Elefant auf der Briefwaage
40 Feuilletons
Die Briefwaage ist ein Gradmesser postalischer Kritik. Der pendelnde Zeiger auf der mondförmigen Skala stellt Fragen. Reicht die 20-Pfennig-Marke, oder muss befürchtet werden, dass die Post nachwiegt? Die Briefwaage ist, was in früheren Zeiten die Goldwaage war. Man soll seine Meinung nicht darauf legen und die Worte seiner Mitmenschen schon gar nicht. Und wenn man gar Feuilletons nachwiegen wollte, würde sich oft genug herausstellen, was die Kritiker dieser kleinen literarischen Form schon immer behaupten: Diese Feuilletons sind einfach zu leicht. Schließlich sind sie aber nicht zum Nachwiegen bestimmt, sondern zum Nachdenken über die Absonderlichkeiten unseres Alltags, die Wechselfälle des Lebens. Hier wird die Welt aus dem Blickwinkel des Feuilletonisten betrachtet. Dies geschieht, indem sich der Betrachter niederbeugt und durch seine Beine schaut. Dabei steht die Welt ein wenig kopf, und es fallen, wie es beim Kopfstand leicht geschehen kann, Geschichten aus den Taschen. Und anders sieht die Welt aus, nicht fremd, aber anders, und manchmal, manchmal sogar ein bisschen schöner, als sie in Wirklichkeit ist. Dies schadet gar nichts. Aber es eröffnet Möglichkeiten.
INHALT:
Der Elefant auf der Briefwaage
Momentaufnahmen - I. Introduktion
Bahnhof
Fähre zu verkaufen
Plädoyer für eine Gegend
Herr Gysels van Lier
Der Kahlbutz und ich
Momentaufnahmen – II. Eine schmutzige Geschichte
Kunsthandlung Pielog
Spiel gegen sich selbst
Schneegestöber
Der Tod und die Wahrheit
Partnerlook
Blick auf den Grund oder: Die Entdeckung des Gerümpels
Momentaufnahmen – III. Der Blick
Mitteilungen über den Pfeilstorch
Erfindung einer Stadt
Vestmannacyjar (für Polgar)
Der Nabel der Welt
Eine Grenzgeschichte (Fritz Reuter zugedacht)
Momentaufnahmen – IV. Interieur
Um fünf am Fluss
Vom Käse
Busen oder Kopf?
Beiläufige Beobachtung
Pülverchen kaufen
Meine Meinung über Lindow
Momentaufnahmen – V. Die Gemäälde
Drei Briefe aus Strelitz
Der noch andere Kleist
Gürtzigs Vogelschau
Langweils Modell
Labyrinthe
Die Inkas im Ballon
Flüchtiger Eindruck von Mansfeld
Frau im blauen Kleid
Mein Freund Balduin
Der neue Büchmann
Albumblatt für Ludwig Reinhard
Momentaufnahmen – VI. Ende und Anfang
Der Elefant auf der Briefwaage
Momentaufnahmen - I. Introduktion
Bahnhof
Fähre zu verkaufen
Plädoyer für eine Gegend
Herr Gysels van Lier
Der Kahlbutz und ich
Momentaufnahmen – II. Eine schmutzige Geschichte
Kunsthandlung Pielog
Spiel gegen sich selbst
Schneegestöber
Der Tod und die Wahrheit
Partnerlook
Blick auf den Grund oder: Die Entdeckung des Gerümpels
Momentaufnahmen – III. Der Blick
Mitteilungen über den Pfeilstorch
Erfindung einer Stadt
Vestmannacyjar (für Polgar)
Der Nabel der Welt
Eine Grenzgeschichte (Fritz Reuter zugedacht)
Momentaufnahmen – IV. Interieur
Um fünf am Fluss
Vom Käse
Busen oder Kopf?
Beiläufige Beobachtung
Pülverchen kaufen
Meine Meinung über Lindow
Momentaufnahmen – V. Die Gemäälde
Drei Briefe aus Strelitz
Der noch andere Kleist
Gürtzigs Vogelschau
Langweils Modell
Labyrinthe
Die Inkas im Ballon
Flüchtiger Eindruck von Mansfeld
Frau im blauen Kleid
Mein Freund Balduin
Der neue Büchmann
Albumblatt für Ludwig Reinhard
Momentaufnahmen – VI. Ende und Anfang
Der noch andere Kleist
Ich meine nicht Heinrich von Kleist, den hochverehrten Dichter des »Zerbrochenen Kruges«, auch nicht den anderen Kleist, Ewald von Kleist nämlich, der ein alter Haudegen und fridericianischer Sänger gewesen ist, ich meine den noch anderen Kleist, den alle vergessen haben und den auch ich nicht kennte, wäre mir nicht der Zufall zu Hilfe gekommen und der Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin. Natürlich war auch dieser noch andere Kleist ein Dichter, was wiederum gar nicht so sehr natürlich ist, denn eigentlich waren die Kleiste eine sehr martialische Familie, zahlreich und fruchtbar; Friedrich der Große hat gesagt: »In Pommern sitzt hinter jedem Busch ein Kleist.« Allein sechzig Offiziere dieses Namens haben in Friedrichs Schlesischen Kriegen ihr Leben gelassen! Wie viele Kleiste am Leben geblieben sind, vermag niemand zu sagen; die Genealogen interessieren sich ja immer nur für die Toten.
Franz Alexander von Kleist, der in keinem Literaturlexikon steht, hat mit seinem Oheim Ewald und mit seinem Vetter Heinrich nach dem Dreißigjährigen Kriege einen Vorfahren gemeinsam; die wie ein Gestrüpp in der Mark wuchernde Familie der Kleiste brachte neben kriegerischen Dornen erstaunlicherweise auch drei Blüten hervor: Ewald, Franz und Heinrich, die allerdings ganz unterschiedliche Augen und Herzen erfreuten und in der Zeit so verschiedene Wirkungen hatten, wie es Blüten eines Baumes nur haben können. Heinrich: ein Olympier. Ewald: ein literaturwissenschaftlicher Fakt. Franz Alexander: ein Vergessener.
Franz Alexander von Kleist kam auf diese Welt am Heiligen Abend des Jahres 1769 und hat sie schon am 8. August 1797 wieder verlassen. Das hat ihn aber nicht gehindert, zwischendurch sehr fleißig zu schreiben und sich seine Gedanken zu machen über Gott und die Welt. Geblieben ist freilich nichts; in der Privatbibliothek des Großherzogs von Mecklenburg fand ich einen winzigen, schmalen, mit Kupfern geschmückten Band, 1799, also schon nach Franzens Tode bei Friedrich Viehweg in Berlin erschienen: »Liebe und Ehe in drei Gesängen von Franz Alexander von Kleist«, und der Großherzog hat mit schwarzer Tinte und krakeliger Sütterlinschrift allerlei alberne Marginalien in das Büchlein gepinselt und sie schamhaft (oder von sich überzeugt, wer will das wissen) mit einem schlichten F. gezeichnet.
Es war ja die Zeit der jungen Genies, und Durchlaucht, als ein schöngeistiges Schlitzohr bekannt, versenkte sich tief in die tönenden Oden des Franz Alexander und seiner Zeitgenossen; Anachreons Blütenkranz rutschte ihm dabei über die Augen, da konnte er das Elend seines Ländchens nicht sehen. Einmal allerdings kommt in Franzens Ode das Wortbild »bepurpurter Verbrecher« vor, das hat der Großherzog unterstrichen, dabei denke jeder, was er will.
»Welkt vor Psyches Liebessitze,
wo die schlanken Pappeln stehn,
in der schwülen Sommerhitze
ein geliebtes Tausendschön;
eilend schöpft sie dann im Kühlen
ihr Erquickung aus dem Bach,
schwärmt in seligen Gefühlen,
girrn des Pappelwalds Gespielen,
ihr die Turteltäubchen nach.«
Genügt Ihnen das? Was die Stiche in dem Bändchen angeht, so muss ich schnell noch ein kurioses Stückchen erzählen, denn der arme Franz Alexander von Kleist hat in Könneckes »Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur«, Marburg 1886, Urständ feiern müssen, und zwar als - Friedrich von Schiller. Man sieht auf dem Bilde einen Herrn mit langer Nase und eine schöne Frau in einer Sommerlaube sitzen; die Frau hält ein kleines Mädchen auf dem Schoß, ein weiteres Exemplar dieser Gattung umspielt Franz Alexanders Knie, und darunter steht: »Schillers Familienbild aus dem Jahre 1797. Schiller und Lotte mit den Kindern Karl und Ernst.« So was passiert deutschen Literaturprofessoren, weil sie vor lauter Buchstabenwissen der Kenntnis der Kindermoden entraten (welcher Umstand keinesfalls an die klassischen Zeiten gebunden ist). Wahrscheinlich hat Könnecke, als er nach Schillerbildern suchte, immer nur die Nase als Richtpunkt benutzt. Die Nase aber ist die einzige Verbindung zwischen Schiller und dem noch anderen Kleist.
Jürgen Borchert wurde 1941 in Perleberg geboren. Er erlernte den Fotografenberuf und studierte Bibliothekswesen in Berlin und Leipzig.
Seinen dritten Beruf, die freie Schriftstellerei, übte er seit 1980 aus. Sein Thema war Norddeutschland. Insbesondere lag ihm Mecklenburg am Herzen: Kulturgeschichte, Biografisches, das Verhältnis von Mensch und Landschaft...
Er lebte bis zu seinem Tode im Jahre 2000 in Schwerin.
Er bekam den Fritz-Reuter-Preis (1982; 1988) und den Johannes-Gillhoff-Preis (1994).
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- Artikel-Nr.: SW9783863946944