schrie gequält auf. Sekundenlang fand er in die Realität zurück. Der Strudel verschwand, die Lichtpunkte rückten auseinander, und der unheimliche Sog versiegte. Sein Innerstes wurde freigegeben. Doch das Fremde war noch immer in ihm und machte ihn frieren. Er spürte, wie der Effekt erneut einsetzte, wie die ungezählten Sonnen der Milchstraße und die wenigen Lichter der Erde sich verdichteten, wie das Kalte sich wieder ausbreitete ... aber bevor er zum zweiten Mal dem schrecklichen Einfluss unterlag, stieß er sich von der Außenhülle der Raumstation ab und ließ sich in Richtung der Mannschleuse treiben. Schemenhaft erkannte er zwei Gestalten in Schutzanzügen, die die Rettungsleine einholten. In der Station musste man bemerkt haben, dass er sich in Gefahr befand.
Da brach das Unheimliche mit voller Gewalt über ihn herein. Er wurde hinweggeschleudert und in den Strudel gerissen. Die Hitze der Sonnen und der wirbelnden Lichtbahnen des Mondes brannte grell auf seiner Haut, während der Körper von innen heraus immer mehr erkaltete. Eine Kraft, mächtiger als jene urgewaltigen Vorgänge, die einst Sonnen und Planeten hatten entstehen lassen, wirbelte ihn umher und höhlte ihn gleichzeitig aus. Er wusste instinktiv, dass dies ein endgültiger, tödlicher Prozess sein würde, und mit aller Anstrengung, derer er noch fähig war, stemmte er sich gegen den Untergang.
Genugtuung erfüllte ihn, als er spürte, wie das Kalte sich zurückzog und seine Seele freigab. Der Strudel und die gleißende Helligkeit verflüchtigten sich, vor seinen Augen formte sich eine Konstruktion aus Stahlträgern, Stützbalken und metallenen Verstrebungen. Er lag am Boden und blickte gegen die Decke der Schleuse, auf die er vor dem Anfall zugesteuert war. Ein bekümmertes Gesicht tauchte über ihm auf. Er erkannte seinen Freund Sergej, dessen Züge deutlich die Sorge verrieten, die er empfand.
Boris erhob sich mühsam, von Sergej und dem anderen Mann hilfreich unterstützt. Er schwankte ein wenig, doch gleich darauf hatte er sich wieder in der Gewalt. In dem Bewusstsein, mit knapper Not dem Tod entronnen zu sein, sog er die reine Luft, die die Schleusenkammer erfüllte, tief in die Lungen. Den Raumhelm hatte ihm einer der Retter bereits abgenommen.
Mit einer fahrigen Handbewegung wischte er sich über die Schweiß bedeckte Stirn. In seinen Augen spiegelte sich noch das Grauen.
„Es...“, brachte Boris schließlich krächzend hervor, „... es war schrecklich.“
*
Fedor Gurneyew, der Oberbefehlshaber im russischen Sektor der Rigariza Kösmosa, hockte mit kummervollem Gesicht hinter dem Schreibtisch und musterte sein Gegenüber abschätzend.
„Ich komme nicht umhin“, begann er vorsichtig und fixierte einen imaginären Punkt jenseits der Schreibtischkante, „Sie vom Dienst zu suspendieren. Das Experiment muss als beendet angesehen werden. Sie verlassen die Raumstation mit der nächsten Fähre.“
Borris Semjow krallte die Hände in das weiche Polster der Sessellehne und beugte sich vor.
„Das kann nicht Ihr Ernst sein“, murmelte er fassungslos.
Gurneyew nickte bedauernd.
„So leid es mit tut“, bestätigte er sachlich. Er legte die Hand auf eine Akte. „Dieses Gutachten unseres Chefpsychologen zwingt mich zu meiner Entscheidung. Ihr Verhalten außerhalb der Station weist alle Symptome eines Raumkollers auf. Vergessen Sie nicht, dass Sie länger als jeder andere hier oben leben. Sie haben überdies als einziger ständig draußen zu tun. Es hätte mich, ehrlich gesagt, gewundert, wenn ausgerechnet bei Ihnen die üblichen psychischen Störungen ausgeblieben wären.“
Der Techniker war nahe daran, zu verzweifeln. Unmittelbar nach dem schrecklichen Erlebnis war er von einem hochqualifizierten Psychologenteam untersucht worden. Die Reaktion der Ärzte hatte ihm klar vor Augen geführt, dass sie auf seinen seelischen Zusammenbruch förmlich gewartet hatten. Er konnte es verstehen. Nichtsdestoweniger hatte er einen detaillierten Bericht verfasst und dafür gesorgt, dass das Schriftstück dem Oberbefehlshaber unverzüglich vorgelegt wurde. Wenig später - er hatte kaum Zeit gefunden, sich hinzulegen und die Aufregung niederzukämpfen, die ihn immer noch erfüllte - erreichte ihn die Aufforderung, sich zu einer persönlichen Unterredung bei Gurneyew einzufinden. Nichts hätte er lieber getan, glaubte er doch, mit dem Vorgesetzten eingehend über die mysteriösen Ereignisse reden zu können. Doch er wurde enttäuscht. Ohne seinen Bericht zu erwähnen, überfiel er ihn mit der Eröffnung, sein Dienst auf der Raumstation sei ab sofort beendet.
Aber Boris war kein Mensch, der so schnell aufgab. Er würde versuchen, den Oberbefehlshaber umzustimmen.
„Sie haben meine Ausführungen gelesen?“ erkundigte er sich.
Gurneyew nickte. „Natürlich. Sie haben mich beeindruckt, jedoch finde ich das Gutachten des Psychologen logischer.“
„Logik!“ stieß Boris hervor. „Die Ärzte erklären alles mit einem Raumkoller, weil diese Deutung naheliegend ist. Ich .versichere Ihnen jedoch, dass mein Verhalten mit einer seelischen Störung dieser Art nichts zu tun hat.“
Gurneyew lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. Beinahe bedächtig verschränkte er die Arme vor der Brust und warf dem Techniker einen interessierten Blick zu als Aufforderung, er möge weitersprechen.
„Ein Raumkoller“, erklärte Boris, „wird ausgelöst von der tief verborgenen Angst vor dem All, vor der tödlichen Unendlichkeit des Kosmos.
Das ist eine Tatsache, die Ihnen jeder Arzt bestätigen wird. Je länger der Aufenthalt außerhalb der Erde, in unserem Fall auf der Raumstation, dauert, desto stärker wird diese Furcht und führt schließlich zu einem Anfall. Zu welchem Zeitpunkt das genau geschieht, hängt von der geistigen Konstitution des einzelnen ab. Ich möchte behaupten, dass ein solcher Vorgang bei mir so gut wie ausgeschlossen ist. Ich liebe den Kosmos und habe keinen Grund, mich davor zu fürchten. Einen Koller halte ich deshalb für sehr unwahrscheinlich.“
„Aber nicht für unmöglich“, warf Gurneyew ein.
„Zugegeben. Doch jeder Mensch kennt sich selbst am besten, und deshalb kann ich nur wiederholen, was ich bereits in meinem Bericht gesagt habe. Was mir draußen widerfahren ist, war kein Anfall! Da war ein fremdes Etwas, das in mich drang und versuchte, meinen Geist ... in sich aufzunehmen. Ja, das ist der richtige Ausdruck. Das Unbekannte, das ich spürte, war voller Gier auf meine Seele.“
Gurneyew blickte ihn skeptisch an. Es war verständlich, dass der Vorgesetzte der Darstellung des Technikers keinen rechten Glauben schenkte. Doch Boris ließ sich dadurch nicht entmutigen.
„Man könnte sagen“, fuhr er fort, „das Fremde war körperlos und trotzdem auf geheimnisvolle Weise stofflich ... Ich weiß nicht, wie ich es besser erklären soll. Es war so verwirrend.“ Er stützte den Kopf in die Hand.
„Ich schlage vor, Sie überschlafen zunächst alles gründlich, damit sich Ihre Verwirrung legt.“ Gurneyew setzte ein väterliches Lächeln auf. Boris hatte den Eindruck, dass der Mann ihn loswerden wollte. „Ich bin gerne bereit, später weiter mit Ihnen zu diskutieren.“
Der Techniker nickte benommen.
Eine bleierne Müdigkeit hatte ihn plötzlich überfallen, wahrscheinlich die Nachwirkung des überstandenen Schreckens. Wenn er den Vorgesetzten nur überzeugen könnte! Gurneyew lächelte noch immer -- gekünstelt, wie es schien - und brachte mit seinem Mienenspiel klar zum Ausdruck, dass er das Problem zunächst als erledigt betrachtete.
Boris riss sich zusammen und salutierte, bevor er das Büro verließ. Draußen wartete Sergej, der ihn auf Anweisung der Psychologen, die befürchteten, er könnte einen weiteren Anfall erleiden, hierher begleitet hatte.
„Was hat er gesagt?“ erkundigte sich der Astronom neugierig.
„Er glaubt an einen Raumkoller.“ Sergej schwieg nachdenklich, während sie den Weg zu Boris’ Unterkunft einschlugen. Dann, nach einer Weile, sagte er: „Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich das auch.“
Der Techniker starrte seinen Freund feindselig an. „Du begreifst genauso wenig wieder Alte! Das war kein Anfall.“
„Was dann?“
„Ich bin mir nicht sicher. Ich hatte das Gefühl, etwas Lebendiges sei in mich eingedrungen und wollte mich aushöhlen.“
„Das ist Unsinn!“
Boris zuckte gelangweilt die Schultern. Er war müde und sehnte sich nach einigen ruhigen Minuten.
„Wie du meinst“, erwiderte er kurz angebunden und öffnete die Tür zu seiner Wohnung. „Wir werden noch erleben, wer von uns recht hat!“ Zischend schloss sich das Schott hinter ihm.
Versandkostenfreie Lieferung! (eBook-Download)
Als Sofort-Download verfügbar
- Artikel-Nr.: SW9783961274000458270
- Artikelnummer SW9783961274000458270
-
Autor
Detlev G. Winter
- Verlag Novo Books im vss-verlag
- Seitenzahl 107
- Veröffentlichung 24.08.2024
- ISBN 9783961274000
- Verlag Novo Books im vss-verlag